Zeitgeschichte

Neues Buch zeichnet NS-Unrecht und einen Justizskandal nach

Viele Opfer des Nationalsozialismus hüllten sich nach 1945 in Schweigen, während die Täter ungeschoren davonkamen. Der oberösterreichische Autor Klemens Renoldner hat darüber ein beeindruckendes Buch geschrieben.

Drucken

Schriftgröße

Es muss für Alois Renoldner die reinste Schikane gewesen sein. Der Gendarmeriebeamte wurde am 29. März 1938 erkennungsdienstlich behandelt, nachdem er ohne Anklage und Angabe von Gründen verhaftet worden war. Fingerabdrücke. Fotos von vorn, von links und rechts. Nur Schwerverbrecher und Personen, bei denen ein begründeter Tatverdacht vorlag, wurden so angefasst. Renoldner war ein untadeliger Beamter, dessen Fleiß und Genauigkeit hervorstachen, der völlig unschuldig in die Fänge des NS-Unrechtsstaats geraten war. Auf den Fotos ist ein ungläubig in die Welt blickender Mann zu sehen, dem sein Enkel Klemens in seinem Buch „Geschichte zweier Angeklagter“ ein eindrückliches Denkmal setzt.

Klemens Renoldner, 1953 im oberösterreichischen Schärding geboren, war Gründungsdirektor des Salzburger Stefan-Zweig-Zentrums und Dramaturg an vielen deutschsprachigen Bühnen. Er hat Romane („Lilys Ungeduld“, 2011) und Erzählungen geschrieben. „Geschichte zweier Angeklagter“ ist Renoldners Buch über seinen Großvater, das einiges über Österreich erzählt. Über das vergangene und das gegenwärtige.

Alois Renoldner (1884–1966) stammte aus einer oberösterreichischen Bauernfamilie und arbeitete sich zum Gendarmeriemajor in der Linzer Sicherheitsdirektion hoch. Klemens Renoldner hat ihm in seinem Buch „Fein vorbei an der Wahrheit“ (2021) bereits fünf Erzählungen gewidmet. Geschichten über die Karl-May-Leidenschaft des Großvaters und wie Alois’ Uniform und Paradesäbel verloren gingen.

Bis zum 12. März 1938 meinte es das Leben gut mit Alois Renoldner. Einen Tag nach dem sogenannten „Anschluss“, bei dem Adolf Hitler auf dem Linzer Rathausplatz mit nicht enden wollenden „Heil“-Rufen empfangen worden war, veranlasste Renoldners Vorgesetzter Ewald Simmer die Inhaftierung seines Untergebenen. Simmers Name wird in Klemens Renoldners Familie bis heute mit Abscheu ausgesprochen. Simmer ist dennoch ein Pseudonym, das Renoldner wählte, weil er kein „Racheengel“ sein will, wie er beim Treffen an einem Aprilnachmittag sagt: „Es gibt vermutlich noch etliche Verwandte und Enkelkinder dieser Person.“ Fällt Simmers wirklicher Name in Zeitgeschichtsarchiven, weiß man sofort, dass es sich um einen fanatischen Nazi handelt, der Kollegen denunzierte und willkürlich einkerkern ließ. Mindestens ein Fall ist belegt, in dem auf die Verhaftung der Tod des Betroffenen folgte.

Beamte müssen Diensteide schwören. Renoldner hatte im Frühjahr 1934 dem von Engelbert Dollfuß ausgerufenem Bundesstaat Österreich seine Treue bezeugt, dem Ständestaat auf diktatorischer Grundlage. Die NSDAP war in Österreich seit dem 19. Juni 1933 verboten. Renoldner exekutierte geltendes Recht, als er Hakenkreuzfahnen entfernen und NS-Versammlungen auflösen ließ. Simmer rächte sich dafür, kaum hatten sich die Zeiten zu seinen Gunsten gedreht.

Unrecht und Gewalt

Der Nationalsozialismus zermürbte Menschen mit Unrecht und Gewalt. Renoldner wurde im Linzer Landesgefängnis eingekerkert, später ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Er war über elf Monate lang von der Welt weggesperrt. „Er war eine Nummer geworden“, schreibt Klemens Renoldner: „Häftling Nr. sowieso. Nein, vielmehr Häftling Nummer null. Er war eine Null geworden.“

