Tourismus findet Stadt
Wo es dem Einzelnen lediglich um eine schöne Auszeit vom Alltag geht, erkennt die Tourismusforschung gesellschaftliche Bedürfnisse und Trends. Manchmal kann auch die kreative Benamsung des beobachteten oder prognostizierten Reiseverhaltens und dessen Einordnung als Reaktion auf aktuelle Krisen nicht verbergen, dass es sich eigentlich nur um alten Wein in neuen Schläuchen handelt. Etwa wenn die Alleinreise zeitgeistig zum achtsamen
Solo-ish Adventure upgegradet wird. Eine Entwicklung kann aber niemand bestreiten: City-Trips erfreuen sich nach dem Coronatief wieder größter Beliebtheit. 2024 landeten laut Daten des Marktforschungsunternehmens Euromonitor International Bangkok mit einem Plus von 37 Prozent gegenüber 2023, Istanbul (plus 14 Prozent) und London (plus sieben Prozent) in den Top drei der meistbesuchten Metropolen.
Erlebnisgarantie. Treiber für den Boom gibt es viele, angefangen bei Social-Media-Hypes und Billigflügen über die Erschließung neuer Märkte (insbesondere China) bis hin zu Plattformen wie Airbnb. Ein weiterer Grund dürfte das durchschnittliche Zielpublikum selbst sein: Beim gut gebildeten und verdienenden Klientel kommen die großen Risikofaktoren im Tourismus – etwa Inflation, Arbeitslosigkeit und Rezession – seltener zum Tragen.
Für Cornelia Dlabaja, Soziologin, Kulturwissenschaftlerin und seit 2023 Stiftungsprofessorin für nachhaltige Stadt- und Tourismusentwicklung an der FHWien der WKW, ist der Trend zum City-Trip aber auch der heutigen Schnelllebigkeit und dem Kampf um die knappe Aufmerksamkeit in der digitalen Moderne geschuldet: „Alles verdichtet sich. Und der Städtetourismus ist eine kompakte Form des Reisens, die in wenigen Tagen mannigfaltige Erlebnisse bietet. Ob Kunst, Kultur, Kulinarik, Lifestyle, Architektur oder Event – nirgendwo lassen sich in so kurzer Zeit so intensive Erinnerungen sammeln wie in Städten.“ Ein Urlaub mit Mehr- und Merkwert also. Die Erholung liegt dabei in der Inspiration für den vom Alltag gelangweilten Geist, im intensiveren Empfinden des eigenen Lebens.
Die Sehnsucht danach muss groß sein. In Rankings der bevorzugten Urlaubsarten landen City-Trips jedenfalls regelmäßig auf dem zweiten Platz hinter dem Badeurlaub. Laut einem Bericht von Coherent Market Insights wird der weltweite Markt für Städtereisen von heute rund sieben Billionen US-Dollar bis zum Jahr 2031 auf knapp elf Billionen wachsen und sich zu einem der einflussreichsten Segmente der Branche entwickeln.
Strapazierte Infrastruktur. Veranstalter:innen und Bettenanbieter:innen freut das. Die Einheimischen hingegen ächzen vielerorts – vor allem in Europa, „dort, wo sich die Sehenswürdigkeiten auf wenigen Quadratkilometern konzentrieren und die Dichte an Tagestourist:innen hoch ist, die mehr Geld kosten, als sie dalassen“, sagt Cornelia Dlabaja. Ob Amsterdam, Dubrovnik, Rom, Lissabon oder allen voran Venedig: Längst stellt sich nicht mehr nur die Frage nach der Dehnbarkeit der städtischen Infrastruktur, sondern auch jene nach der mentalen Belastbarkeit der Einwohner:innen. In manchen Gassen ist für sie kaum mehr ein Durchkommen. Die Mieten steigen durch die Umkonvertierung des Wohnungsmarktes in Kurzzeitvermietungsformate. Die Umweltverschmutzung nimmt zu. Und wo Souvenirshops, Wechselstuben und hippe Restaurants lokale Geschäfte und gewachsene Beisln verdrängen – Stichwort: Touristifizierung und Commercial Gentrification –, sinken Lebensqualität und Tourismusakzeptanz. „Die Gäste, die einst für Wertschöpfung, Wohlstand und Weltoffenheit standen, werden zunehmend als Heimsuchung empfunden“, so Dlabaja.
