Angela Merkel: Tränen und Pflaumenkuchen
Angela Merkel hat geweint. Vor den Männern ihrer und anderer Parteien. Und erzählt auch noch davon. Solche Gefühlsausbrüche scheinen angesichts der konsequenten Besonnenheit und unerschütterlichen Stabilität, die die frühere Physikerin während ihrer gesamten politischen Karriere ins Licht der Öffentlichkeit rückte, fast undenkbar. Als sie sich als junge Umweltministerin im Kampf um ein großräumiges Fahrverbot wegen zu hoher Ozonwerte weit hinauslehnte, stieß sie im Alter von 41 Jahren anfangs auf einen solch massiven Widerstand, den sie dann doch mit Gefühl zu zerbrechen wusste: „Da bin ich sogar im Kabinett in Tränen ausgebrochen. Es war so, dass der Sommer immer näher kam. Trotzdem sollte ich in eine weitere Abstimmungsrunde geschickt werden, um wieder mit Gott und der Welt zu sprechen. Ich wusste genau, wie das ausgeht. Ich hätte vielleicht besser wie viele Männer geschrien und nicht geheult, aber im Grunde war es das, was man sonst bei mir ja häufig vermisst, ein emotionaler Ausbruch. Ich habe einfach klar gemacht, dass das Thema, wenn wir jetzt nicht handeln, vergeigt ist. Letztlich hat der emotionale Ausbruch zum Durchbruch geführt, weil ich ohne den kleinen Eklat wahrscheinlich keine Mehrheit bekommen hätte.“
Als ich drei war, zogen wir nach Templin. Ganz in der Nähe befand sich eine Anstalt für geistig behinderte Kinder und Erwachsene. In ihrer Nachbarschaft aufzuwachsen, war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich habe damals gelernt, mit Behinderten normal umzugehen. Die wurden in der DDR-Zeit unsäglich schlecht behandelt. Es gab keine pflegerischen Erfahrungen in den 1960er-Jahren. Ich habe noch Bilder in meinem Kopf – einige mussten ständig angebunden auf Bänken sitzen.“
Der deutschen Fotografin Herlinde Koelbl vertraute die Frau, die schon als junger Mensch darunter litt, für „traurig, trocken und spröde gehalten zu werden“, noch viel mehr Dinge an, die sie keinem Medium während ihrer 16-jährigen Amtszeit als erste Bundeskanzlerin in der Geschichte Deutschlands je preisgegeben hätte. Dabei waren die intimen Gespräche nur die erfreulichen Nebenprodukte einer 30 Jahre währenden Fotobeziehung, die Merkel 1991, damals noch mit dem Etikett „Helmut Kohls Mädchen“ subtil diskriminiert, mit Koelbl eingegangen war.
Eine wichtige Erfahrung war, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen kann. Auf mich selbst und meinen Instinkt.“
Man darf nicht einerseits den gleichen Anteil an Entscheidungen wie die Männer fordern und sich andererseits ducken, wenn es hart auf hart geht und der Wind zu blasen beginnt.“
Damals war Merkel die frisch gebackene Familienministerin und 36, die Fotografin 52 Jahre alt. Koelbl, die große fotografische Menschenerkunderin, die mit Fotos von Männern beim Orgasmus, Deutschen in ihren Wohnzimmern und Schlafzimmern, Frauen in Beziehungsarbeit mit ihren Körpern oder einer großen Reihe jüdischer Porträts ein facettenreiches Archiv deutscher Wirklichkeit schuf, startete damals gerade ihr Langzeitprojekt „Spuren der Macht“. Über ein Jahrzehnt fotografierte sie Gesichter von Persönlichkeiten in hohen Positionen, wie auch Merkels langjährigen Widersacher Gerhard Schröder und wollte damit zeigen, wie Macht ein Gesicht modelliert, verändert, aber auch, wie sich die Körpersprache mit den Jahren verwandelt. Über Schröder, der sich bekanntermaßen trotz seiner Wahlschlappe gegen Merkel 2005 noch wie „ein brünftiger Elch“ (Alice Schwarzer) benahm und sie zuvor gerne öffentlich, vor allem in ihrem Amt als Umweltministerin, abwertete, äußerte sich Merkel bereits ein Jahrzehnt, ehe sie ihm das Kanzleramt abspenstig machen konnte, ungewohnt angriffslustig zu Koelbl: „Das war schon etwas armselig. Er ist mit allem, was wir zur Atommüllentsorgung verhandelt hatten, sofort an die Öffentlichkeit gegangen. Da fühlt man sich natürlich bloßgestellt. Als ich ihm dann gesagt habe, ich hätte den Eindruck, er besäße überhaupt kein Verhandlungsmandat seiner Partei (…), hat er mir wieder über die Öffentlichkeit mitgeteilt, ich sei zu Verhandlungen nicht in der Lage. Das ist billige Polemik. Es ist von ihm auch nicht souverän, sondern eher kaltschnäuzig. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn irgendwann genauso in die Ecke stellen werde. Ich brauche dazu noch Zeit, aber eines Tages ist es so weit. Darauf freue ich mich schon.“
Wenn ich dann plötzlich drei Wochen Urlaub habe, spüre ich schon nach zwei Tagen gewisse Entzugserscheinungen.“
Das Wochenende beginnt im Allgemeinen am Sonnabend um 17 Uhr und endet Montag früh. Ich kann doch nicht ständig völlig erschöpft nach Hause kommen. Genauso wie ich an seinem (Anm. Joachim Sauers) Leben Anteil nehmen will, möchte ich auch, dass er an meinem Leben Anteil nimmt.“
Sie sollte recht behalten. Und dabei noch ein souveränes Führungscharisma entwickeln, das mit niemandem zu vergleichen ist: Die erste Frau im Kanzleramt, evangelisch, geschieden, eine Ossi, die noch dazu länger als jeder ihrer Vorgänger (abgesehen von ihrem früheren Chef Helmut Kohl, der auch 16 Jahre durchhielt) im Amt blieb und als erster Mensch in dieser Position das Amt auch aus freien Stücken wieder verließ – „weil sie kein halbtotes Wrack“ sein wolle, wenn sie aus der Politik aussteigt.
Aber ein Kind würde nach meinem Verständnis bedeuten, dass ich die Politik aufgebe. Das ist aber zurzeit kein Thema. Vielleicht wird es auch keines mehr.“
Vielleicht genoss ich ja anfangs allgemeines Wohlwollen als deutsche Ministerin, so nach dem Motto: Der wollen wir nichts tun, die ist ja selber auch nicht so aggressiv. Aber diese Schonzeit ist jetzt vorbei.“
Koelbl hält Merkels analytischen Verstand, den sie in ihrer Zeit als Physikerin in der DDR schulte, für eine Eigenschaft, die ihren Langzeiterfolg und ihr Durchhaltevermögen auch wesentlich mitbegründet: „Sie denkt langfristig, sehr analytisch und hat ihr Ego völlig unter Kontrolle – im Gegensatz zu vielen Männern in diesen Machtsphären hat sie sich nie in den Vordergrund gedrängt und agiert völlig uneitel. Eitelkeit entspricht einfach nicht ihrem Wesen, sie sieht Politik vor allem als Verantwortung.“ „Wie unter einer Tarnkappe“, so beobachtete die Fotografin ihr „Objekt“, habe Angela Merkel in den ersten Jahren ihrer politischen Laufbahn in der damals noch stark von Männern dominierten Welt agiert: „Die bemerkten nicht ihren Ehrgeiz, unterschätzten sie, nahmen sie manchmal nicht ernst.“ Sie witterten keine Gefahr, Angela Merkel war ja nur Helmut Kohls „Mädchen“: „Das war ihr Schutz. Und ihr Ego zeigte sich nach außen nicht verletzt. Sie verhielt sich wie eine exzellente Schachspielerin, analysierte und lernte.“
Vielleicht bin ich einfach abgestumpfter. Bei so vielen Extremsituationen stumpft der Mensch ab. Man muss Überlebensstrategien entwickeln.“
Ich gehöre nicht zu den am härtesten gesottenen Politikern, aber ich weiß, dass ich durchkomme.“
Was die Politik angeht, spielt mein Lebensgefährte eine ganz wichtige Rolle schon dadurch, dass er mir mitteilt, wie eine bestimmte Entwicklung oder eine bestimmte Entscheidung auf einen normalen Menschen wirkt. Davon abgesehen, gibt mir unsere Beziehung natürlich eine Sicherheit. Früher, in der Wissenschaft, habe ich den ganzen Tag fast gar nichts gesagt, weshalb ich abends immer plaudern gehen musste. Heute ist das viele Sprechen mein Problem. Da ist es sehr wichtig, einmal gar nichts sagen zu müssen und trotzdem mit jemandem zusammen zu sein.“
