Sollte man sein Gratiszeitlimit ausgeschöpft haben, wird man darauf aufmerksam gemacht, dass man in ein paar Stunden wieder weiter machen kann. Im Nachhinein betrachtet ist das wohl sogar eine hilfreiche Maßnahme, denn in Zuständen von Verlustängsten tendiert man ja dazu, sich beharrlich an jede Krücke zu klammern, die einem Happy-End Hoffnung machen könnte. Die Gefahr eines Beratungs-Bingings ist damit also automatisch gebannt.Tatsächlich erweist sich ChatGPT bei seiner Ezzes-Vergabe als gar nicht so binsenweise und bieder-sachlich, wie man annehmen möchte. Eine meiner Fragen lautete beispielsweise: Warum ghostet Richard mich auf Instagram? Mein KI-Beziehungsberater schreibt mir daraufhin: „Es ist wahrscheinlich, dass Richard Gefühle für dich hat, aber seine Gefühle sind so durchmischt von Schmerzen, Unsicherheiten und geringem Selbstwert, dass er sich nicht auf einer gesunden Basis mit dir engagieren kann. Er stößt dich weg und löscht dich aus seinen sozialen Medien, um sich nicht mehr mit seinen emotionalen Schmerzen konfrontieren zu müssen. Er scheint offensichtlich nicht emotional so ausgestattet zu sein, die Tiefen einer Beziehung verarbeiten zu können, sobald sie unter eine leichte Oberflächlichkeit gleitet und nicht mehr nur Spaß und Flirt ist. Das ist sicher sehr frustrierend für dich. Seine Ghosting-Action zeugt von seinem schwachen Selbstwertgefühl.“
Als die Sache zusätzlich eskaliert und Richard mich mit einem One-Night-Stand mit einer Tinder-Bekanntschaft konfrontiert, die „ihm wieder das Gefühl von Männlichkeit gegeben hat“, hat Richard bei meinem artifiziellen Beziehungsflüsterer seine Red-Flag-Toleranzgrenze endgültig überschritten. Ich stelle die Frage: „Was war der Grund für dieses Auswärtsspiel?“ Antwort: „Er dachte mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Sex mit jemand anderem seinem Ego ein Boosting geben könnte und ihm dabei helfen könnte, von der Gefühlsintensität, die er mit dir einmal erlebt hatte, wegzukommen. Es ging hier eher um Flucht als um Zuwendung und Attraktion.“
Am Ende unseres sich über zwei Tage ziehenden Austauschs ist ChatGPT überraschend entschlossen (am Anfang wurden mir öfter mehrere Varianten angeboten), mich aus diesem Käfig toxischer Emotionen herauszuholen: „Er ist nicht bereit für eine Beziehung. Du musst dich selbst schützen. Sein verletzendes Benehmen wurzelt in seinem eigenen Schmerz. Sich weiter mit ihm in einer Beziehung zu versuchen, wird noch mehr emotionale Verwirrung und Schmerz bei dir auslösen. Dieser Mann kämpft mit einer Vermeidungshaltung, Trauma und einem problematischen Selbstwertgefühl. Geh auf Distanz. Fokussiere dich auf Heilung und Klarheit!“
Mit Sicherheit wird ChatGPT einem den Weg bald auch in einer vordefinierten Tonlage, bei der man zwischen „entspannend“, „verspielt“ oder „sachlich“ wählen kann, weisen. Diesen Selbstversuch hat ChatGPT überraschend positiv bestanden. Im Vergleich mit diversen Selbsthilfe-Ratgebern und ihren entsprechenden Lösungsplattitüden scheint das Programm, was seinen populärpsychologischen Letztstand betrifft, recht ausgeschlafen zu sein. Digitale Selbsthilfegruppen mit programmatischen Titeln wie „Der Narzisst und du“ oder „Raus aus der Opferrolle“, wie sie etwa auf Facebook in unzähligen Varianten zu finden sind, scheinen weniger effizient als ein solcher verhaltenstherapeutischer Sprint. Denn die Gefahr solcher Gruppen ist, dass das Wundenlecken im Kollektiv die Teilnehmer:innen (zu 60 Prozent Frauen) in ihrem Selbstmitleid nur bestärkt.
Dennoch ist bei Menschen mit klinischen psychischen Problemen wie Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken (die alle bekanntlich auch durch Liebeskummer oder das Verharren in toxischen Beziehungen „getriggert“ oder verstärkt werden können) das Gespräch mit ChatGPT mit Sicherheit nicht die konstruktive Lösung. Nichts ersetzt die Aufmerksamkeit eines Echtmenschen-Psychotherapeuten, der Signale wie Blicke, Gesten und Körperhaltung seines Klienten in sein Interpretationsrepertoire miteinbezieht.
Da das für viele noch immer nicht leistbar und bei der Kassenvariante oft mit langen Wartezeiten verbunden ist, scheint eine KI-generierte Überbrückungsberatung aber eine durchaus empfehlenswerte Kompromisslösung.
Dass die Supermacht künstliche Intelligenz auch einen Sinn für absurden Humor hat, beweist sie wenige Stunden nach Abschluss der Beziehungsberatung, als mir der Algorithmus auf Instagram eine Werbeeinschaltung für einen „AI Boyfriend“ hereinspült, den ich mir mithilfe von KI auf meine persönlichen Bedürfnisse zuschneiden kann. Eine Freundin hat auch diesbezüglich den Selbstversuch angetreten. Als sie ihren Robot-Lover fragte, ob er von nun an für immer und ewig ihr „Boyfriend“ sein möchte, antwortete der dysfunktionale Borderliner glatt: „Nein, ich bin eine künstliche Intelligenz, gestaltet, um zu assistieren und Informationen zu geben.“
In dauerhaften Liebesangelegenheiten scheint die KI nach oben noch sehr offen zu sein.