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„Am Montag bin ich tot“: Zu Besuch im Drogenwohnprojekt

Das „Lighthouse” ist ein Wohnprojekt für substanzabhängige Menschen in Wien. Kann so etwas funktionieren? Eine Reportage.

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Michaela hat den Namen ihrer Tochter vergessen. „Larissa, nein, Vicki. Nein, es tut mir leid, Sophia heißt mein Mädchen.“ Offenbar wirkt das eben eingenommene Morphium. Michi rührt mit einem lila Einwegrasierer in ihrem Cappuccino, betrachtet das Foto auf ihrem Nachttisch. Ein kleines blondes Mädchen lacht ihr entgegen. Der Bilderrahmen ist mit glitzernden Herzen verziert. Ein Geschenk ihrer Tochter, selbstgebastelt. Sophia ist ein „Vergewaltigungskind“, deshalb lebt sie bei einer Pflegefamilie. Ab und zu geht Michi mit der mittlerweile 18-Jährigen spazieren. „Sie reitet gern, wie ihre Mama. Sie hat auch ein eigenes Pferd, wie Mama früher“, sagt Michi, „und hübsch ist sie auch.“ Wie Mama.

Michi wohnt im „Lighthouse“, einem Wohnprojekt für obdachlose und substanzabhängige Menschen im dritten Wiener Gemeindebezirk. Hier öffnet jede volle Stunde der Counter. Er ist die zentrale Achse des Projekts. Die Bewohner bekommen täglich von 8 bis 10 Uhr ihre Medikamente, Spritzen und Substitutionspäparate, „Substis“ genannt, ausgehändigt. Einzeln kommen sie herein und schlucken vor den Augen der Betreuer ihre Ersatztherapie für Heroin und andere Suchtmittel. Die Dose wird unter der gläsernen Scheibe durchgereicht. Im „Lighthouse“ sieht es beinahe aus wie in einer Arztpraxis. Michi verlässt mit ihrem Spritzennachschub den Counter mit den Worten: „Danke Luki, du bist der Beste, weißt du das? Ich habe dich lieb.“

„Wir kämpfen jeden Tag um’s Überleben der Bewohner“

Das Projekt „Lighthouse“ bietet rund 60 Wohnplätze, die auf fünf 100 m² große Stockwerke verteilt sind. Christian ist der Leiter des „Lighthouse“. Er arbeitet vormittags im Wohnprojekt und nachmittags als Psychotherapeut. Er nennt sich und sein langjähriges Team, bestehend aus einem Kollegen und Hausmeister, „die Pensionisten der Drogenszene“, denn sie sind alle ungefähr 60 Jahre alt. Ein Alter, das Junkies selten erreichen. Christian war vor 20 Jahren Vorsitzender des Selbsthilfevereins für HIV und AIDS, als zwei Obdachlose vor der Tür standen mit der Bitte: „Nehmt uns.“ Der Verein konnte sich damals nicht mal die Miete für das Büro leisten, Christian gründete dann den Verein für Menschen in Not, der sich seit 2003 für die Sicherung des Überlebens der Bewohnerinnen und Bewohner des „Lighthouse“ einsetzt. Das Ziel ist, Kriminalität, Prostitution, Misshandlung, Ansteckung mit HIV und Obdachlosigkeit zu beenden. „Wir kämpfen jeden Tag um´s Überleben der Bewohner“, sagt Christian. Im Vordergrund steht, den Bewohnern ein Dach über dem Kopf zu bieten, sie werden vom Team und Betreuern unterstützt, zum AMS zu gehen und ihre HIV-Behandlung durchzuführen. Drogenabhängige stecken sich oft wegen schmutzigen Spritzen mit dem HIV-Virus an. 