Ein Auto und einen Fahrer zu haben, ist schon eine sehr schöne Sache, weil man nicht unentwegt Parkplätze suchen muss.“
Ich kann kurzzeitig mal mit wenig Schlaf auskommen. Aber ich habe gewisse kamelartige Fähigkeiten, das heißt, ich muss dann auch wieder auftanken.“
Im profil-Interview erinnert sich Koelbl an ihre erste Begegnung mit Merkel, die damals im Kabinett Kohl das Amt der Jugend- und Familienministerin bekleidete. Es war 1991 in Bonn: „Da war sie noch etwas ungelenk, ja scheu, blickte von unten in die Kamera und wusste nicht so recht, was sie mit ihren Armen und Händen machen sollte. Das hat sich natürlich später verändert. Anfangs war ihr das Fotografiert-werden spürbar lästig. Eine gewisse Verlegenheit hat sie dabei auch über die Jahre nicht verloren. Zu Beginn des Projekts kam ihr auch die Idee, damit erst in zehn Jahren oder noch später in einem Buch vorzukommen, regelrecht absurd vor. Man müsse doch täglich besser in den Zeitungen stehen, war ihre Überzeugung. Über die Jahre hat sie sich daran mit einem gewissen Wohlwollen gewöhnt und ihre Mitarbeiterinnen sogar immer gefragt: „War denn Frau Koelbl in diesem Jahr noch gar nicht da?“ Sie hat dann akzeptiert, dass das Sichtbarsein Teil ihres Berufs ist. Angela Merkel hat die Kameras nie geliebt.“
Natürlich macht man sich bestimmte Schablonen zu eigen, damit nicht jeder einem alle Gefühle an der Nasenspitze ansieht.“
Ich bin ein bisschen menschenscheu geworden. Manchmal gehe ich nach Hause, weil ich nicht will, dass wieder alle gucken.“
Stimmt die Legende, dass die mächtigste Frau der westlichen Welt ihren Gästen im Kanzleramt schon einmal höchstpersönlich den Filterkaffee einschenke? – „Ich war immer sehr konzentriert auf meine Arbeit, da blieb keine Zeit für Kaffeetrinken, vor allem als sie Kanzlerin wurde, da wurde die Zeit immer knapper. Aber es dürfte tatsächlich stimmen, wie mir einige Leute erzählt haben. Ich hatte immer, nicht nur bei Merkel, bei allen Teilnehmern, ein ganz einfaches Setting: eine weiße Wand, ein Stuhl, keine Machtsymbole sollten vom jeweiligen Gesicht und den Veränderungen, dem es seit den letzten Porträts ausgesetzt war, ablenken.“ Auch jegliche Form von Anweisungen, wie sich jemand zu verhalten oder zu sitzen habe, gab es nicht. Maximal ein „Schauen Sie bitte mit einem offenen Blick in die Kamera“, bloß kein Posieren. Bei der ersten Session kommentiert die damals 37-jährige Politikerin etwas spröde: „Ich fühle mich hier weder besonders sicher, noch finde ich, dass ich besonders bequem sitze.“
Ich bin immer wieder verwundert, dass ich für traurig, spröde und trocken gehalten werde. Eigentlich rede und lache ich doch sehr viel und habe das auch immer getan.“
Ich werde auch besser im Pokern. Früher war ich etwas zu vertrauensselig und habe jedem von meinen Plänen erzählt. Aber Erfahrung macht klug.“