Wenn die Bewohner:innen aber das Gefühl haben, ihre Stadt gehöre nicht mehr ihnen, erfüllt sich das, wovor der deutsche Denker Hans Magnus Enzensberger schon 1958 in seinem Essay „Eine Theorie des Tourismus“ warnte: Die Reisenden zerstören das, was sie eigentlich suchen – den Zauber von Lokalkolorit und Ursprünglichkeit, die Magie von authentischen Erlebnissen und Begegnungen. Denn der Overtourism verwandelt ehemals lebendige Grätzl in mumifizierte Museen und begehbare Postkartenmotive. Statt Lifeseeing bleibt nur mehr Sightseeing. Das Zentrum von Venedig hat etwa seit den 1950er-Jahren 125.000 seiner Einwohner:innen verloren. Dafür gibt es mehr als 50.000 Gästebetten.
Um ihre Stadt vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, arbeiten Destinationsmanagementorganisationen (DMOs) weltweit an Strategien für ökologisch und ökonomisch nachhaltigen sowie sozial verträglichen City-Tourismus. Restriktionen, wie die Begrenzung der Besucherzahlen und das Verbot von touristischen Kurzzeitvermietungen, oder „Eintrittsgelder“ und Bus-Slot-Systeme für Tagestourist:innen sind dabei ein Teil der Konzepte. Vielmehr aber gehe es darum, „einen ganzheitlichen, sorgetragenden Ansatz zu verfolgen, der die Bedürfnisse der Bewohner:innen und die Wertschöpfung für die lokale Ökonomie zum zentralen Bestandteil der Tourismusstrategie macht“, so Cornelia Dlabaja. „Wien Tourismus zum Beispiel liefert hier mit seiner Visitor-Economy-Strategie, die auch eng mit einer klimaresilienten Stadt- und nachhaltigen Regionalentwicklung verknüpft ist, international ein Best-Practice-Beispiel.“ So sollen Gäste die Stadt und ihre Angebote nicht nur konsumieren, sondern aktiv zur Lebens-, Aufenthalts- und Erlebnisqualität und einer gesunden Infrastruktur beitragen.
„Es geht darum, die Bedürfnisse der Bewohner:innen und die Wertschöpfung für die lokale Ökonomie zum zentralen Bestandteil der Tourismusstrategie zu machen.“
Regenerativer Tourismus. „Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von regenerativem Tourismus, einer Form des Reisens, die einem Ort nicht nur nicht schadet, sondern ihn besser macht“, erklärt die Stiftungsprofessorin. Dafür müssten Tourist:innen nicht unbedingt gleich Plastikmüll im Stadtpark einsammeln – obwohl auch das, etwa in Berlin oder Amsterdam, durchaus als „Urlaubsangebot“ angenommen wird, insbesondere von jüngeren Reisenden, die als Digital Nomads oft auch länger an einem Ort bleiben als Durchschnittstourist:innen. Ein weniger extremes Beispiel für den Ansatz sind etwa die sogenannten Urbanauts, Mikrohotels in Erdgeschosszonen, die man inzwischen an mehreren Standorten in Wien, aber auch in anderen Städten findet. „Sie lösen das Problem, dass man einerseits Leerstände hat, anderseits Unterkünfte braucht.“ Größere Hotels können hingegen mit Frühstücks- oder Co-Working-Space-Angeboten auch für die lokale Bevölkerung zu Social Hubs werden. Und durch „Place Making & Place Marketing“ werden neue Ziele innerhalb der Destination – etwa der Besuch lokaler (Floh-)Märkte oder von Galerien – zu Anziehungspunkten für Gäste. Außerhalb der überlasteten Zentren und abseits der Sightseeing-Pfade gelegen, tragen sie dazu bei, die positiven Effekte der Visitor Economy besser zu streuen und Wertschöpfung in die Grätzl zu bringen.
