Aufstieg und Fall eines Wüstlings

Revolution. Ende der arabischen Diktatoren

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Der arabische Diktator ist nicht mehr. Er hat die Welt 2011 nach jahrzehntelang verursachtem Leid bei scheinbar bester Gesundheit plötzlich, unerwartet und unfreiwillig verlassen.

So könnte ein Nachruf beginnen, der den wohl wichtigsten Abgang des abgelaufenen Jahres würdigt. Wobei gegen den ersten Satz zunächst zweierlei einzuwenden wäre: erstens, dass es den arabischen Diktator nicht gab, sondern gleich ein halbes Dutzend davon.

Zine El Abidine Ben Ali, Tunesien
Hosni Mubarak, Ägypten
Muammar al-Gaddafi, Libyen
Ali Abdullah Saleh, Jemen
Bashir al-Assad, Syrien
Abdelaziz Bouteflika, Algerien

Zweitens müsste man wohl noch entgegnen, dass von den Genannten bislang nur die ersten vier bereits entmachtet wurden, während sich die letzteren beiden noch in Amt und Unwürden befinden.

Dennoch: Die sechs Herren haben so viel gemeinsam, dass es durchaus angebracht ist, sie als Sonderfall der Geschichte zu beschreiben, dessen Zeit unwiderruflich abgelaufen ist.

Es sind nicht nur sehr ähnliche, vom Postkolonialismus geprägte Herkunfts- und Lebensgeschichten, die sie miteinander verbinden. Was den arabischen Diktator im Besonderen ausmacht, ist auch sein durch regionale Clankultur geschärfter Familiensinn, der ihn zur Bildung besonders ausgeklügelter Kleptokratien befähigte, zudem seine Verwurzelung im Militär und, zumindest anfänglich, sein Hang zum arabischen Sozialismus – und schließlich, besonders wichtig, sein verlässlicher Laizismus: Dass er sich nach außen als Garant gegen die Islamisierung andiente, verschaffte ihm spätestens nach den Anschlägen von 9/11 genügend Unterstützung, um seine nach innen bereits brüchig gewordene Langzeitherrschaft noch ein paar Jahre abzusichern.

Zu nennen sind aber auch die Unterschiede, die ihn gegenüber anderen Despoten herausheben: Im Gegensatz zu seinen schwarzafrikanischen Kollegen konnte er sich auf stabile Staats- und Behördenstrukturen, effiziente Sicherheitsapparate und vergleichsweise ausdifferenzierte Wirtschaftssysteme stützen – was ihm diffizile Möglichkeiten eröffnete, Gegner zu unterdrücken und Gefolgsleute zu begünstigen. Von den zentralasiatischen Autokraten trennte ihn, dass er sich nicht aus dem Erbe einer zerfallenen Supermacht bedienen konnte und auch (Gaddafi einmal ausgenommen) keinen Zugriff auf Rohstoffreserven hatte. Und im Vergleich mit den Königshäusern in seiner unmittelbaren Nachbarschaft mangelte es ihm an monarchisch begründeter Legitimität, die Letzteren vorerst noch einen Aufschub vor offener Revolte zu gewähren scheint.

Naturgemäß sind Ben Ali, Mubarak, Assad, Saleh, Bouteflika und vor allem der verhaltensauffällige Gaddafi nicht ganz auf einen Nenner zu bringen – auch nicht, was das Ausmaß an Grausamkeit und Repression anlangt. Folgt man ihren Lebenswegen und vergleicht man die von ihnen angewandten Methoden von Machtergreifung und -erhalt, ergibt sich aber das schlüssige Porträt eines ganz besonderen Typus des Gewaltherrschers.
Das ist seine Geschichte.

I. Eine Kindheit in kleinen Verhältnissen

Die Macht wird ihm bei der Geburt nicht in die Wiege gelegt: Er stammt aus einer von traditionellen Strukturen geprägten Umgebung auf dem Land, in der das moderne 20. Jahrhundert noch nicht spürbar angekommen ist. Zunächst will es die Legende, dass Zine El Abidine Ben Ali in der alten tunesischen Festungsstadt Monastir zur Welt kam, so wie Habib Bourguiba, der erste Präsident Tunesiens. Tatsächlich wird der kleine Zine als viertes von elf Kindern 1936 in einem Dorf nahe der Mittelmeerstadt Sousse geboren. Sein Vater arbeitet als Hafenwärter, die Mutter besitzt ein paar Olivenbäume. Die Großmutter soll dem kleinen Buben sehr zugetan gewesen sein, und der Traum der Familie war es, dass er die Laufbahn eines Lehrers einschlägt.

Allerdings schafft es der spätere Diktator nicht bis zur Matura, was ihm den Spitznamen „Bac moins trois“ (Matura minus drei) einträgt. Kühn behauptet Ben Ali später in einem Interview mit dem französischen Magazin „Nouvel Observateur“, er habe Rechtswissenschaften studiert. In diversen Hagiografien wird von großen Taten des jungen Ben Ali im Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreich berichtet, wofür es allerdings keinerlei Belege gibt. Seine Karriere beginnt erst, nachdem Tunesien 1956 die Unabhängigkeit erlangt hat. Nationalistische Offiziere organisieren die Ausbildung von Soldaten in der französischen Militärakademie von Saint-Cyr und rekrutieren dafür zunächst Maturanten. Weil es davon nicht genügend gibt, werden auch junge Männer wie Ben Ali, ausgesucht von der Sozialistischen Partei, für einen Schnellsiedekurs aufgenommen. Ben Ali besucht die Schule gemeinsam mit seinem Freund Habib Ammar, der später den Sturz von Präsident Bourguiba betreiben wird.

Ali Abdullah Saleh: * 21. März 1942. Sohn eines Stammesführers. Keine Schulbildung.

Muammar al-Gaddafi: * Juni 1942. Sohn eines Beduinen in Qasr Abu Hadi, einem Dorf in der Nähe von Sirte. Schloss eine weiterführende Schule ab.

Hosni Mubarak: * 4. Mai 1928. Sohn eines Justizbeamten in Kahel-el-Meselha, einem Dorf im Nildelta. Hochschulabschluss.

Bouteflika: * 2. März 1937. Sohn eines Emigranten in Marokko. Ausbildung zum Lehrer.

Bashir al-Assad: * 11. September 1965. Sohn des syrischen Diktators Hafis al-Assad, der aus einer bitterarmen Familie im Westen Syriens stammt. Hafis schloss eine weiterführende Schule ab, Bashir das Medizinstudium.

II. Eine Militärlaufbahn

Für einen wie ihn gibt es nicht viele Möglichkeiten, Karriere zu machen und sozial aufzusteigen. Sein Heimatland ist arm und agrarisch geprägt; wer sich verbessern will, verlässt das Dorf und zieht in die Stadt. Dort gibt es mit etwas Glück vielleicht einen Bürokratenjob zu ergattern. Oder man geht zur Armee, wie Hosni Mubarak. Er besucht die ägyptische Militärakademie, graduiert dort 1949 und wird anschließend unter anderem in der Sowjetunion zum Piloten ausgebildet.

Als solcher kann er sich bei zumindest einem Kampfeinsatz bewähren: Mubarak fliegt im jemenitischen Bürgerkrieg auf der Seite des kommunistischen Nordens, der zu dieser Zeit übrigens auch Saleh angehört. Am Jom-Kippur-Krieg gegen Israel nimmt er als Generalleutnant bereits in hochrangiger Position teil, dabei erwirbt er sich den Ruf eines Kriegshelden. Davon und vom guten Ruf der Armee als Schützerin der nationalen Identität, der Unabhängigkeit und der Stabilität wird er in der Folge jahrzehntelang profitieren.

Gaddafi: Royal Libyan Military Academy, danach Leutnant einer Pioniereinheit.

Ben Ali: École Spéciale Militaire de Saint-Cyr, Artillerieschule in Châlons-sur-Marne, Senior Intelligence School in Maryland und School for Anti-Aircraft Field Artillery in Texas. Danach Leiter der Spionageabwehr, Militärattaché in Marokko und Spanien, später Generaldirektor für Nationale Sicherheit.

