Nachhaltigkeit: Alles ganz anders
„Es ist alles sehr kompliziert“, sagte ein österreichischer Bundeskanzler vor vier Jahrzehnten. Das war lange, bevor der Begriff Nachhaltigkeit zu einem Trendwort wurde und niemand mehr wusste: Was ist nun wirklich nachhaltig – und was tut nur so? Wir haben vier Wissenschaftler:innen aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen gefragt, was ihrer Meinung nach die größten Irrtümer rund um die Themen Umwelt und Nachhaltigkeit sind. Und erfuhren: Bio-Produkte und E-Autos sind keine Lösung für das Klimaproblem. Plastik hat oft eine bessere Ökobilanz als Papier. Und Altkleider aus dem Container landen manchmal in der Wüste.
Der Agrarexperte, der den Hype um Bioprodukte kritisiert
Das ideale Bild von Landwirtschaft wird oft idyllisch gezeichnet: Tiere sollen auf saftigen Weiden leben, die Umwelt möglichst unberührt bleiben. Timo Küntzle, Agrarwissenschaftler und Autor des Buches „Landverstand“, kritisiert dieses Bild scharf: „Wir erwarten, dass die Bauern bei der Erfüllung unseres Auftrags keine Chemie und kaum Dünger verwenden. Und am besten soll alles bio sein.“ Ein unrealistischer Wunsch: „Wir sehen uns mit einer wachsenden Weltbevölkerung konfrontiert. In 20 bis 30 Jahren benötigen wir um bis zu 60 Prozent mehr Lebensmittel.“
Das Problem: Die Biolandwirtschaft „nimmt viel zu viel Fläche in Anspruch“. Biobauern haben über alle Feldfrüchte hinweg betrachtet zwischen 19 und 25 Prozent geringere Erträge, so Küntzle. Schaue man allein auf Getreide, wachse die Ertragslücke in Österreich laut einer Studie der Wiener Universität für Bodenkultur auf 35 Prozent. In Deutschland sind es dem deutschen Umweltbundesamt zufolge sogar 53 Prozent. „Für die Produktion der gleichen Menge eines Nahrungsmittels, zum Beispiel einer Tonne Weizen, benötigt die Ökolandwirtschaft also bis zum Doppelten der Fläche“, sagt Küntzle. Das führe indirekt zu höheren CO₂-Emissionen. „Die Biolandwirtschaft ist deshalb nicht die Lösung für die globalen Klimaprobleme, auch wenn sie lokal positiv auf die Umwelt wirkt.“
Auch das Verbot von chemisch-synthetischen Pestiziden kann Küntzle nicht überzeugen: „Biobauern verwenden ebenfalls Pflanzenschutzmittel. Allerdings solche, die als natürlich gelten, wie beispielsweise Kupfer. Aber auch Naturstoffe können Nebenwirkungen haben. Das Schwermetall Kupfer ist laut Behörden sehr giftig für Regenwürmer und Wasserorganismen, der Bio-Insektenvertilger Spinosad tödlich für Bienen.“
Und was bedeuten die Pflanzenschutzrückstände für die menschliche Gesundheit? „Essen hat immer mit Gefühlen zu tun. Wissenschaftlich betrachtet gibt es aber keine Hinweise, dass Menschen, die sich rein von Bioprodukten ernähren, gesünder sind.“ Man finde bei konventionellen Produkten zwar häufiger Pestizidrückstände, „allerdings in geringsten Spuren und ohne nachgewiesene Effekte“. Timo Küntzle sagt: „Die Dosis macht das Gift.“
Der Autor betont, dass er nicht gegen die Biolandwirtschaft sei, die vor allem in Bezug auf die Biodiversität Vorteile habe. Beide Anbausysteme haben ihre Stärken und Schwächen, so Küntzle. „Ich kritisiere aber das Bashing von konventioneller Landwirtschaft. Das ist immerhin das Anbausystem, das den allergrößten Teil unserer Lebensmittel produziert. Und diese Lebensmittel sind in der Europäischen Union so gesund und sicher wie nie zuvor in der Geschichte.“
Die Eco-Designerin, die Plastikverpackungen verteidigt
Plastik ist schlecht und Papier ist gut, denn Papier besteht aus nachwachsendem Holz und Kunststoff aus endlichem Erdöl. Aber ist es so einfach? Tatsächlich ist die Wahl des optimalen Verpackungsmaterials viel komplexer. „Vergleicht man die Ökobilanz einer Plastiktüte mit einer Papiertüte, fällt der Vergleich zugunsten der Plastiktüte aus“, sagt Ursula Tischner, Geschäftsführerin von econcept, einer Agentur für Eco-Design in Köln, und Professorin für nachhaltiges Design an der Wilhelm-Büchner-Hochschule in Darmstadt.
