Anna Kiesenhofer und Elon Musk: Zwei Menschen des Jahres
Menschen in Magazinartikeln zum Jahresausklang: Das sind natürlich Menschen, von denen man etwas lernen können soll, im Guten wie im Schlechten, die Vorbilder sind oder abschreckende Beispiele, Menschen also wie Anna Kiesenhofer, 30, aus Niederkreuzstetten in Niederösterreich, von Beruf Spitzensportlerin, oder Elon Musk, 50, aus Pretoria in Südafrika, wohnhaft in Texas und Kalifornien, wo er eine Autofirma und ein Raumfahrtunternehmen betreibt. Tatsächlich kann man gerade von diesen beiden Menschen erstaunlich viel lernen, und eigentlich auch lauter Dinge, die man fürs Leben in dieser Gegenwart und kommenden Zukünften gut brauchen kann. Wobei interessanterweise eine ganz ähnliche gemeinsame Grundlage in zwei völlige verschiedene Richtungen führt. Sagen wir so: Frauen gewinnen in Tokio, Männer schießen sich zum Mars.
Die Basis, von der aus sie das machen, ist aber offenbar dieselbe: ein ziemlich ausgeprägter Eigensinn. Die österreichische Radrennfahrerin und der kalifornische Hightech-Milliardär bauen beide auf einem sehr konsequenten Nonkonformismus. Anna Kiesenhofer hat, abseits aller sportbehördlichen Strukturen, ohne die eigentlich von Amts wegen zuständigen Trainer, Berater und Funktionäre ihr eigenes sportliches Erfolgsrezept entworfen und verwirklicht - und wie sie das getan hat, in einem von der ersten Sekunde an perfekt durchchoreografierten, durchwegs spektakulären Olympia-Radrennen, dessen Ergebnis sie am Ende selbst am allerwenigsten glauben konnte (abgesehen vielleicht von der zweitplatzierten Fahrerin, der hoch favorisierten Annemiek van Vleuten, die es nun wirklich überhaupt nicht glauben konnte); wie sie das also alles getan hat, wird Anna Kiesenhofer noch eine Sonderstellung in der österreichischen Sportgeschichte sichern, wenn die Menschheit schon längst am Mars gelandet ist.
Elon Musk hingegen hat sich vor einigen Tagen die Haare schneiden lassen: Undercut mit welligem Deckhaar, nicht mehr ganz modern, leider auch nicht so ganz gut gelungen, im Internet entsprechend heftig belächelt. Es war längst nicht die einzige exzentrische Entscheidung, die der reichste Mensch der Erde in diesem Jahr getroffen hat, und möglicherweise nicht die folgenschwerste, aber doch auch ein wenig bezeichnend. Denn Elon Musk ist, und das ist sein großes Asset (abgesehen von ungefähr 260 Milliarden US-Dollar): anders. Anders als die handelsüblichen Geschäftsführer seiner Branche und Preisklasse. Anders sogar als die meisten Menschen, die man so kennt.
Und da hören sich die Gemeinsamkeiten mit Anna Kiesenhofer auch schon wieder auf.
Der Hamburger "Spiegel" widmete Musk jüngst eine Titelgeschichte, in der "der Überflieger" und "globale Wirtschaftspopstar" wie folgt beschrieben wurde: "Er ist die personifizierte Wiederentdeckung des Fortschritts, in einer Zeit, in der die Menschheit daran zweifelt, ob es so etwas wie eine bessere Zukunft überhaupt noch geben kann." Leider zahlt die Menschheit keinen kleinen Preis für diese Musk'sche Zukunft. Der Tesla-Chef entfaltet seine Sonderlichkeit nämlich durchaus auch auf Kosten seiner Mitmenschen - nicht nur jener, die er seinen 65 Millionen Followern auf Twitter zum Abschuss freigibt, was er leider mit unschöner Regelmäßigkeit macht. Auch im Management und in der Produktion seiner Unternehmen soll es öfter einmal zu hässlichen Szenen kommen. Der Visionär hält sich halt nicht gern mit menschlichen Schwächen auf. Trotzdem gilt Musk als Vorbild. So anders kann ein Unternehmer gar nicht sein, als dass die alten kapitalistischen Vorurteile auf ihn nicht angewendet würden: Wer so viel Geld hat, muss irgendetwas richtig machen.