Bouteflika: Kadettenschule in Dar El Kebdani, Marokko. Während des algerischen Unabhängigkeitskriegs Kämpfer in der Armée de Libération Nationale (ALN).

Saleh: Absolvent der Nordjemenitischen Militärakademie, später Militärgouverneur.

Assad: Zunächst keine militärische Ausbildung. Nach dem Tod seines Bruders Basil (Chef der Präsidentengarde), der ­eigentlich Vater Hafis (einen früheren Kampfpiloten und Luftwaffenoffizier) beerben sollte, im Schnellverfahren zum Offizier befördert.

III. Ein unblutiger Putsch

Mit dem Alten geht es nicht mehr – das Land ist von der Kolonialherrschaft befreit, aber der greise Monarch verweigert sich ­jeglicher Modernisierung, verbietet Parteien, Gewerkschaften und vor allem den arabischen Sozialismus, der mit reformerischen Ideen die Jugend begeistert: Das ist Ende der sechziger Jahre Muammar al-Gaddafis Meinung vom libyschen König Idris I.

1966 hat Gaddafi den „Bund freier Offiziere“ gegründet, der sich unter anderem auf den Panarabismus von Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser beruft. Ein Jahr später macht sich Idris bei den jungen Militärs doppelt unbeliebt, weil er sich im Sechstagekrieg weigert, dem benachbarten Ägypten gegen Israel beizustehen.

Als der König 1969 gesundheitlich angeschlagen das Land verlässt, um sich in der Türkei einer Kur zu unterziehen, sehen die freien Offiziere ihre Chance gekommen: Sie setzen den Monarchen in einem unblutigen Putsch ab und rufen die libysch-arabische Republik aus. Führer der Militärjunta, die nun das Land regiert, ist Gaddafi: Dienstgrad Leutnant, von jetzt an Oberst, 27 Jahre alt.

Er tritt als Reformer an, der mit Vetternwirtschaft und Korruption aufräumen will. Der Westen ist zunächst begeistert von dem jungen, attraktiven Revolutionsführer: Er sei modern, unbestechlich und nicht an persönlichem Reichtum interessiert, heißt es.

Saleh: 1978 mit 36 Jahren nach der Ermordung seines Vorgängers vom Parlament zum Präsidenten gewählt.

Mubarak: 1981 mit 53 Jahren nach der Ermordung von Präsident Anwar al-Sadat durch Islamisten zum Präsidenten ernannt.

Ben Ali: 1987 mit 51 Jahren durch einen „medizinischen Putsch“, bei dem sein Vorgänger per ärztlichem Attest für amtsunfähig erklärt wurde, an die Macht gekommen.

Bouteflika: 1999 mit 62 Jahren durch Unterstützung des Militärs als unabhängiger Kandidat zum Präsidenten gewählt.

Assad: 2000 mit 36 Jahren seinem Vater ins Präsidentenamt gefolgt.

IV. Ein Leben im Ausnahmezustand

Er ist jetzt an der Macht, aber das bedeutet nicht, dass er sich in Sicherheit wiegen könnte. Ganz im Gegenteil: Damit beginnt letztlich ein Kampf ums Überleben.

Als Bashir al-Assad die Führung der syrisch-arabischen Republik übernimmt, herrscht bereits viel Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Zuvor hat sein Vater Hafis al-Assad das Land 30 Jahre lang regiert – mit brutaler Unterdrückung, die durch einen bewährten Gesetzestrick legitimiert wurde: der zeitlich unbegrenzten Verhängung des Ausnahmezustands. Sie erlaubt es, ohnehin nur theoretisch existierende Bürgerrechte wegen einer angeblichen Bedrohung der staatlichen Ordnung auszuhebeln. So kann sich ein Diktator als verhinderter Demokrat gerieren. In Syrien herrscht der Ausnahmezustand seit der Machtübernahme durch die sozialistische Baath-Partei im Jahr 1963.

Bashir erbt vom alten Assad eine gut funktionierende Despotie: Nicht weniger als 15 Geheimdienste sorgen dafür, dass die Opposition nicht aufmucken kann. Gleichzeitig befinden sich die Eliten des Landes durch eine fein austarierte Begünstigungswirtschaft komplett in der Abhängigkeit des Regimes.

Stabil ist die Situation deshalb aber noch lange nicht, im Gegenteil. Je mehr Zorn sich gegen Repression und Korruption ansammelt, desto härtere Maßnahmen ergreift das System, um sich zu verteidigen. Das führt zu noch mehr Zorn, im Gegenzug zu noch mehr Brutalität und zu immer mehr Angst vor der Rache der Bevölkerung: ein Teufelskreis der Eskalation auf beiden Seiten, den auch der durchsichtige Versuch Assads, den Ausnahmezustand im April 2011 nach fast 50 Jahren aufzuheben, nicht durchbrechen kann.

Ägypten: Ausnahmezustand zwischen Juni 1967 und April 1980 beziehungsweise seit Oktober 1981.

Algerien: Ausnahmezustand zwischen Februar 1992 und Februar 2011.

Tunesien: Ausnahmezustand seit Jänner 2011.

Jemen: Ausnahmezustand seit März 2011.

Libyen: Kein formell verhängter Ausnahmezustand.

V. Eine wohltätige Ehefrau

Es ist ja nicht so, dass er kein Herz hätte. Aber er muss regieren, seine Herrschaft absichern, sein Land davor bewahren, ins Chaos zu stürzen, und da kann er es sich nicht leisten, eine Schwäche für Menschenrechte, Demokratie und andere Gefühlsduseleien zu zeigen.

Aber er hat eine Frau, die dafür zuständig ist. Sie tritt in der Öffentlichkeit als Gründerin und Präsidentin des Suzanne Mubarak International Peace Movement auf, das sich für „interkulturelles Verständnis, Empathie und menschliche Sicherheit“ einsetzt und zudem gegen Menschenhandel, für mehr Frauen in wichtigen Positionen und die Mobilisierung der Zivilgesellschaft eintritt. Auch die Brustkrebs-Bekämpfung gehört zu den Agenden des Vereins, der Nichtregierungsorganisationen bei ihrer Arbeit in Ägypten unterstützt.

Frau Mubarak wirbt für eine „Kultur der Toleranz“ und lässt sich dafür bei Kongressen und gemeinsamen Auftritten mit hochrangigen westlichen Politikerinnen feiern: Sie sitzt auf Podien neben Repräsentanten des UN-Kinderhilfswerks Unicef, der UN-Drogenbehörde oder von Interpol, trifft Politiker und Promis wie den Hollywood-Schauspieler Ashton Kutcher oder den Sänger Ricky Martin. Suzanne Mubarak sei eine arabische Frau, die in ihrer Gesellschaft „wirklich einen Unterschied gemacht und für andere Wichtiges bewegt“ habe, begeistert sich im Jahr 2008 etwa die damalige österreichische Außenministerin Ursula Plassnik für die Gattin des ägyptischen Diktators.

Ben Alis Ehefrau Leila gründete die Basma Association, eine NGO zur Unterstützung von Behinderten, und SAIDA, eine Krebshilfeorganisation. Engagierte sich bei den Vereinen S.O.S. Gammarth and El Karama für Waisenkinder und Menschenrechte und war Präsidentin der Arabischen Frauenorganisation AWO.

Assads Ehefrau Asma gründete die Behindertenhilfsorganisation Syrian Organization for the Disabled (AAMAL), das Kinder-Wissenschaftszentrum Children Discovery Center (MASSAR) sowie die Integrated Rural Development of Syria (FIRDOS) und den Syrian Trust for Development, die sich für die Förderung des ländlichen Raums einsetzen.

Gaddafis Tochter Aisha fungierte als Ehrenbotschafterin des UN-Entwicklungshilfeprogramms und setzte sich gegen Aids und die Unterdrückung der Frauen in der arabischen Welt ein. Sein Sohn Saif al-Islam leitete die Gaddafi International Foundation for Charity Associations. Die Ehefrauen Salehs und Bouteflikas, Asama und Amal Triki, treten nicht in der Öffentlichkeit auf.