07:56 Uhr, die Junkies warten. Michi ist die Erste am Counter, sie wartet auf ihre Drogen. „Waschmittel brauche ich auch.“ Michi achtet darauf, sauber und modisch zu sein. Deshalb möchte sie einkaufen gehen, das darf sie aber nicht allein. Nach Jahren im Gefängnis wegen Diebstahls lebt sie nun im „Lighthouse“. Ihr Alias Elster verrät, dass sie mit dem Stehlen noch nicht ganz abgeschlossen hat. Der Betreuer kennt ihren Schrank: „Du hast sogar mehr Gewand als ich.“ Elster erwidert: „Ja, aber nichts Modisches. Du willst ja auch nach der Mode gehen, oder nicht?“

Das Projekt Lighthouse setzt auf die Selbstständigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner. Ihnen wird die Unterstützung geboten, die sie benötigen, aber auch die Freiräume, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Dadurch entstehen einige Herausforderungen. Immer wieder begehen die Bewohner kleinere Delikte, wie zum Beispiel der Diebstahl einer Flasche Vodka oder einer Leberkäsesemmel, eine Bewohnerin fuhr regelmäßig betrunken mit einem E-Roller. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind zu dem durchgehende „Therapieverweigerer“. Eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt gilt als ausgeschlossen. Nur wenige schaffen es, die Sucht zu überwinden. Das Projekt gilt als umstritten: Es werden immer wieder ethische Bedenken, wie Menschenrechtsverletzung oder mangelnde Hygiene geäußert und die Professionalität des „Lighthouse“ angezweifelt.

Im vierten Stock liegt ein Mann auf seiner Matratze in einem Meer aus Zigarettenstummeln, daneben eine ein Meter hohe rote Bong. Er unterhält sich rufend mit einer anderen Bewohnerin, die auf der Treppe im Flur ungarische Musik auf YouTube hört, Kapuzenpulli tief im Gesicht, die Dopplerflasche Grüner Veltliner davor. In einem anderen Raum wird die letzte brauchbare Vene gesucht, hinter der nächsten Tür wird bereits der nächste Schuss gesetzt. Im „Lighthouse“ hat  jedes Zimmer seine eigene Vergangenheit und erzählt zahlreiche Geschichten. 

Christian: An die Vergangenheit will ein Junkie nicht erinnert werden und in die Zukunft will er flüchten."

Wer im „Lighthouse" anruft, darf sofort dort übernachten. Die meisten Bewohner kommen von der Straße oder aus dem Gefängnis, haben keine Dokumente oder Versicherung. Ihre Miete zahlen sie von der Mindestsicherung, Arzttermine und Rezepte sind dabei bereits inkludiert. Was nach Abzug der Miete übrig bleibt, bekommen sie als Taschengeld drei Mal pro Woche ausbezahlt - im Monat sind das 400 bis 500 Euro. Für instabile Bewohnerinnen und Bewohner gehen die Betreuer einkaufen. 

„Nur wenn ich ka Drogen nehm, hab ich a Problem“

Auf dem Weg ins Krankenhaus zur Blutabnahme und Rezeptauffrischung. Der Betreuer Luka hält an einer roten Ampel. Patrick lässt das Fenster herunter und fragt einen am Gehweg spazierenden ÖBB-Kontrolleur nach einer Zigarette. „Da hast sogar zwei,“ sagt der Mann. Patrick freut sich: „Weißt, wenn man freundlich zu Menschen ist, sind sie auch meistens freundlich zurück.“ Patrick ist der Bewohner der am längsten im „Lighthouse“ lebt, ein freundlicher, 51-jähriger Punk aus Vorarlberg: „Ich hab ka Drogenproblem, nur wenn i ka Drogen nehm, hab ich a Problem.“ Seit seinem dreizehnten Lebensjahr ist er heroinabhängig: „Ich bin seitdem drauf, ich kenne nichts anderes.“ Damals hat er Spritzen vertauscht und sich mit HIV angesteckt. Er selbst fand das nicht so schlimm. Nur seiner Mama davon zu erzählen, fiel ihm schwer. Nicht nur weil sie seine Mama ist, sondern weil sie als Sozialarbeiterin arbeitet.

