Interview

Gabor Maté über Trauma, toxische Kindheit und Wege zur Selbstheilung

Der Arzt, Bestsellerautor und Holocaust-Überlebende Gabor Maté ist ein weltbekannter Trauma-Spezialist und Guru der Generation Z für psychische Gesundheit. Ein Gespräch über toxische Kindheit, seine Begegnung mit Prinz Harry, Fehler von Eltern und Wege zur Selbstheilung von alten Wunden.

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Gabor Maté, 80,  ist so etwas wie ein internationaler Popstar für mentale Gesundheit. Vor allem innerhalb derGeneration Z, die die herkömmlichen Traditionskonzepte von Leistung, Druck und Stress neu überdenkt, werden die Podcasts, Talks und Vorträge des kanadischen Arztes und Bestsellerautors millionenfach geklickt. Maté analysiert darin nicht nur „das toxische System, in dem wir leben“, und kritisiert, dass die westliche Medizin die Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche weitgehend negiert, er zeigt auch Wege zur Selbstheilung. Seine Bücher über Frühentwicklung, Sucht, die Auswirkungen von Stress und Traumata auf Körper und Psyche sind in 40 Sprachen übersetzt und halten regelmäßig über Monate vordere Plätze in den Bestsellerlisten des „Spiegel“ oder der „New York Times“. Sein 2023 in der deutschen Übersetzung erschienenes,620 Seiten starkes Werk „Vom Mythos des Normalen“(bei Kösel) gilt inzwischen als Standardwerk für Trauma- und Stressbewältigung. Das mediale Echo auf das Buch mag auch der Auslöser gewesen sein, dass Prinz Harry Gabor Maté im März 2023 als Gesprächspartner für einen Vimeo-Livestream über die Traumata seiner Kindheit eingeladen hat. Eine Entscheidung, die Maté inzwischen partiell bereut, wie er erzählt. Monatelange Wartezeiten gehen einerInterviewanfrage wegen eines übervollen Terminkalenders bei Maté voraus, deswegen war es umso erfreulicher, dass das Zoom-Gespräch (er lebt im kanadischen Vancouver) mit profil weit länger dauerte, als ursprünglich zugestanden worden war. Matés Antworten sind knapp und klar, dieKraft seines Charismas ist auch digital spürbar.

Sie haben öffentlich den Livestream mit Prinz Harry, in dem Sie mit ihm über seine Traumata sprachen, bereut. Warum?

Gabor Maté

Ich habe nicht bereut, dass ich das gemacht habe. Es war ein gutes Gespräch, kein perfektes, aber ein gutes. Ich wünschte nur, ich hätte diese Vorgaben mit der Bezahlschranke (Anm.23 Euro) nicht akzeptiert. Sowohl Harry, als auch ich haben doch genug Geld. Unsere Bücher verkaufen sich sowieso. Mir wäre lieber gewesen, wir hätten den Stream gratis ins Netz gestellt – quasi als ein Geschenk an die Menschheit. Im Rückblick betrachtet, hätte ich es unter diesen Umständen nicht machen dürfen. Ich habe zuwenig auf mein Bauchgefühl gehört.

Vielleicht waren Sie doch auch ein wenig geschmeichelt...

Maté

Möglicherweise war das ein kleiner Teil in mir, der so fühlte. Und dieses kleine Selbst ist bis heute insgesamt noch erstaunt, dass ich soviel Aufmerksamkeit für meine Arbeit bekomme.Doch der größere Teil meines Selbsts ist der hunderprozentigen Überzeugung, dass das, was ich zu sagen habe, den Menschen einfach helfen kann. Wenn sie nur zuhören. Und sie tun das immer mehr. Auch durch solche Dinge.

Wie haben Sie den Duke empfunden? Prinz Harry hat ja den Ruf, nicht gerade der hellste Kopf unter den Windsors zu sein.

Maté

Er leidet an ADD (Anm. Attention Deficit Disorder, Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) und ist auch durch die Tatsache traumatisiert, dass er als Kind oft als „Thicko”, was soviel wie Schwachkopf bedeutet, von seinen Lehrern und anderen verspottet worden ist. Kindern mit solchen Störungen wird oft Unrecht getan: Sie sind nicht dumm, sondern haben Konzentrationsschwierigkeiten.

Wie viele andere fühlte sich Harry von seinem Vater emotional unterversorgt. Gibt es überhaupt so etwas wie eine rundum perfekte Kindheit?

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort