Maté
Sehr selten in unserer Kultur. Wir dürfen nicht vergessen: Unsere Form der Zivilisation ist in der Menschheitsgeschichte verhältnismäßig jung. Früher wurden die Kinder im Verbund von Clans, in Stammesgruppen in der freien Natur groß gezogen. Viele Onkel, Tanten und Freunde waren da zusätzlich involviert.
Gemäß des afrikanischen Sprichworts: Es braucht ein Dorf, um ein Kind groß zu ziehen.
Maté
Genau. Verglichen mit der Freiheit von damals , leben wir heute wie in einem Zoo. Viele Eltern haben die Verbindung zu ihren Kindern verloren, denn nicht das Erkennen der Bedürfnisse ihres Kindes dominiert ihre Elternschaft, sondern Sorgen, dass das Kind nicht wie erhofft ist, und natürlich ihre eigenen Ängste. Und die geben sie dann an ihre Kinder weiter.
Und erdrücken die Kinder womöglich mit ihren Erwartungen?
Maté
Die Erwartungen entstehen aus den Ängsten. Ich weiß das auch aus meiner eigenen Geschichte. Auch ich habe den Fehler begangen, meine Ängste an meine Kinder weiterzugeben.
Mit welchen Konsequenzen?
Maté
Sie hatten als Erwachsene Probleme mit ihrem Selbstwert und damit, sich selbst zu akzeptieren, sich selbst zu finden, und natürlich auch in ihren Beziehungen.
Leben Kinder zwangsweise die Beziehungen zwischen ihren Eltern später nach?
Maté
Es kommt häufig vor. Wenn du eine toxischen Kindheit durchlebst: Wo suchst du am meisten nach Liebe?
Wahrscheinlich bei den Eltern.
Maté
Genau. Bei den Eltern, die dich auch verletzen. Und später zieht es dich an einen ähnlichen Ort. Weil der Ort, wo man mit Schmerzen und Verletzungen konfrontiert ist, einem auch vertraut erscheint und man ihn mit Liebe verbindet. Und natürlich hat eine toxische Kindheit auch ein geringes Selbstwertgefühl zur Folge.
Das einen auch in Beziehungen verharren lässt, die einem nicht gut tun?
Maté
Ja. Schließlich ist man der Meinung, dass man ohnehin nichts besseres verdient.
Junge Eltern sehen sich heute prinzipiell mit der Frage konfrontiert: Wieviel Frustrationstoleranz kann ich einem Kind zumuten, welche Grenzen braucht es?
Maté
Ich bin strikt dagegen, einem Kind irgendwelche Frustrationen aufzuerlegen, das tut dann schon ohnehin das Leben selbst. Was aber wichtig ist, seinen Schmerz und dessen Ausdruck, den solche Frustrationen hervor rufen, ernst zu nehmen und zu akzeptieren. Wenn es weint, dass seine Freunde nicht mit ihm spielen, dann sollte man das nicht abtun als Kleinigkeit, sondern dem Kind vermitteln, dass es ein Recht hat, darüber traurig zu sein. Eine Forscherin lebte über Wochen mit einem Stamm im Dschungel von Venezuela. Ihre wichtigste Erkenntnis. Diese Eltern kritisierten ihre Kinder nie, sondern hatten ein Verhältnis, das Vertrauen und Sicherheit gab. So funktionierte Erziehung wie von selbst.
Eines Ihrer großen Themen ist der Begriff Trauma, ein Terminus, der inzwischen fast schon zu einem Modebegriff geworden ist.
Maté
Ja, die eigentliche Bedeutung wird oft verwässert. Meine Definition ist, das Trauma das ist, was sich infolge schwieriger und schmerzhafter Ereignisse in einem Menschen abspielt, nicht die Ereignisse selbst. Es ist, vereinfacht formuliert, nicht der Unfall selbst, sondern die Gehirnerschütterung, die man davon trägt, und ihre Nachwirkungen.
Eine weitere Definition von Trauma in „Vom Mythos des Normalen” ist „eine Verengung des Selbst, sowohl psychisch, als auch physisch”....
Maté
Solang wir ein Trauma, das eine Wunde in unserem Selbst ist, nicht aufgearbeitet haben, uns dessen nicht bewusst sind, hält es uns in der Vergangenheit gefangen. Und wird über Generationen weiter gegeben. Und je länger es nicht aufgelöst ist, desto stärker wirkt es nach – in allen möglichen Formen physischer und psychischer Verzerrungen.
Schon Kinder spüren solche unaufgearbeiteten Traumata?
Maté
Natürlich. Kinder fühlen die Existenz eines solchen Geheimnisses.
In einem „Guardian”-Artikel bezeichnen Sie Donald Trump als schwer traumatisiertes Kind, für das Sie fast soetwas wie Mitleid empfinden.
Maté
Mitleid habe ich nie gesagt, aber Empathie. Trump hatte einen gewalttätigen Vater und eine Mutter, die ihn nicht vor dieser Gewalt beschützt hat. Diese toxische Männlichkeit, die er unter anderen mit Sätzen wie „You have to grab them by the pussy” ausdrückt, zeugt von diesem Trauma. Auch Hitler wurde von seinem Vater verprügelt, ohne dass die Mutter eingriff. Wissen Sie was der Dalai Lama über Hitler sagte? „Töte ihn, aber hasse ihn nicht.”