VI. Eine geschäftstüchtige Verwandtschaft

Tunesien wird unter der Führung Ben Alis zu einem Familienunternehmen. Insgesamt sechs Kinder gehen aus seinen beiden Ehen hervor, dazu kommen die Verwandten seiner zweiten Gattin, der gelernten Friseuse Leila Trabelsi, die eifrig an dem Imperium mitarbeiten.

Glaubwürdige Schätzungen gehen davon aus, dass der Clan zu guter Letzt zwischen 30 und 40 Prozent der tunesischen Wirtschaft kontrolliert und in so gut wie allen wichtigen Branchen tätig ist. Ben Alis Töchter aus erster Ehe halten Beteiligungen an der pharmazeutischen Industrie, an Supermarktketten, am Mercedes-Import, an der Telekom, an der Arab International Bank of Tunisia und einigen weiteren Unternehmen. Leila ­Trabelsis Bruder verdient an Hotels, Zementfabriken und hält Anteile an der Karthago Airline und an der Bank of Tunisia. ­Verwandte der ersten Gattin kontrollieren große Teile des Thunfisch-Exports und der Haushaltswarenkette Bricorama.

Die Kinder aus der zweiten Ehe tummeln sich ebenfalls im Bankengeschäft, halten Anteile an Medienunternehmen, am Peugeot-Import, im Tourismus und in der Baubranche. Nur Ben Alis Sohn Mohamed hat keinerlei Geschäftsinteressen. Der lang ersehnte erste Sohn des Diktators ist aber auch erst sechs Jahre alt.

Assad: Die Familie seiner Mutter Anisa – der Makhlouf-Clan – machte jahrzehntelang als wirtschaftlicher Arm des Regimes beste Geschäfte, etwa in der Telekommunikations-, Banken-, Bau- und Reisebranche.

Mubarak: Mubaraks Söhne Gamal und Alaa sollen bei einer Reihe von Privatisierungen aufgrund ihrer familiären Stellung massiv profitiert und ein Milliardenvermögen angehäuft haben. Gamal, ein Investmentbanker, war zudem als Nachfolger Mubaraks vorgesehen.

Gaddafi: Die acht leiblichen Kinder des libyschen Diktators bekleideten eine ganze Reihe von Funktionen in der Sozialistisch-Libysch-Arabischen Dschamahiriyya, teils in verstaatlichten Unternehmen, teils auf protokollarischen Posten in internationalen Organisationen.

Bouteflika und Saleh: Von den Familien des algerischen und jemenitischen Präsidenten sind keine nennenswerten wirtschaftlichen Aktivitäten bekannt.

VII. Ein gewisser Hang zum Luxus

Nach außen hin gibt er sich bescheiden: Ostentativ residiert Muammar al-Gaddafi in einem Wüstenzelt, wenn er Besuch empfängt oder ins Ausland reist. Auch wenn es ein durchsichtiger Spleen ist – der Revolutionsführer betont damit Verbundenheit mit dem einfachen Leben der Beduinen und persönliche Bedürfnislosigkeit.

Tatsächlich lassen es sich der Diktator und seine Familie aber an nichts fehlen. Im Zelt wird in Wahrheit natürlich nicht gelebt, vielmehr in weitläufigen Villen mit In- und Outdoor-Pools, modernster Unterhaltungstechnik und sonstigem Schnickschnack. Wenn es den Kindern in Libyen zu eintönig ist, können sie auf Domizile in Westeuropa ausweichen: Dort feiern sie rauschende Partys (wie Saif al-Arab in München), halten sich weiße Tiger (wie Saif al-Islam in Wien) oder randalieren in Luxushotels (wie Bilal alias „Hannibal“ in Genf). An Bargeld fehlt es naturgemäß auch nicht: Manchmal schaut einer der Söhne bei der staatlichen Ölgesellschaft vorbei und holt sich dort ein paar hunderttausend Dollar bar aufs Handerl. Man kann auch Kickbacks von westlichen Unternehmen kassieren, die in Libyen nicht am Regime vorbeikommen, wenn sie ins Geschäft kommen wollen.

Am Flughafen von Tripolis wartet ein Airbus A-340, ausgestattet mit allem erdenklichen Luxus.