Die Raute, die charakteristische Handhaltung der Merkel, erschien zum ersten Mal spontan 1998 bei einem Fotoshooting, um diese Zeit hatte sich auch der sonstige Habitus verfeinert: „Ihr Blick wurde direkter, sie hob die Schultern, wusste Stand- und Spielbein besser einzusetzen.“ Wie ist die Geste der Raute körpersprachlich zu deuten? – „Sie ist die ideale Haltung, um lange Reden zu überstehen. Die Daumen aneinandergelegt, bleibt der Körper in Spannung, die Schultern fallen nicht nach vorn. Man wirkt zuhörend interessiert. “ Coaches und Stylisten hat Merkel nie beschäftigt: „Ihre Authentizität ist durch und durch echt. Und sie ist wirklich uneitel. Erst als sie Kanzlerin wurde, hatte sie eine Visagistin. Die Jahre davor kam sie immer ungeschminkt zu den Aufnahmen. Mit der Kanzlerschaft wurden auch die Blazer immer bunter.” Möglicherweise war der Grund, dass sie so in Gruppenfotos besser heraussticht. Ein Trick, den die Königin von England seit Jahrzehnten praktiziert. Noch etwas Außergewöhnliches prägte die Zusammenarbeit: „Frau Merkel hat nie darauf bestanden, sich die Fotos, die ich verwenden wollte, vorlegen zu lassen. Auch darin war sie einzigartig. Und dafür bin ich sehr dankbar.“
Ob ich hart gesotten bin, weiß ich nicht, aber meine größte Sorge ist, dass man immer verschlossener wird. Ich kann heute starr nach außen gucken und nicht jedem zeigen, was ich gerade denke. Eigentlich wollen die Leute ja offene, liebevolle, menschliche Politiker, aber dann auch wieder nicht. Sie wollen ja gar nicht sehen, wenn man Angst oder Sorgen hat oder mal etwas nicht weiß. Ich finde es bedauerlich, dass bei Politikern eher das schablonenhafte Produkt gefragt zu sein scheint.“
Wenn ich immer gleich eingeschnappt wäre, könnte ich keine drei Tage Bundeskanzlerin sein.“
Die physischen Herausforderungen des Amtes manifestierten sich in ihrem Gesicht. Besonders im Jahr 2015, in dem der Merkel-Sager „Wir schaffen das“ das Land polarisierte, zeigten sich die Spuren extremer Belastung: „Weil dieses Jahr so bedeutsam für die Ära Merkel war, habe ich dieses Foto für den Titel des Buches gewählt.“ Mit „kamelartigen Fähigkeiten“, wie Merkel das selbst bezeichnet, also Schlafen und Entspannung auf Proviant nach Stressphasen, war sie in der Lage, sich wieder zu erholen. In der Uckermark in der ehemaligen DDR hat sie eine „Datscha“, die sie vor den Medien zu schützen wusste. Beim Wandern in den Bergen war sie, so Koelbl, ganz bei sich selbst: „Sie hatte als Kind Schwierigkeiten, laufen zu lernen, nannte sich einen „Bewegungsidioten“, deswegen ist das Schrittesetzen für sie wahrscheinlich auch so wichtig.“ Merkel besitze auch ein völlig anderes Zeitempfinden: „Dadurch, dass ihr ganzer Tag mit Terminen durchgetaktet ist, veränderte es sich. Sie erzählte mir: „Wenn ich zwei Stunden bei meinen Eltern bin, dann denke ich, du meine Güte, ist das eine lange Zeit, während es für meine Geschwister gerade losgeht.“
Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Über die Frage meines Vermächtnisses müssen sich andere Gedanken machen.“
Ich glaube, dass wir immer wieder bereit sein müssen, Dinge zu beenden, um den Zauber des Anfangens zu spüren und Chancen wirklich zu nutzen. Und wer weiß, was für mich nach dem Leben als Politikerin folgt? Es ist völlig offen.“
In den Gesprächen bekam der Pflaumenkuchen eine besondere Bedeutung. Viele Jahre stellte Koelbl immer die Frage: „Und? Haben Sie Ihren Pflaumenkuchen gebacken?“ Der Kuchen war das Symbol dafür, dass Merkel sich noch so etwas wie Normalität gönnen konnte. Wenn es „Blässlinge“ wurden, ärgerte sie sich. Wenn sie die Reifezeit verpasst hatte, noch viel mehr: „Plötzlich musste ich Mitte Oktober feststellen, dass die Pflaumenzeit vorbeigegangen war, ohne dass ich einmal dazu gekommen wäre, einen Kuchen zu backen.“ Im August dieses Jahres kam es nach 30 Jahren zum letzten Foto-Rendezvous im Bundeskanzleramt, Wehmut machte sich nach der Hochkonzentration für das Bild breit. Herlinde Koelbl ist überzeugt, dass „Angela Merkel sich jetzt einmal zurückziehen wird, aber verschwinden – verschwinden wird sie ganz sicher nicht“.