Am 2. Februar 1939 kam der Großvater frei und kehrte zu seiner Familie zurück. Über die Zeit in Dachau hat Alois nie mehr gesprochen. „Es war schlimm, sehr schlimm“, erzählte er nur. Er habe „himmelschreiendes Unrecht“ gesehen. „Geschichte zweier Angeklagter“ legt einen Fall offen, der in der Zeit des Nationalsozialismus und danach in Österreich so oder so ähnlich tausendfach geschah: Die Opfer schwiegen – die Täter kamen ungeschoren davon. „Das Buch behandelt nicht nur einen historischen Fall“, sagt Klemens Renoldner: „Es berührt unsere politische Gegenwart, indem es zeigt, wie konsequentes Leugnen, Wegducken und Abstreiten zum Erfolg führen kann. Nicht selten erfasst mich ein heiliger Zorn, wenn ich Politiker einer bestimmten Partei reden höre.“ Der pathologische Lügner und Fakten-Verweigerer Simmer wirkt wie ein alter Geist in neuer Zeit.

Nach 1945 wurde Alois Renoldner rehabilitiert und wieder in den Gendarmerie-Dienst aufgenommen. Ewald Simmer wurde im Februar 1946 verhaftet, vor dem Linzer Volksgerichtshof machte man ihm den Prozess.

Simmer log vor Gericht dermaßen unverhohlen, dass man sich fragt, wie obszön die Wahrheit verwischt und verdreht werden kann. Er sah sich im Prozess mit tonnenschwerer Beweislast konfrontiert: Berichte, Vermerke, mehr als 70 Zeugenaussagen, dazu seine drei Anträge auf SS-Mitgliedschaft. Doch Simmer, dessen Geschäft schon immer die Häme und der Menschenhass waren, täuschte weiter im Angriffsmodus. Die Zeit des Nationalsozialismus ist wie ein schwarzes Loch in seiner Erinnerung. Die Angaben im NSDAP-Fragebogen von Ende Mai 1938? Nichts als Notlügen, die Simmer auf Druck und Drängen hochrangiger Nazis gemacht haben will. Er sei, behauptete er, in die Rolle eines „Nazi-Freundes“ geschlüpft, um sein Doppelleben als „Anti-Nazi“ durchzuhalten.

Davonrennen vor der Wahrheit

Die Zeugenaussagen, die belegen, dass er sich mit ausgestrecktem rechten Arm verabschiedet habe? „Ich bestreite den Hitlergruß!“, empörte er sich: „Was andere für einen Hitlergruß gehalten haben, kann nur eine unbedachte Reflexbewegung des rechten Armes gewesen sein.“ Er beteuerte, als ehemaliger stellvertretender Gendarmeriekommandant Oberösterreichs der Letzte in der Befehlskette gewesen zu sein. Es sei ein Graus, welch „teuflischer Hetze“ und welchem „Kesseltreiben“ er, Simmer, seit 1945 ausgesetzt sei. Er habe nur seine Pflicht getan und könne sich an nichts mehr erinnern. Nicht an die Gehässigkeiten und Denunziationen, vergessen der Besuch von Alois Renoldners Ehefrau im April 1938, als ihn diese um die Freilassung ihres Gatten bat. Ob Simmer seinen Kollegen aus „persönlicher Gehässigkeit“ verhaften ließ? Davon könne keine Rede sein: „Das alles ist eine Verleumdung!“

Ein einziges, hakenschlagendes Davonrennen vor der Wahrheit. Eine Parabel auf Österreichs Umgang mit dem NS-Erbe. Ein schmales Buch mit viel Gewicht.

Im August 1948 war Simmer nach nur zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft ein freier Mann, dem seine Gesinnungsgenossen im Wirtshaus stolz auf die Schultern klopften. Ende Mai 1949 wurde das Verfahren eingestellt. Die Geschichte von Ewald Simmer ist die eines überzeugten Nazis, den das Gericht von jedem Vorwurf des Verschuldens entlastete.

Die österreichische Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945 sprach davon, den „Geist des Faschismus rücksichtslos bekämpfen“ zu wollen. „Überträgt man diese Absicht tatsächlich auf die Geschichte nach 1945, müsste Österreich heute sehr anders sein“, sagt Klemens Renoldner. „Im Nachkriegsösterreich manifestierte sich früh der politische Wille, die Mitläufer und Verleumder zu entlasten und nur die Schwerstbelasteten zu verfolgen. Bald waren an den Universitäten und an den Gerichten, in der Schule und der Politik wieder die alten Nazis in Amt und Würden.“

Wo und wie Ewald Simmer nach seinem Freispruch weiterlebte, das will Klemens Renoldner gar nicht so genau wissen. Sonst brodelt wieder der Zorn.

Geschichte zweier Angeklagter

Klemens Renoldner

126 S.

€21,00

 

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.