Aufräum-Trend: Weg ist das Ziel

Wir räumen unsere Wohnungen auf, ordnen unsere Beziehungen, sortieren unser Leben. Denn nur wer Ordnung schafft, wird frei und glücklich, meinen Aufräumprofis wie Marie Kondo und andere Lebensberater. Wahr ist vielmehr das Gegenteil. Ein Plädoyer für die Unordnung.

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Dieser Artikel erschien am 22.01.2018, Update am 10.01.2019.

In meinem E-Mail-Eingang befinden sich derzeit 47.184 Nachrichten, die ältesten davon datieren vom August 2004. Exakt 3770 dieser Nachrichten habe ich noch nie gelesen, den Rest bestenfalls überflogen. Diese Tatsache bereitet mir weder schlaflose Nächte noch ein schlechtes Gewissen. Was wichtig ist, wird mich finden. Was ich nicht finde, kann wohl nicht so wichtig sein. Ordnung wird überbewertet.

Andererseits trifft mich regelmäßig der Schlag, wenn ich das Zimmer meiner Kinder betrete. Dann fährt meine Unordnungstoleranz schlagartig gegen eine Wand aus Miniaturgeschirr, Kreidezeichnungen, Weihnachtsschmuckresten, Stickerbüchern und Puppenfriseurzubehör. Alles nicht so schlimm eigentlich, in fünf, zehn Minuten wieder sortierbar. Für mich trotzdem schwer auszuhalten. Ordnung ist offenbar Ermessenssache, streng subjektiv und entsprechend umstritten. Aber sie ist wichtig. Ordnung muss sein. Sie gehört zu den wenigen Phänomenen, auf die sich Kirche, Staat und Naturwissenschaft verständigen können. Aus dem Chaos ist unser Universum entstanden, ins Chaos wird es wieder eingehen, aber dazwischen herrsche gefälligst Ordnung. Man macht sich die Welt untertan, indem man sie einteilt. Man räumt mit Missverständnissen auf, mit falschen Vorstellungen, mit Klischees. Man räumt nach Katastrophen auf, nach Erdrutschen und Massenkarambolagen. Dauernd sind irgendwo Aufräumarbeiten im Gange, und sind sie noch nicht im Gange, werden sie in Gang gesetzt. Ganze Gesetzbücher werden entrümpelt vor dem schlichten Hintergrund, dass Entrümpeln gerade sehr modern ist. Reform heißt immer auch Aufräumen. Komplexitätsreduktion. Das soll, so die vorherrschende Meinung, nicht bloß Stauräume und Synergien schaffen, sondern Freiheit, Glück und Ausgeglichenheit. Entsprechend eifrig wird überall entrümpelt, entschlackt, entfernt und entspannt. Die Ent-Zeit ist angebrochen.

Ausmisten ist das neue Fasten, Zusammenräumen ein Detox für die Seele, und der Popschlager auch nicht mehr, was er einmal war: Seit zwei Jahren tourt die Band Silbermond mit ihrem Hit "Leichtes Gepäck" durch deutschsprachige Stadtgemeinden. Strophe: "Du siehst dich um in deiner Wohnung /Siehst ein Kabinett aus Sinnlosigkeiten / Siehst das Ergebnis von /Kaufen und Kaufen von Dingen /Von denen man denkt, man würde sie irgendwann brauchen." Refrain: "Und eines Tages fällt dir auf /Dass du 99 Prozent davon nicht brauchst."

Erst die Unaufgeräumtheit macht das Leben lebenswert, den Menschen zum Menschen

Das deutsche Nachrichtenmagazin "Focus" titelte "Räum dein Leben auf!", der "Stern" "Mach dein Leben leichter!", und die einschlägige Lifestyle-Presse ist im Jänner ohnehin im Aufräum- und Aufbrauchsfieber. "Woman" erklärte Anfang 2018: "Weniger ist mehr! Weg mit Altlasten - 16 großartige Tipps für den Neustart". Tipp Nummer eins: "Neuer Trend: Death Cleaning. Die Schwedin Margareta Magnusson entwickelte diese Philosophie, die besagt, dass man sein Leben so führen sollte, dass man getrost morgen sterben kann." Mit anderen Worten: Nur mit dem Tod vor Augen ist das Leben lebenswert. Sei dein eigener Nachlassverwalter! Dies soll ein Einspruch sein. Ein Plädoyer für die Unordnung, eine Protestnote gegen das Ausmistdiktat. Denn erst die Unaufgeräumtheit macht das Leben lebenswert, den Menschen zum Menschen. Ohne Unordnung wären wir nicht, wer wir sind. Wir hätten keine neuen Ideen, keine Leidenschaften, kaum Erinnerungen und wahrscheinlich nicht einmal Religion, Staat oder Wissenschaft. Das Leben wäre ein langer, stiller Fluss, an dem es nichts zu erleben gibt. Zu viel Ordnung ist auch politisch gefährlich. Wohin die Sehnsucht nach dem Aufgeräumten, Übersichtlichen führt, kann man jederzeit in den Nachrichten sehen. "Simplify your life" heißt auch, internationale Diplomatie auf die Frage zu reduzieren, wer den größeren, äh, Knopf hat.