„Es ist viel besser, die Materialvielfalt zu reduzieren als alle Kunststoffe pauschal zu verteufeln.“
Für Papier brauche es beim Herstellungsprozess nämlich mehr Energie, Wasser und dazu Chemikalien. Zudem seien Papierverpackungen im Vergleich zu Alternativen aus Kunststoff bei gleicher Reißfestigkeit fast doppelt so schwer. Das heißt, für Papier benötigt man deutlich mehr Material. Bei Recyclingpapier sehe die Ökobilanz zwar etwas besser aus, das Papier sei für Lebensmittelverpackungen allerdings oft nicht geeignet. Dennoch sind Plastikverpackungen in Verruf geraten. „Das war eine politische Entscheidung, die Einkaufstüten aus Plastik aus den Läden zu verbannen, wegen der Mikroplastik-Problematik und der Plastikverschmutzung in Gewässern und Meeren.“
Die Abneigung gegen Kunststoff habe in Supermärkten aber teils absurde Auswirkungen. „Da Verpackungen aus Plastikfolien von Verbrauchern immer weniger gern gesehen werden, geht man jetzt sogar so weit, Altpapieroberfläche auf eine Kunststofffolie zu drucken, damit das Produkt trotzdem gekauft wird“, berichtet Tischner. „Dabei kann man auch Kunststoffverpackungen recyceln.“ Es gibt beispielsweise Monokunststoffe, die wenig Energie benötigen und gut verwertet werden können. Diese Stoffe müssen für das Recycling nicht getrennt werden. „Es ist viel besser, die Materialvielfalt zu reduzieren und die Rückholbarkeit von Kunststoffverpackungen sicherzustellen, beispielsweise durch Pfandsysteme, als alle Kunststoffe pauschal zu verteufeln.“
Die Recycling-Expertin, die Altkleiderspenden bemängelt
Die schicke gelbe Jacke würde perfekt zur Hose passen. Also: Kaufen! So langsam wird es aber eng im Kasten. Was tun? Aussortieren und das überschüssige Gewand zum Altkleidercontainer bringen. Mit reinem Gewissen, die Ware wird ja wiederverwertet, oder? Jein, sagt Marion Huber-Humer, Leiterin des Instituts für Abfall- und Kreislaufwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien.
Vom österreichischen Aufkommen an Textilabfällen, laut Umweltbundesamt im Jahr etwa 240.000 Tonnen, werden 55.000 Tonnen getrennt gesammelt. „Nur ein kleiner Teil davon ist sogenannte Creme-Ware“, sagt Huber-Humer. Die Creme-Ware wird für den Handel mit Second-Hand-Kleidung genutzt. Der Rest wird weitgehend verbrannt und dabei zum Teil energetisch genutzt – oder ins Ausland exportiert. Ab da wird es schwierig: „Die Wege verlieren sich über ausländische Zwischenstationen. Und es kommt oft zu unkontrollierten Ablagerungen“, sagt die Wissenschaftlerin. Welche Folgen das hat, sieht man in der Atacama-Wüste in Chile: Dort liegen riesige, illegal entsorgte Textilberge. Tonnen an Jacken, T-Shirts oder Pullover.
