Gefährliches Wundermittel: Der absurde Hype um Methylenblau
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Der Videoschnipsel ging im Februar online, verbreitete sich rasant auf YouTube, X und Instagram und wurde millionenfach aufgerufen. Die Aufnahme zeigt Robert F. Kennedy, den amerikanischen Gesundheitsminister mit ausgeprägtem Hang zu eigenwilligen Ansichten über Impfungen und konventionelle Medizin, an Bord eines Flugzeugs. Der Blick fällt zwischen zwei Flugzeugsitzen hindurch auf Kennedys Hände, die eine blaue Flüssigkeit aus einem Fläschchen in ein Getränk träufeln.
Reichlich unspektakulär, könnte man meinen. Doch die Netzwelt war elektrisiert und debattierte sofort heftig, was RFK in seinen Drink tropfte. Die meisten Beobachter hatten keinen Zweifel: Es müsse sich um Methylenblau handeln. Ganz offensichtlich sei auch Kennedy von den wunderbaren Eigenschaften dieser Substanz überzeugt.
Wer sich jetzt fragt, was denn das sein soll, hat den neuesten Megatrend am an Merkwürdigkeiten nicht armen Markt der bizarren Wundermittel übersehen. Seit Monaten werden soziale Medien, besonders TikTok und YouTube, von Videos mit teils Hunderttausenden Aufrufen geflutet, in denen begeisterte Anwender und vermeintliche Wissenschafter von den unglaublichen Vorzügen und fantastischen Effekten von Methylenblau schwärmen.
„Anti-Aging und Heilmittel in einem“, behaupten die einen, während andere „mehr Energie und Verjüngung auf allen Ebenen“ versprechen und Wirksamkeit gegen Falten ebenso verheißen wie gegen Autismus, ADHS, Depressionen, Alzheimer und Krebs. Außerdem soll das Immunsystem gestärkt und das Gedächtnis verbessert werden. Kurz: „Das geheime Wundermittel für alles.“ Einer der Tiktok-Influencer nannte Methylenblau „das krasseste Supplement der Welt“. Die Wirkung sei „einfach nur heftig“. Schauspieler Mel Gibson, esoterischem Geschwurbel selten abgeneigt, bewarb Methylenblau als mögliches Krebstherapeutikum.
Fachleute sind weniger begeistert. Dem Mediziner Edzard Ernst, der vor allem Alternativmedizin einer kritischen Prüfung unterzieht und Scharlatanerie aller Art aufzeigt, gelingt ein Urteil über den Hype in nur zwei Worten: „Total hirnrissig.“ Ernst erinnert sich noch an Streiche mit Methylenblau aus seinen Tagen als Jungarzt. Schluckte man Kapseln mit dem Farbstoff, konnte man Studenten auf der Toilette einer Kneipe erschrecken, weil man tiefblauen Urin absonderte.
Chemie zur Textilfärbung
Tatsächlich ist Methylenblau keineswegs neu. Es handelt sich dabei zunächst um einen Farbstoff, der bereits im Jahr 1876 synthetisch hergestellt wurde. Erst bei Kontakt mit Wasser nehmen die sonst dunkelgrünen Kristalle eine auffallend kobaltblaue Farbe an – gleichsam das Markenzeichen der gegenwärtigen Influencer, die gern ihre blauen Zungen in die Kamera strecken. Ursprünglich wurde die Substanz als Färbemittel in der Textilindustrie genutzt, später auch in der Histologie: um Gewebepräparate einzufärben oder Bakterien farblich zu markieren und sichtbar zu machen.
