Ein Taschendieb klaut eine Geldbörse aus einer Tasche.
TikTok-Phänomen

Attenzione, pickpocket: Der Fall eines Memes

In den sozialen Netzwerken jagt die Italienerin Monica Poli Taschendiebe, sonst ist sie Stadträtin der rechtspopulistischen Lega. Was passiert mit einem Online-Phänomen, wenn die Realität politisch dazwischen grätscht?
Eva  Sager

Von Eva Sager

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Tja, es ist schon wieder passiert. Die Wirklichkeit hat das Internet kaputt gemacht – oder umgekehrt, je nachdem. Bis vor kurzem war „Attenzione, pickpocket“ noch ein harmloser Insider auf der Videoplattform TikTok, ein Witz, mit dem man recht einfach bei Internet-affinen Freundinnen und Freunden punkten konnte – quasi ein garantierter Lacher. Und zack, auf einmal ist es ein Politikum. Monica Poli mit der  lustigen Stimme, die in Venedig Taschendieben auflauert, mit Handykamera bewaffnet – “Attenzione, borseggiatrici! Attenzione, pickpocket!” („Achtung, Taschendiebe!“) – ist doch gar nicht so unverfänglich lustig, sondern auf einmal politisch aufgeladen: Poli ist nämlich Stadträtin der rechten Lega Nord. Hat das den Trend verändert? Und, noch viel wichtiger, worum geht es überhaupt?

Monica Poli ist 57 Jahre alt, hat kurze, blonde Haare - und ist berühmt. Zumindest auf TikTok und Instagram. Wenn man sich dort viel herumtreibt, ist man ihrer markanten Stimme zwangsläufig schon einmal begegnet. Poli lauert, mehr oder weniger erfolgreich, Taschendieben auf. Sie filmt vermeintlich Kriminelle und warnt, lautstark und unüberhörbar, alle Menschen um sich herum: „Attenzione, pickpocket!“ Ihre Videos gehen fast immer viral, mittlerweile hat allein der Hashtag „#attenzionepickpocket“ über 120 Millionen Aufrufe auf TikTok. Etliche Videos beziehen sich auf das Phänomen, es gibt sogar einen Tanzremix zu ihrer Catchphrase.

„Attenzione, pickpocket!“ wurde recht schnell zu einem internationalen Trend; einem kollektiven Witz, einem Erlebnis, das in einer individualisierten virtuellen Welt irgendwie einen „Common Ground“ markieren konnte – zumindest für kurze Zeit. Eine kleine Gemeinsamkeit, die allen gerade wegen ihrer Belanglosigkeit, ihrer Banalität das Gefühl gab, dass man doch nicht so allein in diesem Internet ist. Manchmal, ja manchmal kann es hier sogar Spaß machen.

Nun, so banal und spaßig war die ganze Sache dann eigentlich doch nicht. Denn: Poli ist in Venedig Stadträtin der Partei Lega Nord, deren Chef Matteo Salvini regelmäßig gegen Migrantinnen und Migranten hetzt, sich gegen Homosexualität ausspricht und für seine harte Haltung gegenüber Roma bekannt ist. Dazu kommt Polis Mitgliedschaft bei „Cittadini Non Distratti“ („Nicht abgelenkte Bürger“), die sich dem Kampf gegen Taschendiebe verschrieben haben. Auf Instagram folgen ihnen über 300.000 Menschen. Eine rechte Politikerin, die zusammen mit einer organisierten Gruppe die Jagd auf Verbrechen selbständig in die Hand nehmen will? Für viele hat das ein „Gschmäckle.“ Der Vorwurf: Poli würde dabei auffallend oft Roma ins Visier nehmen.

Die New York Times fragte Poli, worauf sie bei ihrer Suche nach möglichen Taschendieben eigentlich achte. Die Antwort: Sie habe dafür einen sechsten Sinn. Auf TikTok führen Nutzerinnen und Nutzer ihren sechsten Sinn vor allem auf Rassismus zurück. Damit ist der „Attenzione, pickpocket“-Trend dementsprechend bis auf weiteres begraben. Die beliebte „Sommerheldin“ entpuppte sich als „Milkshake Duck“ – so nennt man im digitalen Jargon eine Person, die aufgrund einer charmanten Eigenschaft in den sozialen Medien zuerst an Popularität gewinnt und sich anschließend als Enttäuschung offenbart. Online wähnt man sich nun also auf der Seite der „Pickpockets“, der passende Remix dazu fehlt leider noch.

 

Eva  Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.