Elon Musk, Sohn von Errol und Maye Musk, ist ein Bücherwurm und Computernerd von früher Jugend an, ein großer Fan von Fantasy und Science-Fiction, und wohl auch von zeitgeschichtlicher Literatur. Erst kürzlich informierte er auf Twitter über seine Freude an den Büchern Ernst Jüngers. Dass Elon Musk die Welt, wie wir sie erleben, für die Illusion einer höheren künstlichen Intelligenz hält, wissen seine Anhänger schon länger, dass er im Zweifel auch sich selbst als höheres Wesen einstuft, darf angenommen werden. Seine ganz private Kryptowährung ist die Rücksichtslosigkeit, mit der er denkt und handelt, und das Praktische ist: Er schürft das Zeug ganz umweltfreundlich aus sich selbst.
Elon Musk spielt Leben
Im Verlauf seiner Karriere hat Musk mehrere zeitgemäße Erzählstränge miteinander verwoben: das Durch-Fehler-stärker-Werden der kalifornischen IT-Folklore, das Die-Welt-mit-Technik-Retten des modernen Ingenieurswesens und das Was-kostet-die-Welt des klassischen James-Bond-Bösewichts: Elon Musk spielt Leben, er spielt es mit hohem Einsatz und hat dabei einen großen Vorteil: Wenn er verliert, kauft er sich einfach ein neues Casino.
Musk, der mit der Gründung und dem Verkauf des Online-Branchenregisters Zip2 und des Zahlungsdienstleisters PayPal früh reich wurde, gründete das Raumfahrtunternehmen SpaceX im Jahr 2002 und stieg 2006 bei dem Elektroauto-Hersteller Tesla ein. Zwei Jahre später erreichte er seinen persönlichen Wendepunkt: Im Herbst 2008, die Investmentbank Lehman Brothers stand unmittelbar vor dem Kollaps und die Welt vor der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, stürzte die dritte SpaceX-Rakete in Folge ins Meer (an Bord befand sich unter anderem die Asche von James Doohan alias Scotty aus "Star Trek"). Tesla war zu dem Zeitpunkt am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Musk biss die Zähne zusammen, ordnete noch einen weiteren, letzten Raketenstartversuch an (der schließlich gelang) und überzeugte seine Investoren, ihrerseits noch ein bisschen durchzuhalten. Ein halbes Jahr später präsentierte er den Prototyp des Tesla Model S.
"Extremer, außerirdischer Kapitalismus"
So gehen moderne Heldensagen. Deren Held ist zu mindestens 60 Prozent Ingenieur und zu 100 Prozent Unternehmer - einer, der etwas unternimmt, indem er die Welt verändert. Elon Musk macht das nicht nur - wie seine Kollegen im Silicon-Valley-Olymp - mit digitalen Produkten, sondern mit Dingen aus Blech und Plastik, mit Autos und Raketen. Bubenträume werden Wirklichkeit. Leider werden sie dabei auch Teil der Heldenerzählung. Elon Musk gefällt sich sehr gut in der Rolle des infantilen Internettrolls, der die Welt mit irreführenden Börsentipps und schlecht gezeichneten Memes aufs Korn nimmt. Message Control? Für Anzugträger. Die US-amerikanische Historikerin Jill Lepore schrieb in dem Zusammenhang von "Muskismus". Es handle sich um einen "extremen, außerirdischen Kapitalismus, in dem Börsenkurse weniger von Einnahmen abhängen als von Fantasievorstellungen aus der Science-Fiction". Die Oligarchen dieses Muskismus verstehen sich als Retter der Welt. Aber für diese Mission brauchen sie leider ihr ganzes Geld selber und mögen deshalb lieber keine Steuern zahlen. Solidarität oder Toleranz ist in dieser Ideologie nicht so wichtig, es geht um Spektakel und Aufmerksamkeit (und natürlich immer auch um Börsenkurse).
Ein Sieg der Unangepasstheit
Es geht natürlich auch ganz anders. Es geht leiser, freundlicher, ohne Gerempel. Es geht, mit einem Wort: besser. Im Grund ist Anna Kiesenhofer womöglich nicht so viel anders gestrickt als Elon Musk: ziemlich eigensinnig, rationalistisch geprägt und sehr konsequent in der Umsetzung ihrer Ziele. Und damit auch nicht weniger erfolgreich. Olympiasieg -mehr geht ja nun wirklich nicht. "Ein Märchen in Gold" sah die "Kronen Zeitung" nach Kiesenhofers Triumph in Tokio, profil schrieb "über ein Märchen, dem das Geld nichts anhaben kann". Das Fachmagazin "Cyclingnews" feierte Kiesenhofer als "anti-authoritarian mastermind of her own Olympic glory". Tatsächlich hat sie schon in ihrer ersten Pressekonferenz als Olympiasiegerin sehr schön beschrieben, wie wichtig es sei, eben nicht auf die angeblichen Auskenner zu hören, sondern das eigene Gehirn zu verwenden: "Ich bin keine Radfahrerin, die nur in die Pedale tritt. Und ich bin stolz darauf." Anna Kiesenhofers Olympiasieg war auch ein Sieg der Unangepasstheit.
