Bhutans "Glücksminister": "Die Österreicher nörgeln gerne"
profil: "Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut." Die österreichische Wirtschaftskammer warb jahrelang mit diesem Slogan. Können Sie das unterschreiben? Ha Vinh Tho: Das ist diese Wirtschaftsdoktrin, der sogenannte Trickle-Down-Effekt, der besagt, dass der Wohlstand der Reichen irgendwann auch auf die unteren Gesellschaftsschichten durchsickert. Leider hat sich das weder wissenschaftlich noch statistisch erhärtet. Die Einkommensschere hat sich vielerorts erweitert, die Ungleichheit ist gestiegen. Bestes Beispiel sind die USA, wo immer noch über 30 Millionen Menschen keine Gesundheitsversicherung haben. Trotz Obama Care.
profil: Bhutan misst seine Entwicklung am Bruttonationalglück (BNG) statt am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Weshalb tut es das? Tho: Als der vierte König von Bhutan Anfang der 1970er-Jahre den Thron bestieg, war er 17 Jahre alt und wusste nicht, wie er mit seiner Macht umgehen sollte. Er ist zwei Jahre lang zu Fuß durch das Land gewandert, hat mit den Menschen gesprochen und versucht, zu verstehen, was sie von ihm erwarten. Sie wollten viele verschiedene Dinge: bessere Infrastruktur, bessere Ausbildung, bessere Gesundheitsversorgung. Der König kam zu dem Schluss, dass der gemeinsame Nenner all dieser Elemente Glück und Wohlergehen ist. Dies sollte fortan im Mittelpunkt stehen. Aber zunächst war das nur ein relativ abstrakter Gedanke.
Tatsächlich sagt das BIP weder etwas über die Verteilung von Wohlstand in einer Gesellschaft noch über deren Wohlergehen aus
profil: Wie wurde er konkret? Tho: Einmal wurde der junge König von einem indischen Journalisten nach dem bhutanischen BIP - das sehr gering war - gefragt. Er antwortete, wichtiger als das BIP sei das Bruttonationalglück. Die westlichen Staaten gehen meist ja nach wie vor davon aus, dass ein steigendes BIP zu mehr Lebensqualität in der Bevölkerung führt. Tatsächlich sagt das BIP weder etwas über die Verteilung von Wohlstand in einer Gesellschaft noch über deren Wohlergehen aus. Aber man konnte ja eine statistische Messung wie das BIP nicht einfach durch einen abstrakten Begriff ersetzen. Es gab dann ein Forschungsprojekt, für das nicht nur bhutanische Wissenschafter, sondern eine Reihe internationaler Experten engagiert wurden. Von der Oxford University über Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. 2008 wurde Bhutan zu einer Demokratie. Seither wird das BNG regelmäßig gemessen.
profil: Wie misst man Glück? Tho: Das oberflächliche Gefühl kann man natürlich nicht messen. Es ist rein subjektiv und wechselt auch ständig. Es geht vielmehr um gesellschaftliches Glück. Wie kann man die berechtigten Bedürfnisse der Menschen befriedigen? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sich Menschen in einem Land wohlfühlen? Das kann man messen. Es geht also um soziale, politische und Regierungsverantwortung. Dazu kommt: Im BNG spricht man von Glück als Kompetenz. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass etwa Menschen, die mehr Mitgefühl empfinden oder großzügiger sind, auch glücklicher sind. Soziale und emotionale Intelligenz sind Fähigkeiten, die geschult werden können. Darauf wird auch in den Erziehungsplänen der Schulen und Universitäten Rücksicht genommen.
profil: Und wie funktioniert die Glücksmessung in der Praxis? Tho: Alle drei Jahre schwärmen Hunderte Beamte aus und befragen rund 7000 Personen. Die sind statistisch relevant. Es dauert mehrere Stunden, um den gesamten Fragebogen auszufüllen. Das ist ein langwieriger Prozess. Die Umfrage ist eine Mischung aus objektiv quantitativen Daten - wie Ausbildung, Gesundheit, Einkommen -und subjektiv qualitativen Daten. Die Leute erzählen beispielsweise, ob sie sich sicher fühlen, ob sie sich ihrer Gemeinschaft zugehörig fühlen. Solche Sachen.