Viele Millionen werden auf Konten im Ausland gebunkert, um im Falle des Falles jederzeit Zugriff auf das Ersparte zu haben. Es ist schwer zu beziffern, wie viel Geld der Gaddafi-Clan im Laufe von vier Jahrzehnten zusammengerafft hat. Schätzungen sprechen aber von 150 bis 200 Milliarden Dollar.

Mubarak: Zwischen 52 und 70 Milliarden Euro geschätztes Vermögen.

Ben Ali: Zwischen 370 und 550 Millionen Euro geschätztes Vermögen.

Assad: Es sind keine stichhaltigen Schätzungen über seinen Besitz verfügbar. Allerdings soll sein Cousin Rami Makhlouf über ein auf sechs Milliarden Dollar taxiertes Vermögen verfügen.

Saleh und Bouteflika: Keine stichhaltigen Schätzungen verfügbar.

VIII. Ein Verbündeter des Westens

Auch für ihn war der 11. September 2001 ein Schock, aber beim zweiten Nachdenken wird ihm klar, dass er aus der Katastrophe im fernen Amerika nur Vorteile ziehen kann. Ende November 2001 sitzt Ali Abdullah Saleh bei US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus und führt Konsultationen.
Er hat die Chance, eine üble Scharte auszuwetzen: Ein Jahr zuvor konnten seine Sicherheitskräfte nicht verhindern, dass die Al Kaida im Hafen der Stadt Aden ein verheerendes Bombenattentat auf das Kriegsschiff USS Cole verübt. Jetzt verurteilt Saleh die Anschläge von 9/11 und empfiehlt sich den Vereinigten Staaten als Partner im „Krieg gegen den Terror“ und Verbündeter gegen den Islamismus.

Der jemenitische Präsident weiß, dass er für den Kampf gegen gewaltbereite Muslim-Fundamentalisten nicht nur mit finanzieller, sondern auch mit militärischer Hilfe in nahezu unbegrenzter Höhe rechnen kann – und mit einer Carte blanche, die es ihm erlaubt, unter diesem Titel alle Oppositionellen niederzudrücken.

Bis zu 150 Millionen Dollar pro Jahr bekommen Salehs Sicherheitskräfte in der Folge aus dem US-Budget. Dass sich die Al Kaida damit nicht aus dem Land vertreiben lässt, sondern im Gegenteil immer stärker Fuß fasst, ist ihm wohl gar nicht so unangenehm, sorgt es doch dafür, dass der Geldstrom nicht versiegt und bei Menschenrechtsverletzungen kaum jemand zu genau hinsehen will.

Mubaraks Ägypten: Erhält bis zu 1,5 Milliarden Dollar Militärhilfe pro Jahr. Im Gegenzug darf der US-Geheimdienst CIA unter anderem Terrorverdächtige in Ägypten abliefern, um sie dort foltern und verhören zu lassen, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen.

Ben Alis Tunesien: Kooperiert mit den USA bei der unrechtmäßigen Verfolgung und Vernehmung von Terrorverdächtigen. Europäische Staaten sowie Amerika und Russland beliefern Polizei und Armee mit Waffen, Munition, Tränengas, Elektroschockern und anderen Ausrüstungsgegenständen.

Gaddafis Libyen: Wird von den Geheimdiensten CIA (USA) und MI6 (Großbritannien) mit Informationen über Regimegegner im Ausland versorgt. Frankreich verhandelt unter anderem über die Lieferung von Radaranlagen, Militärhubschraubern und U-Booten, Deutschland genehmigt die Lieferung von Sturmgewehren samt Munition.

Assads Syrien: Bekommt unter anderem von Frankreich Munition geliefert und wird von Italien mit neuen Feuerleitsystemen für Kampfpanzer versorgt.

Bouteflikas Algerien: Liefert den USA nach 9/11 die Namen von 1350 angeblichen Terroristen und vereinbart die Zusammenarbeit bei der Überwachung und Verfolgung bewaffneter islamischer Gruppen. Algerische Militärs werden in den USA ausgebildet, gemeinsame Manöver im Mittelmeer durchgeführt. Amerikanische Truppen dürfen in der algerischen Sahara Stützpunkte zur Bekämpfung der „Al Kaida im Maghreb“ einrichten.