Ein Schreibtisch ist eine Art Metapher für das, was in unserem Kopf los ist

"Keiner denkt mehr frei, der ein System hat", schrieb der deutsche Dichter Jean Paul vor 200 Jahren. Die neuere Gehirnforschung bestätigt das gern. Henning Beck, Neurobiologe und Autor, beschreibt, wie unser Gehirn funktioniert: "Es ist ein verträumter Schussel, oft abgelenkt und unkonzentriert, nie zu hundert Prozent verlässlich, es verrechnet sich, irrt ständig und vergisst mehr, als es behält. Kurzum: Es ist ein etwa 1,5 Kilo schwerer Fehler." Und das sei sehr gut so, denn: "Es ist der Irrtum, die Ungenauigkeit im Denken, die uns den Computern überlegen macht." Das Gehirn ordnet nicht. Es bleibt immer dynamisch und in der Schwebe, es verknüpft Details mit anderen Details, auch wenn sie gar nicht zusammenpassen. "Wer zu früh sortiert, hat es später schwerer, die Dinge in einen anderen Zusammenhang zu stellen", erklärt Beck. Kreative Lösungen entstehen nicht durch Ordnung und Struktur. Im Gegenteil. Dem konzentrierten, lösungsorientierten Nachdenken sind sie fremd. Sie passieren uns, sie überraschen uns. Konzentration verhindert, rein neurobiologisch, Kreativität. Das Chaos ist die Standardeinstellung unseres Gehirns.

Der bayerische Pfarrer und Berater Werner "Tiki" Küstenmacher, der um die Jahrtausendwende die fantastisch erfolgreiche Aufräum- und Lebensphilosophie "Simplify your life" entwickelte, sieht das Ganze etwas praktischer: "Ein Schreibtisch ist eine Art Metapher für das, was in unserem Kopf los ist." Die Analogie wirkt wechselseitig: Wer mit dem, was in seinem Kopf vorgeht, nicht zufrieden ist, kann zumindest seinen Schreibtisch zusammenräumen. Küstenmacher: "Wir geben immer anderen die Schuld dafür, dass wir unglücklich sind. Mein Ansatz sagt: Du kannst dein Leben selbst in die Hand nehmen, wenn du es systematisch machst." Küstenmachers Ansatz sagt aber auch: Jeder ist betroffen. Denn wer wünscht sich nicht ein glücklicheres, erfolgreicheres, verliebteres, reicheres Leben? Irgendetwas muss sich immer ändern. Aber was? Das, was da ist. Der Rest wird sich finden.

Aus dem internationalen Diagnose-Handbuch der Weltgesundheitsorganisation WHO, Kapitel fünf, Psychische und Verhaltensstörungen, Unterkategorie F42.1: Zwangsstörungen (vorwiegend Zwangshandlungen): "Die meisten Zwangshandlungen beziehen sich auf Reinlichkeit (besonders Händewaschen), wiederholte Kontrollen, die garantieren, dass sich eine möglicherweise gefährliche Situation nicht entwickeln kann, oder übertriebene Ordnung und Sauberkeit. Diesem Verhalten liegt die Furcht vor einer Gefahr zugrunde, die den Patienten bedroht oder von ihm ausgeht; das Ritual ist ein wirkungsloser oder symbolischer Versuch, diese Gefahr abzuwenden." Ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung erkranken im Lauf ihres Lebens einmal an einer Zwangsstörung. Als Ursache wird eine Kombination genetischer Veranlagung und biografischer Faktoren vermutet. Zur Behandlung wird eine kognitive Verhaltenstherapie empfohlen, in schweren Fällen unterstützt durch Psychopharmaka.

Ganz so schlimm hat es uns noch nicht erwischt. Aber unsere Symptome sind ähnlich, ihre Ursachen auch. Die Gefahr, die der grassierende Ordnungszwang bannen möchte, lässt sich nicht leugnen. Sie heißt: Komplexität. Tatsächlich ist alles, was uns derzeit bedrohlich vorkommt, ziemlich kompliziert: der ewige Krieg in Syrien, chinesische Währungsspekulationen, konkurrierende Klimaprognosemodelle etc.