Tatsächlich erscheint einem eine Geschichte, die Sie ziemlich am Anfang des Buches erzählen, insofern paradox, als dass Sie, einer der bekanntesten Trauma-Experten, selbst Ihres eigenes Trauma nicht auflösen konnten:Ihre Frau schrieb Ihnen, als Sie von einer Reise zurück kehrten, dass sie Sie doch nicht vom Flughafen abholen wird können. Und Sie reagierten beleidigt.
Maté
Ja, wie ein beleidigtes Kind, ich nahm danach kaum Blickkontakt mit meiner Frau auf, meine Antworten waren einsilbig. Die Situation des mir selbst Überlassenseins hatte ein Trauma wach gerufen: Als ich drei Monate alt war, sollten wir von den Pfeilkreuzlern in Budapest ins Ghetto getrieben werden. Meiner Mutter gelang es, mich im Frühling 1944 einer Christin in die Hand zu drücken, die mich zu sicher versteckten Verwandten brachte. Nach dem Ende des Krieges kam ich erst wieder zu meiner Mutter.
Wenn Sie als Koryphäe auf diesem Gebiet im Alter von 80 Jahren noch im Gefängnis Ihrer Vergangenheit sind, wie soll dann ein Laie seine Traumata auflösen können?
Maté
Die Geschichte mit dem Flughafen liegt neun Jahre zurück, ich habe mich inzwischen auch weiterentwickelt. Ich habe den Eindruck, dass ich heute mit 80 freier bin, als beispielsweise mit 76. Und darum geht es mir in allem, was ich tue: Menschen dabei zu helfen, frei zu werden.
Sind Sie heute ein freier Mensch?
Maté
Nicht gänzlich, aber zumindest, weiß ich, wenn ich es nicht bin.Heilung kann nur auf einer emotionalen Ebene passieren, die viel tiefer liegt als unser intellektuelles Wissen. Nächste Woche werde ich zum Beispiel wieder in Psychotherapie gehen, weil ich gerade ein neues Thema habe. Ich mache das immer wieder. Nicht aus Supervisionsgründen, sondern für mich selbst.
In einem Podcast sagten Sie, dass Sie vor allem bereuen, zuviel gearbeitet zu haben.
Maté
Inzwischen sage ich 90 Prozent aller Angebote ab und dennoch ist mein Kalender voll. Aber die schwierige Aufgabe, die ich jetzt zu erfüllen haben werde, ist heraus zu finden: Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht arbeite?
Ist Selbstheilung von solchen seelischen Wunden, wie sie Traumata schlagen, ohne professionelle Hilfe überhaupt möglich?
Maté
Schwierig, aber möglich. Eine gute Beziehung kann für einen traumatisierten Menschen therapeutische Wirkung haben. Die meisten Menschen leben so, als ob sie in diesen kleinen Autos oder Züge für Kinder, die es Rummelplätzen gibt, sitzen würden: Sie haben die Illusion, dass sie lenken können, aber in Wahrheit laufen diese Fahrzeuge auf Schienen.
Also ist der freie Wille eine Illusion, ganz im Sinn von Sigmund Freud?
Maté
Ich zitiere den Stanford-Neurowissenschaftler Robert Sapolsky, der der Meinung ist, dass wir das sind, was wir nicht kontrollieren können, sondern unser Selbst das Resultät unbewusster Dynamiken ist, die aus den Interaktionen zwischen Biologie und Umwelt entstehen. Zu 98 Prozent gebe ich ihm recht. Aber der Weg zum freien Willen ist möglich. Er erfordert viel Selbstreflexion und harte Arbeit.
Als Ursache für das Scheitern vieler Beziehungen führen Sie in Ihrem Buch den Drang an, den Partner oder die Partnerin verändern zu wollen.
Maté
Das sollte man wirklich vermeiden. Viele Frauen verleugnen ihre eigenen Bedürfnisse und benehmen sich dann überfürsorglich wie die Mutter ihres Partners. Dieser Art von Verleugnung kann zu Autoimmun-Erkrankungen führen, an denen zu einem großen Teil Frauen leiden. Der Mann wird dann in die Rolle des Sohns katapultiert. Und wer will schon mit seinem Sohn schlafen?
Oder umgekehrt mit seiner Mutter. Sie haben auch lange als Palliativmediziner gearbeitet. Was haben die Menschen am Ende ihres Lebens am meisten bereut?
Maté
Dass sie zuwenig sie selbst waren und es anderen zu sehr Recht machen wollten. Den Verlust Ihrer Authentizität, um anderen zu gefallen. Deswegen stelle ich den Menschen, die in meine Praxis kommen, immer die Frage. Für welchen Schmerz willst du dich entscheiden? Für den, dein authentisches Selbst zu unterdrücken, oder für den Schmerz, von anderen nicht gemocht zu werden?