Bipolare Störungen: "Die Suizidrate wird verschwiegen"
profil: Thomas Melle schreibt, dass die bipolare Störung bei der Hälfte aller Betroffenen nicht als solche diagnostiziert wird. Mit gefährlichen Konsequenzen? Christian Simhandl: Natürlich. Es kommt aber noch hinzu, dass die Krankheit auch oft über Jahre falsch diagnostiziert wird. In manischen Phasen suchen ja die wenigsten Hilfe, da sind sie euphorisch, verfügen über eine gesteigerte Antriebskraft und sind besonders in der Hypomanie, der Vorstufe zur Manie, richtig gut drauf. Zum Psychiater gehen die Patienten eher in den depressiven Phasen. Wenn dann aber nur mit Antidepressiva behandelt wird, weil der Arzt von einer klassischen Depressions-Diagnose ausgeht, können die Manien richtiggehend angeheizt werden. Antidepressiva wirken dann im Sinne einer Verstärkung, also kontraproduktiv. Unlängst saß eine Patientin bei mir, die in einer Woche ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben hat. Man darf auch nicht verschweigen, dass es in solchen Perioden zu Suiziden kommen kann.
profil: Ein Gesprächspartner aus einer Selbsthilfegruppe erzählte mir, dass er schon ein Viertel seiner Leidensgenossen verloren hat. Simhandl: Diese Ziffer ist auch durchaus realistisch. Die Suizidrate wird natürlich in der Regel verschwiegen, weil es peinlich ist. Aber ein solcher Prozentsatz gilt auch in etwa für alle anderen europäischen Länder.
profil: Was sind die äußeren Anzeichen, die Angehörige in Alarmbereitschaft versetzen sollten? Simhandl: Ein plötzlicher High-Zustand, Überaktivität, schnelles Sprechen, eine Veränderung des Biorhythmus. Manche kommen da mit wenigen, ja bis zu zwei Stunden Schlaf aus und stehen am nächsten Tag völlig fit wieder auf. Das kann über Wochen so gehen. Andere werden aggressiv, entwickeln eine hohe Risikobereitschaft, zum Beispiel in Richtung Drogen oder Kriminalität. Manche wollen plötzlich Autorennen fahren.
profil: Ist ein Maniker überhaupt zur Krankheitseinsicht fähig? Simhandl: Schwer. Es ist in jedem Fall nicht sinnvoll, mit ihm zu diskutieren. Denn der Maniker ist immer der bessere Rhetoriker.
profil: Es gibt zahlreiche Studien, die besagen, dass der Anteil der Künstler und Kreativen mit bipolaren Störungen besonders hoch ist. Hat das Klischee von Genie und Wahnsinn seine Berechtigung? Simhandl: Erst heute morgen habe ich von der Schweizer Selbsthilfegruppe wieder eine erweiterte Liste berühmter Menschen mit einer solchen Erkrankung bekommen: Abraham Lincoln, Amy Winehouse, Janis Joplin, Isaac Newton, Leo Tolstoi, Kurt Cobain, Britney Spears, um nur einige zu nennen.
Aristoteles beschrieb, wie wertvoll diese Menschen für die Gesellschaft sind, ihre Kreativität, ihr soziales Engagement, ihre Verlässlichkeit
profil: Ist Britney Spears nicht eher eine Borderlinerin, wenn wir uns an die öffentliche Kahlrasur erinnern? Simhandl: Psychotherapeuten würden das vielleicht so sehen. Aus psychiatrischer Sicht sage ich, sie leidet an einer bipolaren Störung. Denken wir nur an ihren Ausspruch, dass sie in einer Nacht vier Nummer-1-Hits zustande bringt. Wenn Künstler ihre manischen Episoden zu nutzen verstehen und damit umzugehen gelernt haben, kann das durchaus produktiven Einfluss auf ihre Kreativität haben. Das haben schon die Philosophen der Antike wie Aristoteles und Plato erkannt. Aristoteles beschrieb, wie wertvoll diese Menschen für die Gesellschaft sind, ihre Kreativität, ihr soziales Engagement, ihre Verlässlichkeit. Die alten Griechen haben nicht nur die Pathologie gesehen. Die Ideen kommen zahlreich, nur verschwindet irgendwann die Konzentrationsfähigkeit.
profil: Psychotherapie und Medikation sollten auch hier in Kombination eingesetzt werden - wie bei nahezu allen seelischen Erkrankungen. Welche Medikamente und welche Therapierichtung sind denn Ihrer Meinung nach am wirksamsten? Simhandl: Nach wie vor wirkt Lithium, das ja Sting in einem eigenen Song thematisiert, bei 60 Prozent aller Patienten, 40 Prozent von dieser Gruppe haben kaum oder gar keine Beschwerden mehr, beim Rest tritt in jedem Fall Linderung ein. Inzwischen kann man die Dosis für den notwendigen Spiegel reduzieren, was auch die Nebenwirkungen reduziert. 20 Prozent der Erkrankten haben allerdings das Pech, dass das Lithium nicht greift. Zum Glück gibt es mittlerweile einer Fülle von Alternativen wie Neuroleptika und Antiepileptika.
profil: Wie kann man sich diese Wirkungslosigkeit bei manchen Patienten erklären? Simhandl: Wenn ich das wüsste, würde ich in Stockholm den berühmten Preis bekommen. Als Therapierichtung empfehle ich die Psychoedukation. Man sollte in der Gruppe versuchen, diese Krankheit in all ihren Facetten verstehen zu lernen, und sich mit anderen Betroffenen austauschen.
Wenn ich den Begriff Burnout höre, werde ich zornig
profil: Inzwischen ist das Paradoxon eingetreten, dass manche psychischen Störungen nahezu überdiagnostiziert werden, während schwer seelisch Erkrankte über Jahre nicht oder falsch behandelt werden. Simhandl: Das hat natürlich mit einer gewissen Form der Geschäftemacherei zu tun. Wenn ich den Begriff Burnout höre, werde ich zornig. Hinter dem Wort Burnout, das ja auch keine psychiatrische Diagnose ist, verstecken sich meist waschechte Depressionen, oft auch solche mit bipolarer Natur. Denn die bipolare Erkrankung passt natürlich in unsere Leistungsgesellschaft: Zuerst ist man hyperaktiv, perfektionistisch, kommt als Erster und geht als Letzter. Und in der depressiven Phase erscheint man dann entsprechend ausgebrannt, weil man ja zuvor brav seine Leistung erbracht hat.
Christian Simhandl, 60, ist Psychiater in Wiener Neustadt und Vorsitzender der 2004 von ihm gegründeten Österreichischen Gesellschaft für bipolare Erkrankungen.