Doch auch in der Medizin fand Methylenblau, chemisch Methylthioniniumchlorid genannt, in speziellen Bereichen schon bald Verwendung. Der deutsche Mediziner und Nobelpreisträger Paul Ehrlich verfasste 1890 in der „Deutschen Medicinischen Wochenschrift“ den Aufsatz „Ueber schmerzstillende Wirkung des Methylenblau“ und entdeckte kurz darauf, dass sich die organische Verbindung zur Behandlung von Malaria eignet. Denn Methylenblau hemmt ein Enzym namens Glutathion-Reduktase – einen für Plasmodien, die Erreger von Malaria, überlebenswichtigen Eiweißstoff. Andere Malariamittel wie Chloroquin verdrängten später Methylenblau, doch mit dem Problem zunehmender Resistenzen gegen gängige Präparate erlebt der Farbstoff eine Renaissance – und wird seit etwa zwei Jahrzehnten wieder intensiv beforscht.
Anders als viele andere vermeintliche Wundermittel entfaltet Methylenblau somit tatsächlich hohe Wirksamkeit – allerdings ausschließlich im Zusammenhang mit sehr konkreten Krankheitsbildern. Ein weiteres Beispiel ist eine Komplikation namens Methämoglobinämie. Dabei wird der Sauerstofftransport im Blut beeinträchtigt, was zu einer Unterversorgung der Organe und schweren Organschäden bis hin zum Tod führen kann. Ursache kann ein genetischer Defekt oder eine Vergiftung sein, etwa durch Nitrit. Methylenblau reduziert das problematische Methämoglobin im Blut – und verbessert den eingeschränkten Sauerstofftransport.
Ein frühes Antidepressivum
Weiters erprobten Mediziner Methylenblau um das Jahr 1900 als Mittel gegen psychische Leiden wie etwa Depressionen. Ansatzpunkt dabei ist ebenfalls eine Wirkung über Enzyme, diesfalls der Eiweißstoff Monoaminoxidase. Das Enzym hat die Aufgabe, Gehirnbotenstoffe wie Dopamin und Serotonin zu drosseln – was im Fall depressiver Erkrankungen jedoch unerwünscht ist. Monoaminoxidase-Hemmer wie Methylenblau (und eine Reihe anderer) wirken der Reduzierung von Hirnbotenstoffen entgegen. Später wurde die Substanz auch als Kandidat gegen neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson getestet, letztlich aber mit enttäuschenden Ergebnissen.
Grundsätzlich aber besitze der Farbstoff „faszinierende und vielfältige Eigenschaften“, schreibt Edzard Ernst in einem Beitrag im Magazin „Der Spiegel“, was freilich alles andere als ein Novum sei. Warum aber erlebt der Stoff, der als Kristall oder Pulver verfügbar ist, jetzt plötzlich einen gewaltigen Boom in sozialen Medien? Das liegt wohl auch an Mark Sloan. Der amerikanische Autor, der zwar keine medizinische Ausbildung, aber eine Menge selbst gestrickte Ideen zu Krankheiten und deren Heilung besitzt, schrieb einen Bestseller über Methylenblau. In dem Buch pries er den Farbstoff als Mittel gegen so ziemlich alle Leiden und Unpässlichkeite an, die den Menschen befallen können – ob Krebs oder Alzheimer. Zudem helfe Methylenblau gegen Infektionskrankheiten und sei ein Booster für die Mitochondrien, die Kraftwerke der Körperzellen.
In der Folge eroberte das Präparat die sozialen Medien. Es war ein Geschenk für alle Scharlatane der digitalen Welt, ausgestattet mit den klassischen Ingredienzien: ein scheinbar unbekanntes Wundermittel gegen alles, beruhend auf altem Wissen, das wahlweise verschüttet oder unterdrückt wurde und das sich obendrein in Form blauer Zungen höchst einprägsam verbildlichen ließ. Optimal war auch, dass es tatsächlich wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die sich perfekt mit erfundenen Behauptungen zu einem trüben Brei vermischen ließen, sodass kein Laie mehr beurteilen kann, wo die Grenze zwischen Evidenz und absurden Heilsversprechen liegt.
