#brodnig: Cyborgs ohne Manieren
Ich habe seit Kurzem ein seltsames Hobby: Ich folge einem Cyborg auf Twitter. Als "Cyborg“ versteht man dort Nutzer, die spezielle Software verwenden, um rund um die Uhr wie aus der Maschine geschossen twittern zu können.
Die "Washington Post“ enthüllte solch einen Account: Der 68-jährige Amerikaner John Sobieski twittert als @gerfingerpoken. Früher war er ein leidenschaftlicher Leserbriefschreiber, dann merkte er, dass er in sozialen Medien Gehör finden kann - vor allem, wenn ihm Software dabei hilft. Alle paar Minuten postet er absurde Ansichten - etwa, dass Expräsident Barack Obama ein Gründer der Terrorgruppe IS sei.
"Wie ein großes Megafon"
Sein Account twittert sogar, während Sobieski schläft. Das funktioniert, indem der Nutzer Automatisierungssoftware verwendet: Das Programm postet in einer Tour Beiträge, die Sobieski zuvor angelegt hat, und wiederholt diese Botschaften immer wieder. "Es ist wie ein großes Megafon“, erklärt der Wissenschafter Jonathan Albright in der "Washington Post“. Er hat den "Cyborg“ online entdeckt - solche Accounts versuchen, mit erhöhter Taktfrequenz beim Posten möglichst viele Menschen zu erreichen. Immerhin hat Sobieski 55.000 Follower gesammelt.
In den Anfangstagen des Internets gab es die Hoffnung, dass online eine Demokratisierung der Debatte stattfindet, dass im Web jeder Mensch eine Stimme bekommt. Doch User wie Sobieski führen dieses Konzept ad absurdum: Sie nutzen ihre Stimme nicht, um in ein respektvolles Gespräch zu treten, sondern um andere zuzutexten. Mit Staunen folge ich seinem Account - man kann daraus auch einiges lernen. Es ist sehr simpel geworden, mittels Software penetrant öffentlich aufzutreten. Sinnvoll wären jetzt neue Tools, die Nutzern helfen, solche Cyborg-Accounts prompt zu identifizieren. Wenn in der digitalen Debatte jemand mit einem virtuellen Megafon auftritt und versucht, andere niederzuplärren, sollte das zumindest sofort ersichtlich sein.