„Nur ein kleiner Teil der gesammelten Textilabfälle kann für den Handel mit Second-Hand-Kleidung genutzt werden.“
Wie sieht der richtige Umgang mit Textilien aus? „Es ist natürlich gut und wichtig, dass man seine Altkleider in dafür vorgesehene Sammelcontainer einbringt, bevor man sie in den Restmüll wirft“, betont Huber-Humer. Besser sei es aber, gar nicht erst so viel Gewand zu kaufen. Die Fast Fashion sei ein großes Problem. „Im Textilbereich gibt es einen extremen Überschuss“, sagt Huber-Humer. Dabei ist die Branche ressourcenintensiv wie kaum eine andere. Allein die Herstellung eines T-Shirts benötigt etwa 2.500 Liter Wasser.
Die EU will deshalb nachschärfen. Eine europaweite Textil-Kreislaufwirtschaft soll bis 2030 alle Textilprodukte nachhaltiger machen – also haltbarer, reparierbar oder recyclingfähig. Das Recyceln von Textilien sei bisher noch schwierig: „Bereits in der Designphase wird entschieden, ob ein hochwertiges und effizientes Recycling möglich ist. Bei vielen Textilien lassen sich die verschiedenen Fasern nur schwer voneinander trennen, darum sollten Mischmaterialien wenn möglich vermieden werden.“
Der Attac-Experte, für den E-Autos keine Klimaretter sind
Der Verkauf von neu zugelassenen Verbrennern soll in der EU ab 2035 verboten werden. In den Fokus rückt das E-Auto. Helge Peukert, einerseits promovierter Staats- und Wirtschaftswissenschaftler an der Uni Siegen, andererseits langjähriges Mitglied der NGO Attac und Autor eines Forderungskatalogs für die „Letzte Generation“, sieht das kritisch: „Der Ersatz von Verbrennern durch E-Autos ist keine Lösung zur Vermeidung des einsetzenden Klimakollaps“, sagt Peukert. Dies gelte selbst dann, wenn E-Autos bei langer Laufzeit positive Effekte haben können. „Über den Lebenszyklus eines Autos von der Produktion bis zur Verschrottung verursachen E-Autos derzeit rund 25 Tonnen CO₂. Hinzu kommen weitere Belastungen durch die Batterien. Lithium wird hauptsächlich in den Salzseen Südamerikas gewonnen. Für eine Tonne Lithium verdampfen 400.000 Liter Wasser“, sagt Peukert.
Helge Peukert, Wirtschaftswissenschaftler
„Alternative Mobilitätssysteme wie Sammeltaxis könnten eine Alternative zum Individualverkehr mit E-Autos sein.“
Dazu komme das Ladeproblem: „Findet das Laden der Batterie an öffentlichen Ladesäulen statt, gehen hohe Anteile von derzeit rund 50 Prozent auf Kohle, Kernenergie und Erdgas zurück“, sagt der Wissenschaftler. Dabei sei der Strommix entscheidend für die Klimabilanz eines E-Autos gegenüber konventionellen Vergleichsfahrzeugen, so das Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg.
Peukert betont: Da es zu wenig Grünstrom gebe, seien andere Nachfrager – angesichts des angezapften Grünstroms durch E-Autos – zudem auf mehr fossilen Energieverbrauch angewiesen. Außerdem gebe es unerwünschte Nebeneffekte: „Sollte der Umstieg auf E-Autos zügig voran gehen, werden sich die Kund:innen der Förderländer und der Kohle- und Gaskonzerne über die dank der niedrigeren Nachfrage sinkenden Preise für fossile Energieträger freuen und mehr davon verbrennen. Das nennt man das grüne Paradox.“ E-Autos können daher nicht die einzige Strategie sein, um den Zielen des Klimaschutzes im Straßenverkehr gerecht zu werden, findet er. „Es hilft nur eine drastische Schrumpfung des Autoverkehrs. Innerhalb solcher Grenzen wären E-Autos dann natürlich den Verbrennern vorzuziehen.“
Und das Fazit aus all diesen Erkenntnissen? Der bewusste Umgang mit Ressourcen kann nur gelingen, wenn er zum einen an jeder Stelle des Kreislaufes umgesetzt wird. Also von der Rohstoffgewinnung über die Verarbeitung und Produktgestaltung bis hin zur Wiederverwendung und Entsorgung. Und wenn wir zum anderen alle weniger Ressourcen verbrauchen – sei es beim Shoppen, für die Ernährung oder unsere Mobilität.
Text: Sabrina Erben