Das Konzept ging auf: Zahlreiche Internet-Shops aller Art, darunter viele Online-Apotheken, sprangen auf den von ungezählten Influencern losgetretenen Trend auf und bieten nun ein breites Sortiment an Methylenblau-Produkten feil, meist in Pipettenfläschchen zu rund 20 bis 90 Euro. Doch man kann das Präparat auch im Chemiefachhandel erwerben, wo es nach wie vor als Färbemittel vertrieben wird. Dort würde freilich niemand damit rechnen, dass die Kundschaft es ins Getränk mixen will – viele Produkte tragen sogar den Hinweis: „Gesundheitsschädlich bei Verschlucken.“ Verbindliche Regelungen für die orale Einnahme fehlen, da Methylenblau weder als Arznei- noch als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen ist. Die deutsche Apothekerkammer publizierte bereits Warnungen, in denen sie vom Verkauf von Methylenblau als Lifestyle-Präparat abrät.
Unbelegte Wunderwirkungen
Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob Klinikärzte eine Substanz wie Methylenblau, präzise dosiert als Injektion und nach erfolgter Diagnose gegen eine spezifische Krankheit, verabreichen oder ob man ein Mittel unbekannter Herkunft und ungewissen Reinheitsgrades im Versandhandel bestellt – und sich davon Vorzüge erhofft, die durch nichts belegt sind. Denn die allermeisten der auf YouTube oder TikTok behaupteten Effekte wie Wirkung gegen Krebs oder Nervenleiden, konstatiert Ernst, „basieren fast ausschließlich auf Wunschdenken, Übertreibungen oder der falschen Interpretation wissenschaftlicher Literatur“. Abgesehen von den wenigen anerkannten Einsatzgebieten sei keine der „vermeintlichen Wunderwirkungen“ wissenschaftlich erwiesen.
Die behaupteten Effekte basieren fast ausschließlich auf Wunschdenken, Übertreibungen oder der falschen Interpretation wissenschaftlicher Literatur.
Edzard Ernst, Mediziner
Im günstigsten Fall ist die Einnahme somit nutzlos, mitunter kann sie aber auch schaden. Denn die Substanz greift schließlich in die Körperchemie ein. Sie überwindet beispielsweise die Blut-Hirn-Schranke, gelangt in Körperzellen und beeinflusst den Sauerstofftransport. Auf letzterem Umstand beruht auch die begeisterte Behauptung, Methylenblau verleihe Anwendern einen Energieschub: Dies soll im Wege verbesserten Sauerstoffhaushalts in den Mitochondrien geschehen. Theoretisch ist dieser Effekt möglich, allerdings: Bloß weil ein Effekt auf molekularer Ebene plausibel ist, bedeutet das noch nicht, dass er in der Praxis eine Rolle spielt. Nachgewiesen sind wahrnehmbare Wirkungen jedenfalls nicht. Anekdoten im Internet gelten nicht als Evidenz.
Mögliche Probleme hingegen sind sehr wohl belegt, und zwar vor allem bei Überdosierungen. Dann treten meist Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kopfschmerz auf. In gravierenden Fällen können rote Blutkörperchen zerstört werden oder ein – wenn auch seltenes – Serotonin-Syndrom auftreten: Weil Methylenblau den Abbau des Botenstoffes Serotonin hemmt (wie bei der Behandlung psychischer Leiden erwünscht), steigt allmählich der Serotoninspiegel auf ein Übermaß, was bei leichten Verläufen zu Herzrasen, Zittern und steigendem Blutdruck führt, im Extremfall aber zu Organversagen.
Zwar gilt eine Dosierung von täglich ein bis zwei Milligramm Methylenblau pro Kilo Körpergewicht als sicher. Allerdings preisen manche Influencer die angeblich phänomenalen Wirkungen einer hoch dosierten Einnahme auf Leistungsfähigkeit und Energiegeladenheit – nach der Devise: Je mehr davon, desto zuverlässiger entwickle man sich zum rundum gesunden Kraftpaket.
Ob davon bei normaler Dosis wenigstens ein klein wenig zu spüren ist, wollte Edzard Ernst – ein halbes Jahrhundert nach seinem Studium – kürzlich selber wissen. Das Resultat, nachdem er das Präparat eingenommen hatte: „Außer blauem Urin ist nichts passiert.“

Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft