Wirbel um das Lieferkettengesetz: Kontrollierte Kettenreaktion
Für die einen ist es ein Meilenstein. Für die anderen ist es ein Bürokratiemonster. Und für alle ist es ein Fakt. Am 5. Juli 2024 wurde das Lieferkettengesetz – genauer: die EU-Lieferkettenrichtlinie – im EU-Amtsblatt veröffentlicht, am 26. Juli trat es in Kraft. Der aufatmende Seufzer des EU-Parlaments tönte quer über den Kontinent: Dem Beschluss war ein jahrelanges Tauziehen vorausgegangen, noch in allerletzter Sekunde hatte die deutsche FDP mit einem Veto schmerzhafte Kompromisse ertrotzt. Auch Österreich stand auf der Bremse. Bei der Abstimmung lehnten ÖVP und FPÖ den Antrag ab, nur Othmar Karas enthielt sich der Stimme.
Und der Konflikt schwelt weiter. Namhafte Wirtschaftsgrößen wie Post-Vorstandsmitglied Peter Umundum oder Flughafen Wien-Vorstandsdirektor Günther Ofner forderten erst vor wenigen Wochen eine Zurücknahme der Richtlinie. Auch die Industriellenvereinigung sieht durch das Gesetz „die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Europa in Gefahr“, poltert „die EU entfernt sich immer mehr von der betrieblichen Realität und belastet europäische Unternehmen unnötig“ und fordert „ein Umdenken der neuen EU-Kommission“.
Anna Leitner, Global 2000-Expertin
„Die EU-Lieferkettenrichtlinie macht den Wettbewerb fairer. Leider kursieren sehr viele Halbwahrheiten über ihren Inhalt.“
Hätte, hätte, Lieferkette
Tatsächlich ist die neue Lieferkettenrichtlinie ein Paradigmenwechsel. „Sie macht den Wettbewerb fairer“, sagt Anna Leitner, Campaignerin für Ressourcen bei Global 2000. Wer bisher in Europa Waren produzierte, musste sich auch an europäische Arbeits- und Umweltgesetze halten. Wer aber seine Waren (oder Teile davon) außerhalb von Europa produzieren ließ, durfte auch das schlechte Gewissen für Kinderarbeit oder ungeklärte Abwässer an den Zulieferbetrieb in Vietnam oder Bangladesch auslagern. Fair produzierende Unternehmen hatten also in der Vergangenheit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber der Konkurrenz, die Arbeitsrechte und Umweltschutz in ihrer Lieferkette nicht ganz so wichtig nahm (weshalb sich zum Beispiel Patagonia, Oatly und Ikea dafür stark machten). Und Vorreiter mit eigenen Lieferkettengesetzen wie Deutschland oder Frankreich gerieten ins Hintertreffen gegenüber ihren Laissez-faire-Nachbarn – weshalb ein gesamteuropäisches Gesetz nun gleiche Rechte für alle schafft.
Der Wille zählt
Warum aber lässt die Richtlinie dann die Emotionen so hochgehen? „Weil darüber so viele Halbwahrheiten kursieren“, so Anna Leitner. Kommt auf heimische KMU eine Investitionslawine zu? Nein, weil die Richtlinie nur für Unternehmen gilt, die mehr als 1.000 Arbeitnehmer:innen beschäftigen und mehr als 450 Millionen Euro Jahresumsatz generieren – das sind europaweit rund 5.500 und in Österreich etwa 100 Unternehmen. Ersticken diese Konzerne künftig in noch mehr Bürokratie? Eher nicht, weil ihre ESG-Abteilungen ohnehin schon jetzt einen Großteil der benötigten Daten erheben (müssen). Steht man als Unternehmer:in künftig mit einem Fuß im Kriminal, wenn der Schraubenlieferant seinen Müll ins Naturschutzgebiet kippt? Nein, weil die „Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit“ (CSDDD) nur eine sogenannte „Bemühenspflicht“ vorgibt. Die betroffenen Unternehmen müssen also nachweisen können, welche sozialen und ökologischen Richtlinien sie ihren unterschiedlichen Stakeholdern entlang der Lieferkette vorgeben. Sie müssen dokumentieren, wie sie ihre Zulieferer kontrollieren und welche Maßnahmen sie bei Missständen setzen. „Das Gesetz soll nicht mit dem Finger auf Übeltäter zeigen, sondern Kooperation und Zusammenarbeit fördern.“
Die Uhr tickt
Dass heimische Interessenvertreter ein halbes Jahr nach dem Beschluss dessen Abschaffung fordern, hat daher innenpolitische Gründe. Die neue Bundesregierung muss die EU-Richtlinie nämlich bis spätestens 26. Juli 2026 in ein nationales Gesetz gießen. Inklusive aller Begutachtungen erfordert das ein straffes Timing, die Verhandlungen über das Gesetz zählen also zu den ersten Aufgaben der neuen Koalition. Trödeln ist aber auch aus anderen Gründen nicht empfehlenswert. „Je schneller wir ein nationales Gesetz auf Schiene haben, umso eher kann sich die heimische Wirtschaft verlässlich auf die neuen Spielregeln einstellen“, sagt Lieferketten-Expertin Anna Leitner. „Und je länger wir uns damit Zeit lassen, desto später bekommen die Unternehmen die damit verbundenen Förderungen.“
In Kreislaufwirtschaft zu investieren, sei übrigens auch in Hinblick auf das Lieferkettengesetz ein geschickter Kniff, sagt Leitner. Denn: „Wer gar keine neuen Rohstoffe oder Materialien braucht, muss sich auch keine Gedanken über deren möglicherweise zweifelhafte Herkunft oder Produktion machen.“
Text: Alexander Lisetz