IX. Ein Ende mit Schrecken

Hat er gemerkt, dass seine Herrschaft dem Ende zugeht? Dass seine Macht dem Zorn, der sich angestaut hat, nicht mehr gewachsen ist? Vielleicht dringt die Wirklichkeit ja gar nicht mehr an Hosni Mubarak heran, so abgeschirmt, wie er seit Jahr und Tag in einem Kokon aus Reichtum und Sicherheitsvorkehrungen lebt. Vielleicht ist er längst dem Geflüster der Höflinge erlegen, die ihn umgeben und versichern, die Straße sei ruhig, das Volk zufrieden. Vielleicht weiß er aber ganz genau, was sich zusammenbraut, und wagt trotzdem nicht aufzugeben – weil er tatsächlich überzeugt ist, dass nur er selbst das Land davor bewahren kann, in Chaos und Anarchie unterzugehen. Oder fürchtet er nur die Rache der Unterdrückten?

Wir schreiben Februar 2011, Mubarak ist jetzt 82 Jahre alt und seit 29 Jahren Präsident. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich bei den für September angesetzten Wahlen noch einmal im Amt bestätigten zu lassen: Seinem Sohn Gamal, den er gerüchteweise als Nachfolger einzusetzen plante, wollte er das Schicksal der Familiendynastie und des Landes offenbar doch nicht anvertrauen.

Dann beginnen die Proteste in der arabischen Welt, und man kann durchaus annehmen, dass der Ägypter den Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali mit einer Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit verfolgt. Es mutet fast hilflos an, mit welchen Maßnahmen Mubarak versucht, das Unvermeidliche abzuwenden: Erst verspricht er, nicht mehr als Präsident zu kandidieren. Dann kündigt er nicht näher definierte Reformen an. Und schließlich schickt er Schlägertrupps und Polizei auf die Straßen, um die zu Massenprotesten angewachsenen Demonstrationen niederzuknüppeln, während ihm das Militär längst die Gefolgschaft und der Westen die Freundschaft aufgekündigt haben.

18 Tage hält das Regime durch, am 11. Februar flüchtet Mubarak aus Kairo in den Badeort Sharm-el-Sheik am Roten Meer, wo er unter Hausarrest gestellt wird. Inzwischen muss er sich vor Gericht unter anderem wegen Amtsmissbrauch, Korruption und Mord in 846 Fällen verantworten. In den Gerichtssaal wird er auf dem Krankenbett gerollt. Bei den ersten Wahlen nach seinem Abgang gewinnen jene Kräfte, die er durch Repression erst richtig stark gemacht hat: die Islamisten.

Ben Ali: Flüchtete am 14. Jänner 2011 nach knapp vier Wochen Protesten nach Saudi-Arabien. Er lebt in der Stadt Jeddah und wurde in Tunesien in Abwesenheit zu 35 Jahren Haft und umgerechnet 50 Millionen Euro Geldstrafe verurteilt.

Gaddafi: Kam nach acht Monaten Bürgerkrieg am 20. Oktober auf der Flucht aus seiner Heimatstadt Sirte ums Leben – infolge einer schweren Kopfverletzung, die er entweder bei einem NATO-Luftangriff oder durch einen Schuss aus nächster Nähe erlitten hatte.

Saleh: Unterzeichnete nach neun Monaten anhaltender Demonstrationen und einem Mordanschlag, den er mit schweren Verletzungen überlebte, am 23. November eine Rücktrittserklärung.

Assad: Weigerte sich nach fast elf Monaten andauernder Proteste mit Hunderten Toten bis zuletzt zurückzutreten.

Bouteflika: Kündigte nach Beginn von Demonstrationen im Jänner die Senkung der Lebensmittelpreise, die Schaffung neuer Jobs und mehr Pressefreiheit an.

Damit endet das letzte Kapitel in der Lebensgeschichte des arabischen Diktators. Und kaum jemand wird ihn vermissen – das ist der Nachruf, den er sich wohl weder gewünscht noch erwartet hat.