Jedes neue Gesetz und jedes Projekt wird darauf abgeklopft, welche Effekte und Konsequenzen es haben wird
profil: Wie wirkt sich die Glücksmessung auf die Wirtschaft des Landes aus? Tho: Das hat einen Einfluss auf alle Entscheidungen, die im Land getroffen werden. Es ist ein Instrument, das der Regierung hilft, Prioritäten zu setzen. Und es ist ein Kontrollsystem. Jedes neue Gesetz und jedes Projekt wird darauf abgeklopft, welche Effekte und Konsequenzen es haben wird. Vor ein paar Jahren etwa hat Bhutan überlegt, Mitglied der Welthandelsorganisation zu werden. Der Finanzminister war sehr dafür, weil es wirtschaftliche Vorteile gebracht hätte. Dann hat man gemerkt, auf vielen anderen Ebenen hätte das Projekt negative Auswirkungen gehabt. Etwa auf die Umwelt und die bhutanische Kultur. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Auch ein Bergbauprojekt, das wirtschaftlich positiv gewesen wäre, hat man nicht durchgeführt. Man hätte ganze Dörfer umsiedeln müssen, was negative Auswirkungen auf die Gemeinschaften gehabt hätte.
profil: Das heißt, die Wirtschaft wird immer nachrangig betrachtet? Tho: Nein, es soll im Gleichgewicht sein. Es ist eine ganzheitliche Art, Entscheidungen zu treffen, und immer ein Balanceakt. Denn Bhutan braucht natürlich wirtschaftliche Entwicklung. Nehmen Sie den Tourismus. Er ist eine große Einnahmequelle für harte Devisen. Wenn man jedoch die Grenzen einfach öffnet und der Massentourismus reinkommt, wäre das für Kultur, soziale Zusammengehörigkeit und Umwelt für ein so kleines Land mit einer geringen Bevölkerung sehr problematisch. Deshalb hat man sich entschlossen, den Strom der Touristen zu regulieren. Sie können nur über ein bhutanisches Reisebüro kommen, brauchen einen bhutanischen Reiseführer und müssen einen gewissen Tagsatz zahlen.
profil: Bhutan ist ein armes Land mit hoher Arbeitslosenrate. Im aktuellen "World Happiness Report" der UNO liegt es nur auf Rang 84. Kann man zu dem Schluss kommen , dass das BNG das falsche Instrument und das Experiment gescheitert ist? Tho: Das muss man differenzierter sehen. Zum einen sind die Indikatoren, die in diesem Report angewendet werden, zum großen Teil immer noch wirtschaftliche. Sodass ein armes Land natürlich keine Chance hat, eine hohe Platzierung zu erreichen. Nicht umsonst nehmen die ersten Plätze Dänemark und die Schweiz ein. Und dann muss man sehen, von wo wir gestartet sind. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es so gut wie keine Wirtschaft, keine Infrastruktur, kein Schulsystem und kein Gesundheitswesen. Heute ist es eines der wenigen Entwicklungsländer, wo das Gesundheitssystem frei zugänglich ist und alle Kinder zur Schule gehen und sogar studieren können. Gratis. Interessanterweise ist die Arbeitslosigkeit dadurch entstanden, weil das Ausbildungssystem zu gut funktioniert. Man hat jetzt viele junge Akademiker, für die es zu wenig Jobs gibt und die nicht auf die elterlichen Bauernhöfe zurück wollen. Bhutan ist kein Paradies und hat viele Probleme. Ich sehe es als eine Art Labor, wo etwas versucht wird, das ziemlich einzigartig ist. Aber in einem Labor scheitern Experimente auch. Das ist Teil des Lernprozesses.
Österreich hat an und für sich ziemlich gute Voraussetzungen
profil: Sie sind mit einer Österreicherin verheiratet, haben also etwas Einblick in das Land. Was müsste Österreich tun, um sein BNG zu steigern? Tho: Österreich hat an und für sich ziemlich gute Voraussetzungen. Es hat eine recht intakte Natur, eine reiche Kultur, und auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind verhältnismäßig gut. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass die Österreicher gerne ein bisschen pessimistisch sind, oft nur das sehen, was nicht funktioniert, und gerne nörgeln. Man müsste also die vorhin erwähnte Glückskompetenz steigern. Und man müsste bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen das Wohlergehen der Menschen viel bewusster in den Mittelpunkt stellen. Politik und Wirtschaft haben ja die Tendenz, sehr kurzfristig zu denken. Aber wir brauchen ein neues Weltbild: Wirtschaft muss den Menschen dienen, und nicht umgekehrt.
Ha Vinh Tho, 65 Der gebürtige Franzose, der einem vietnamesischen Adelsgeschlecht entstammt, arbeitete viele Jahre als Direktor der Ausbildungssektion beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Seit 2012 leitet er das Gross National Happiness Centre in Bhutan. Am 6. September wird er im Rahmen der Veranstaltung "Leuchtpunkte Talks" im Wiener Gartenbaukino mit Claudia Stöckl über Glück sprechen.