Die Heldenrolle spielt sie freilich weiterhin nur widerstrebend. Anna Kiesenhofer ist kein raumgreifender Mensch, sie drängt die eigene Person nicht in den Vordergrund. Das hört man sogar durchs Telefon. profil erreicht Anna Kiesenhofer Ende November in Lausanne, wo sie lebt und - an der École Polytechnique Fédérale - Mathematik lehrt, wenn auch neuerdings nur mehr in Teilzeit. Die Aufmerksamkeit, auch die finanzielle, nach dem Olympiasieg hat neue Perspektiven eröffnet, darunter die, zumindest bis Olympia 2024 tatsächlich Profisportlerin zu sein. Weshalb sie ihre Forschungstätigkeit an der Universität vorübergehend stillgelegt und die Lehre auf eine einzige Vorlesung reduziert hat. Leicht sei ihr diese Entscheidung nicht gefallen, sagt Anna Kiesenhofer, so wie es ihr auch nicht leicht gefallen ist, sich selbst in den ersten postolympischen Medienberichten wiederzuerkennen. "Ich wurde ja wie ein Genie dargestellt, das gleich in zwei Bereichen Weltklasse sei, im Sport und in der Wissenschaft. Als hätte ich das alles perfekt gemeistert und wäre ein Naturtalent in beiden Bereichen. Aber im wahren Leben ist dieser Spagat natürlich immer mit Kompromissen verbunden. Ich selbst sehe mich als Mensch mit allen Einschränkungen."
Auch die Einzelkämpferinnen-These sei, aus der Nähe betrachtet, nur ansatzweise haltbar. "Natürlich hatte ich kein offizielles Team, aber es ist auch nicht so, dass ich alles selbst erfunden habe. Ich habe immer viel Hilfe bekommen von Leuten, vielleicht nicht von den offiziellen Leuten, nicht von denen, die man als dafür zuständig ansehen würde. Ich hatte eben meine privaten Unterstützter. Das ist nicht alles auf meinem Mist gewachsen." Es verläuft tendenziell ein Graben zwischen Außenansicht und Innenperspektive, so viel lässt sich ganz nüchtern feststellen: "Seit Tokio erwarten ja einige, dass ich überall gewinne. Aber, ganz ehrlich: Die Leute, die das erwarten, die kennen sich halt nicht aus. Das hat einfach nicht Hand und Fuß. Trotzdem ist es auch für mich selbst nicht so einfach, mit diesen Erwartungshaltungen umzugehen. Ich bin ja durch Tokio nicht ein anderer Mensch geworden, von meiner Leistungsfähigkeit her. Meine Genetik hat sich nicht verändert. Man muss da schon auch auf dem Boden bleiben."
Andererseits ist Anna Kiesenhofer, die Fragen vorzugsweise schnörkellos und gründlich beantwortet, auch nicht falsch bescheiden: "Ich bin eigentlich zufrieden mit meinem Leben, insofern habe ich vielleicht doch einiges ganz richtig gemacht. Man darf sich halt nicht zu sehr an Vorbilder klammern, die durch ihren Erfolg am Papier definiert sind, durch einen Doktortitel zum Beispiel oder ein Olympiagold. Man muss Ziele finden, die für einen selbst wertvoll sind und sollte sich nicht zu sehr daran messen, was in der Gesellschaft als wertvoll gilt. In der Forschung kann man den Erfolg auch im reinen Wissenserwerb finden und nicht erst im Doktortitel, im Sport können kleine Ziele die Motivation geben und nicht ein Olympiasieg, der ja sowieso sehr unwahrscheinlich ist."
Ja, man kann von Anna Kiesenhofer tatsächlich viel lernen. Über partielle Differenzialgleichungen und darüber, wie man Selbstbewusstsein, Zielstrebigkeit und Realitätssinn miteinander vereint. Und man muss dafür nicht einmal die Erde verlassen. Echter menschlicher Fortschritt ist keine Raketenwissenschaft.