Zukunft galt noch vor wenigen Jahren als etwas Komplexes, für den Laien Unverständliches. Es ging um geheimnisvolle Supercomputer, die nur von geheimniskrämernden Fachkräften bedient werden konnten, oder Raumschiffe, deren Antriebstechnik eine Raketenwissenschaft war. Inzwischen ist Zukunft nach Möglichkeit gut aufgeräumt und deppeneinfach. Die modernsten Telefone haben nur noch einen Knopf, die neuesten Computer lassen sich per Sprachbefehl steuern. Kein Wunder, dass uns die Maschinen intellektuell bald überholen werden.

Unter all dem Krimskrams, den das Leben und der Ausverkauf an uns heranspülen, liegen auch nur wir selbst

Da kommt jemand wie Marie Kondō genau richtig . Die 33-jährige Japanerin ist die weltweit führende Aufräum- und Ausmistprophetin. Ihre Bücher heißen "Magic Cleaning. Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert" und "Magic Cleaning. Wie Sie sich von Ballast befreien und glücklich werden". Sie haben sich weltweit bis 2018 über sieben Millionen Mal verkauft. Es gibt sie auch in der Manga-Version, als App, Online-Kurs und Seminar. Mittlerweile wird sogar auf Netflix aufgerämt. Bei ihrer markengeschützten Methode "KonMariTM" geht es, ganz profan, darum, die Dinge, die man zu Hause herumliegen hat, zu inventarisieren und für jedes einzelne zu entscheiden: Macht es mir Freude? Ist das der Fall, darf es bleiben. Wenn nicht, muss es gehen - nach einer durchaus emotionalen Verabschiedung. Das Magazin der "New York Times" beschrieb den beseelten Zugang von Frau Kondō so: "Wenn sie eine Wohnung betritt, setzt sie sich auf den Boden und begrüßt den Raum. () Sie will, dass Ihre Socken ihre Ruhe bekommen. Sie will, dass Sie Ihr Kleingeld mit Respekt behandeln. Sie glaubt, dass Ihre Strumpfhosen ersticken, wenn Sie sie in der Mitte falten. Sie möchte, dass Sie Ihren Kleidern dafür danken, wie hart sie arbeiten, und dafür sorgen, dass sie ausreichend Entspannung bekommen. Bevor Sie sie wegwerfen, möchte sie, dass Sie sich bei ihnen bedanken." Und wegwerfen, daran lässt Marie Kondō keinen Zweifel, werden wir sie. Denn weg ist das Ziel. Nur der aufgeräumte Mensch ist ein glücklicher Mensch. Was dabei leider gern vergessen wird: Unter all dem Krimskrams, den das Leben und der Ausverkauf an uns heranspülen, liegen auch nur wir selbst. Wenn wir das, was da liegt, nicht mögen, wird Aufräumen nicht viel helfen. Dazu kommt, dass mit all den Dingen, die wir entsorgen, mehr verloren geht als nur alte Einkaufszettel, Staubsauger und Pizzabacksteine. Dinge sind nicht nur Zeug, sie sind Zeugen. Nicht das abgestaubte Sofa führt uns in die eigene Vergangenheit, sondern das Streichholzbriefchen, das zwischen dessen Polstern steckt.

In ihrem wunderschönen neuen Buch "Hilde & Gretl" erzählen der Wiener Galerist Peter Coeln und der ORF-Moderator Tarek Leitner die berührende Geschichte zweier Cousinen, die jahrzehntelang gemeinsam in einem Haus in Niederösterreich lebten und offenbar alles aufbewahrten, was ihnen jemals unterkam. Nach dem Tod der beiden Damen blieb sehr viel Krempel zurück, aus dem Coeln und Leitner ihre Lebensgeschichten destillieren. Was aber werden zukünftige Nachlassverwalter, Biografen und Historiker feststellen, wenn ihnen nicht 100 Schuhschachteln voller Häkelarbeiten, Engelsfiguren und Tabakresten zur Verfügung stehen, sondern nur ein paar sorgfältig beschriftete Plastikboxen? Zwischen den Dingen verfängt sich etwas: ein Selbstbild, eine Zukunftsvorstellung, eine Vision. Die "Räum dein Leben auf"-Ideologie verspricht: Dein Leben wird besser, spannender, freier. Dabei wird es nur: leerer.

Positiv gewendet lässt sich freilich auch sagen: In der neuen Ausmist-Ideologie steckt eine Systemkritik. Aber ihr angeblicher Antikapitalismus bleibt schal. Askese und Entsagung werden dabei mit Weltverbesserung gleichgesetzt, die moralische Überlegenheit des freiwillig einfachen Lebens behauptet. Tatsächlich wird aber aus Rebellion und Anpassung nur die Synthese des verspießerten Aussteigers geschmiedet: Ich mache nicht mit, ich kaufe nichts, ich bin mir selbst genug. Das ist so egoistisch wie übergriffig - und kann die beste Beziehung zerstören.

"Ordnung ist in meiner Praxis tatsächlich ein sehr, sehr großes Thema", sagt die Wiener Paar- und Psychotherapeutin Claudia Wille:"Paare verstehen oft selbst nicht, warum sie über solche Kleinigkeiten derart wahnsinnig streiten können: Warum räumt er das Kaffeehäferl nicht in den Geschirrspüler?" Natürlich geht es ganz selten wirklich um das Kaffeehäferl. Es geht um tiefer liegende Bedürfnisse. Wille: "In der ersten, symbiotischen Phase einer Beziehung hat man das Gefühl, dass der geliebte Mensch einem völlig gleich ist. Das ist ein paradiesisches Gefühl. Nach der Verliebtheit bemerkt man, dass es Unterschiede gibt. Und Unterschiede machen Angst." Jeder Mensch hat, abhängig von biologischer Veranlagung und biografischer Erfahrung, ein sehr individuelles Verhältnis zur Ordnung. Dieses lässt sich nicht grundlegend ändern, sondern höchstens anpassen. Entsprechende Erziehungsversuche in der Beziehung fruchten selten, weil sie nicht fruchten können. Die Therapeutin rät: versuchen, den anderen zu verstehen - und zu verstehen, dass er es nicht böse meint.

Laut einer Studie des Entkalkungsmittelherstellers Durgol, bei der im Vorjahr 2400 Personen in Österreich, Deutschland und der Schweiz befragt wurden, bezeichnen sich 38,8 Prozent der Österreicher selbst als "ambitionierte Putzer", 35,1 Prozent als "Gelegenheitsputzer". Die meisten kommen dabei auch ganz gut allein zurecht. Einigen aber wachsen ihre Sachen über den Kopf. Dann melden sie sich bei Florian Kmet. Der Wiener Musiker arbeitet im Nebenerwerb als Ausmistberater, zertifiziert nach der "Karen Kingston School of Clutter Clearing". Kmet ist ein undogmatischer, zurückhaltender Vertreter seiner Branche, er gibt keine Heilsversprechen ab. Er sagt: "Die Leute kommen aus den verschiedensten Gründen zu mir. Meine Klienten sind zwischen 30 und 65, mehr Frauen als Männer. Was sie verbindet: Sie fühlen sich von ihren Sachen behindert bei dem, was sie eigentlich tun wollen." Je nachdem, um wie viele Sachen es sich im Einzelfall handelt, bietet Kmet, der sich als Ausmistberater "Clutterman" nennt, unterschiedliche Leistungspakete an, vom dreistündigen Reinschnuppern um 160 Euro bis zum dreitägigen Großreinemachen um 680 Euro. "Ich arbeite ganz konkret mit den Dingen. Ich werde nicht philosophisch oder therapeutisch, auch wenn man im Lauf einer Session natürlich auf tiefer liegende Strukturen aufmerksam wird. Aber ich bleibe immer bei den Sachen. Diese werden gemeinsam in verschiedene Kisten aufgeteilt: wegschmeißen, verschenken, reparieren, verkaufen, aufheben."

Was völlig vorhersagbar ist, ist langweilig, und unser Gefallen daran nähert sich der Nulllinie

Und dann? Ist das Leben in Kisten verpackt. Ob es dadurch schöner, freier, besser wird, muss jeder für sich selbst herausfinden. Auf jeden Fall aber wird es kürzer. Der deutsche Neurologe Thomas Grunwald nennt in seinem sehr anregenden Buch "Gehirn und Gedudel" den Grund dafür: "Was völlig vorhersagbar ist, ist langweilig, und unser Gefallen daran nähert sich der Nulllinie. Mit steigender Komplexität wächst die Herausforderung für zutreffende Vorhersagen." Genau darauf ist das emotionale Belohnungssystem unseres Gehirns konditioniert: Überraschende Ereignisse bleiben eher im Gedächtnis haften als routiniert abgespulte Pläne in systematischer Umgebung. Grunwald: "Nur die Alltagsroutine zu bewältigen, kann das erinnerte Leben schrumpfen lassen." Vereinfacht gesagt: Im Chaos lebt man länger.

Das muss ich gleich meinen Kindern erzählen.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.