Gaza-Krieg: Israel vor Gericht
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord – das sind juristische Begriffe, um menschliches Leid zu erfassen und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Sowohl auf staatlicher als auch auf individueller Ebene. Derzeit steht Israel im Mittelpunkt mehrerer solcher Verfahren.
Völkermord, ein großes Wort
Ende 2023 reichte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof eine Klage gegen Israel ein: Weil es einen Genozid am palästinensischen Volk begehe und nicht genug tue, um einen solchen zu verhindern. Ein schwerwiegender Vorwurf, der bei Israel aus offenkundigen historischen Gründen zusätzliche Brisanz hat.
Dementsprechend unterschiedlich fielen die Reaktionen aus. Die einen sehen darin eine Instrumentalisierung des Rechts und eines seiner wichtigsten Verbote. Noch dazu von Südafrikas Regierung, die sich bei anderen menschenrechtlichen Fragen, allen voran Russlands Aggression gegen die
Ukraine, ungleich zurückhaltender gezeigt hatte: keine Kritik, keine Zustimmung zur mit überwiegender Mehrheit angenommenen Resolution der UN-Generalversammlung, stattdessen gemeinsame Militärübungen noch nach Kriegsbeginn.
Die anderen sagen, dass das nicht entscheidend sei: Wenn Recht verletzt wird, müsse das aufgezeigt werden. Welcher Staat das genau tut, sei weniger entscheidend. Südafrika hat argumentiert, zum Schutz der Palästinenser zu handeln, ja dazu sogar rechtlich verpflichtet zu sein.
In der Tat sieht die Völkermord-Konvention vor, dass Staaten alles tun müssen, um einen Genozid zu verhindern. In erster Linie natürlich innerhalb des eigenen (räumlichen) Zuständigkeitsbereichs, aber eben nicht nur: So hat Nicaragua Anfang März 2024 Deutschland geklagt, weil es mit seiner Unterstützung für Israel ebenfalls die Völkermordkonvention verletze. Ende April hat das Gericht hier entschieden, keine vorläufigen Maßnahmen – etwa ein Verbot von Waffenlieferungen – anzuordnen.
Bei Südafrikas Klage sieht die Sache anders aus: Hier vertraten die Richter und Richterinnen die Ansicht, dass ein ernsthaftes Risiko einer „nicht-wiedergutmachbaren Beeinträchtigung“ der Rechte der Palästinenser bestehe, also vor Völkermord nicht geschützt zu werden. Daher ordnete es gegenüber Israel eine Reihe von Maßnahmen an, unter anderem das Zulassen von Hilfslieferungen und den Schutz von Beweismitteln. Aufgrund der drastisch verschlechterten Lage vor Ort hatte der Gerichtshof Ende März nochmals betont, dass Israel sicherstellen müsse, dass sein Militär keinen Völkermord begehe.
Eine finale Entscheidung steht freilich noch aus und wird mehrere Jahre dauern. Derartige „vorsorgliche Maßnahmen“ sind ein erster von vielen (Verfahrens-)Schritten, der für sich genommen nur wenig aussagt und auch nichts vorwegnehmen soll. Wohl aber steht fest, dass das Gericht die Gefahr einer Verletzung der Völkermordkonvention nicht für völlig aus der Luft gegriffen hält – sonst hätte es den Fall gleich zu Beginn für unzulässig erklärt. Wie es letztlich entscheidet, lässt sich derzeit nicht sagen. Bedenken sollte man, dass es hier nicht um ein Entweder-oder geht. Die Völkermordkonvention regelt nicht nur den staatlich organisierten Genozid. Eine Verletzung kann auch dann vorliegen, wenn ein Land nicht genug tut, um das Aufstacheln dazu, etwa auf sozialen Netzwerken, zu unterbinden. Israel könnte also auch (nur) teilweise verurteilt beziehungsweise teilweise freigesprochen werden.
Netanjahu auf der Anklagebank?
Neben dem Internationalen Gerichtshof ist auch der Internationale Strafgerichtshof mit dem Gaza-Krieg befasst. Die beiden werden gerne verwechselt, nicht nur aufgrund der ähnlichen Bezeichnungen, sondern auch, weil beide ihren Sitz im niederländischen Den Haag haben.
Aus Sicht des Völkerrechts sind die Unterschiede freilich klar. Der Internationale Gerichtshof ist eines der Hauptorgane der 1945 geschaffenen Vereinten Nationen und nur für Staaten zuständig. Der Internationale Strafgerichtshof existiert hingegen erst seit 2002 und verfolgt das Ziel, Individuen zu verurteilen, die für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder einen Angriffskrieg verantwortlich sind.
Dabei gilt die Maxime, keine „einfachen Soldaten“, sondern die führenden Köpfe anzuklagen und – gegebenenfalls – zu verurteilen: also vornehmlich „Warlords“, Generäle, Minister und sogar Regierungschefs oder Präsidenten. Gendern ist hier übrigens nicht notwendig: Unter den bislang 54 Angeklagten befinden sich nur zwei Frauen, die keine Regierungsämter ausüb(t)en: Maria Lvova-Belova (die die massenhafte Deportation von ukrainischen Kindern nach Russland orchestriert) und Simone Gbagbo (die Frau des ehemaligen Präsidenten der Elfenbeinküste, die bei den Unruhen nach den Wahlen 2011 eine maßgebliche Rolle gespielt hatte).
Derzeit geht das Gerücht um, dass der Internationale Strafgerichtshof für Benjamin Netanjahu und andere Regierungsmitglieder Haftbefehle ausstellen könnte. Die Immunität hilft ihnen hier nicht, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs sagt ausdrücklich, dass offizielle Ämter keine Rolle spielen. So hatte er schon 2009 einen Haftbefehl für den (mittlerweile ehemaligen) sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir und zuletzt (im März 2023) einen für Wladimir Putin ausgestellt.
Beide sind allerdings nach wie vor auf freiem Fuß. Was auch die Grenzen des Strafgerichtshofs offenlegt: Er hat keine eigenen Spezialkräfte, die filmreif in Präsidentenvillen einbrechen und Angeklagte entführen. Ohne Kooperation seiner Mitgliedsländer passiert nicht viel. Also müssen diese ihre eigenen oder fremde Staatsbürger ausliefern, die sich auf ihrem Gebiet befinden.
Im Falle des Falles, also bei Vorliegen eines Haftbefehls, müssten Länder wie Österreich oder Deutschland, die beide dem Internationalen Strafgerichtshof angehören, also israelische Regierungsmitglieder festnehmen, sobald diese im Rahmen von Staatsbesuchen oder aus anderen Gründen ihren Boden betreten. Die bittere historische Ironie läge freilich auf der Hand. Letzten Endes wäre wohl davon auszugehen, dass die Angeklagten es gar nicht erst darauf ankommen ließen.
Staat Palästina?
Einen letzten Einwand gibt es noch: Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs beruht auf einer Erklärung des „Staates Palästina“ und seinem Beitritt zum Statut anno 2015. Nur: Ob dieser Staat formal gesehen überhaupt existiert, ist bekanntlich umstritten. Eine UN-Mitgliedschaft scheiterte bislang am Veto der USA im Sicherheitsrat, und seine Souveränität wird durch die Kontrolle Israels über die palästinensischen Gebiete maßgeblich eingeschränkt.
Dennoch befand eine Mehrheit von zwei zu einem Richter 2021, dass der Strafgerichtshof für Palästina und damit auch für den Gazastreifen zuständig sei. Eine umstrittene Entscheidung, die heute brisanter denn je erscheint.
Zwar ist davon auszugehen, dass Israels Regierung (wie im Übrigen auch die USA) mit dem Internationalen Strafgerichtshof allenfalls eingeschränkt kooperieren wird. Netanjahu hat mögliche Haftbefehle schon jetzt als „historisch beispiellosen Skandal“ bezeichnet.
Das füttert freilich das Narrativ westlicher Doppelmoral. Es liegt an den Gerichten, diesen Vorwurf zu entkräften. Nicht mit Schönreden, sondern mit Differenzieren: Gaza ist nicht die Ukraine, Netanjahu nicht Putin. Aber wo Verbrechen, da Verurteilungen. Zumindest in der Theorie.
Der Autor
Ralph Janik, 38, ist Lektor für internationales Recht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Er ist außerdem Lehrbeauftragter an der Universität Wien sowie der Universität der Bundeswehr in München und betreibt den Podcast "Recht politisch".