Dass gerade letzterer Ansatz greifen kann, davon ist der Wiener Zukunftsforscher Andreas Reiter überzeugt, trifft er doch den Zeitgeist. In seinem Zukunftsbüro-Blog schreibt er: „Das neue Branding greift auf, was ich seit vielen Jahren als urbanes Reframing postuliere: je komplexer und digitaler die Welt, desto wichtiger die Ökologie der Nähe – Achtel statt Viertel, Sechzehntel statt Achtel. Städte sind neuronale Netzwerke, in denen durch (gesteuerte) Transfers und Reibung das Neue entsteht. Damit geht auch touristisch ein Paradigmenwechsel einher: vom Beyond the Ordinary zum Ordinary. Das Alltagsleben als Destination. Der Hintereingang als Leitmotiv.“
Vereinte Kräfte. Damit solche transformativen Konzepte aber auch funktionieren, ist laut Dlabaja eine Mainstreamisierung nötig. „Wir brauchen nicht nur ein paar Leuchtturmprojekte, sondern eine Branche, die dahintersteht, die Zusammenarbeit mit lokalen Unternehmer:innen und eine Planungs- und Verwaltungsebene, die das dann verknüpft.“ Und natürlich muss auch auf der anderen Seite, von den Tourist:innen selbst, die Bereitschaft da sein, am Urlaubsort von Konsument:innen zu Mitgestalter:innen zu werden. Noch, sagt Dlabaja, gebe es oft einen großen Gap zwischen dem Bewusstsein für nachhaltiges Reiseverhalten und dessen tatsächlicher Umsetzung. Doch gerade deshalb sei es wichtig, gezielte Rahmenbedingungen zu setzen und neue, sozial wie ökologisch verträgliche Angebote zu machen.
Trend: Destination Dupes. Entlastung für überlaufene Metropolen könnten künftig aber auch neue Reisetrends bringen, die Sehnsüchte und Ressourcen, Ego und Ökosysteme ganz ohne strategisches Zutun der DMOs ausbalancieren. Schließlich sind vom Overtourism ja nicht nur die Destinationen betroffen, sondern auch die Gäste genervt. Lemongrass Marketing hob in seinem „Travel Trend Report 2025“ jedenfalls den Begriff „Destination Dupes“ hervor. Dahinter verbergen sich weniger bekannte, aber ähnlich attraktive Alternativen zu populären Zielen, die weniger überlaufen und meist auch erschwinglicher sind. Statt in die Lagunenstadt Venedig geht es dann etwa nach Ljubljana, nach Liverpool statt London oder zum Schifahren nach Sapporo in Japan statt nach Zermatt. Dank TikTok boomt etwa auch Taipeh als Alternative zu Seoul. Von Social Media getrieben, stiegen die Suchanfragen für die taiwanesische Hauptstadt zuletzt um fast 3.000 Prozent, so der Bericht.
Ein weiterer Trend: „Second City“-Reisen, auf denen statt der beliebten großen Städte die kleineren in der Nähe besucht werden. Die Plattform Expedia empfiehlt in seinem „Unpack '25: The Trends in Travel“-Report etwa Reims statt Paris oder Brescia statt Mailand anzusteuern. Auf den für viele wegweisenden Empfehlungslisten von Lonely Planet steht für 2025 Chiang Mai statt Bangkok ganz oben. Mit der Zunahme indischer und chinesischer Reiselustiger boomen zudem Städte wie das an der Bucht von Bengalen gelegene Puducherry oder Shanghai. Und der Klimawandel beschert kühleren Zielen Zulauf, etwa in Skandinavien oder im Baltikum.
Dann lieber Liebe. Letztlich ist es mit Städten aber wie mit Menschen: Manche sind einfacher beliebter als andere. Und das ist ja eigentlich ein Kompliment und Grund zur Freude. Denn was passiert, wenn die Tourist:innen ausbleiben, hat die Pandemie eindrücklich gezeigt.
Text: Daniela Schuster