Dem „Lighthouse“ verdankt Patrick sein Leben: „Sonst wäre ich schon 19 mal tot.“ Er ist nach Wien gezogen und lebt seit 20 Jahren in diesem Wohnprojekt. Hat er Freunde? „Alle tot. Aber als Junkie hat man keine Freunde, nur Bekannte.“ Vor ein paar Jahren lernte er im Lighthouse seine „Frau“ kennen, Elisa. (Anmerkung: Dieser Name wurde von der Redaktion geändert) Sie sind zwar nicht verheiratet, er nennt sie trotzdem so. Die beiden sind unzertrennlich. Das einzige, was Patrick und Elisa trennt, sind 22 Jahre Altersunterschied. „Sie hat mich aufgerissen. Keine Ahnung warum, sie ist viel zu jung und schön für mich.“ Elisa zog auch in das „Lighthouse“, nachdem sie es schaffte, vor ihrem gewalttätigen Partner zu fliehen. „Sie musste abhauen, er hätte sie sonst totgeschlagen. Wenn ich ihn je treffe, bring ich ihn um. Ihre Tochter konnte Elisa nicht mitnehmen, sie hofft, dass sie es eines Tages versteht“, sagt Patrick. Elisa und Patrick leben zusammen im „Lighthouse“. Sie wirken zufrieden, schauen Naturdokus und Kindersendungen, bekommen ihre Medikamente, nehmen ihre Drogen. Müsste er sich zwischen „Gift“ und seiner Frau entscheiden, würde er mittlerweile seine Frau wählen.

„Am Montag bin ich tot“

Die 55-jährige Michi träumt davon, irgendwann eine eigene Wohnung zu haben. Sie hat detaillierte Vorstellungen. „Schöne helle Vorhänge und ein Kätzchen, das mit Michi im Bett schläft und mit ihr spielt“, erzählt mir der Betreuer Luka. Momentan ist sie stabil, das ändert sich bei Drogenabhängigen allerdings regelmäßig. Beim geschätzten Drogenkonsum befand sich Österreich im vergangenen Jahr bei fast allen Substanzen über dem EU-Schnitt. Die Anzahl der Drogentoten war 2021 sogar doppelt so hoch wie im EU-Schnitt. Im „Lighthouse“ kommen Todesfälle selten vor, Suizidankündigungen allerdings regelmäßig. Luka erzählt: „Michi meinte, sie fühlt sich einsam und möchte noch mit mir spazieren gehen.“ Er schüttelte sie ab und wünschte ihr ein schönes Wochenende, sie würde sich am Montag sehen. „Sie hat mir in die Augen geschaut und mit voller Überzeugung gesagt: Montag kann ich nicht, am Montag bin ich tot.“ Luka hat Erfahrung mit solchen Situationen. Er sei regelmäßig mit Suizidandrohungen konfrontiert, passiert ist jedoch noch nie etwas, erzählt er. Auch, weil Luka weiß, wie er mit labilen Personen umgehen muss: Für Michi rief er den Krankenwagen, der sie in die Psychiatrie brachte. Mittlerweile ist sie zurück im „Lighthouse“.  

Junkies sind keine leichten Klienten. Leiter Christian beschreibt seine Tätigkeit als Sisyphusarbeit. Viele werden rückfällig, erzählt er: „Der Unterschied zwischen mir und Sisyphus ist, dass die Hölle bei mir irgendwann endet. Schließlich gehe ich irgendwann in Pension.“ Christian hat eine Leidenschaft, die er als Ausgleich zu seiner Sisyphusarbeit sieht: Die Oper. Vor allem „Tosca“ hat es ihm angetan. Im Stück sterben alle drei Hauptpersonen, aber die Schauspieler genießen am Ende den tosenden Applaus: „Sie stehen wieder auf, nachdem sie gestorben sind. Das ist eine schöne Abwechslung.“