#brodnig: Panik!

Einfach retro: Die WHO stuft exzessives Videospielen als Krankheit ein.

Drucken

Schriftgröße

Wir leben in einer Gesellschaft, in der schnell etwas als Krankheit gilt - die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt nun auch exzessives Videospielen dazu. Sie spricht dann von einer "gaming disorder", wenn so viel Zeit mit digitalen Spielen verbracht wird, dass wichtige Teile des Lebens (persönliche Beziehungen, Familie, Bildung, Beruf) darunter leiden und dieses Verhalten mindestens 12 Monate andauert.

Ich bin kein großer Fan dieses Schrittes, weil er Videospiele verteufelt und harmlose Gamer womöglich pathologisiert werden. Auch existiert das Risiko, dass Symptome anstatt Ursachen behandelt werden: Nehmen wir an, ein Jugendlicher wird in der Schule gemobbt und verbringt dann sehr viel Zeit in einem Online-Rollenspiel, in dem er sich mit Gleichaltrigen austauscht und sozialen Kontakt pflegt. Ist in diesem Fall wirklich das Online-Spiel das Problem?

Mir scheint, jedes Jahrzehnt braucht seine simplen Feindbilder.

Diese Einwände äußern auch Experten auf dem Gebiet: In der Fachpublikation "Journal of Behavioral Addictions" haben sich mehr als 30 Wissenschafter gegen die Einführung eines neuen Krankheitstyps ausgesprochen. Die Forscher beklagen eine "schwache wissenschaftliche Grundlage".

"Wir räumen ein, dass Einzelne womöglich zu viel Zeit mit Videospielen verbringen - ebenso wie sie womöglich zu viel Zeit mit sozialen Medien, mit Arbeit oder Sex (...) verbringen", schreiben die Wissenschafter. Einfach gesagt: Nicht jede Tätigkeit, die manche Menschen zu exzessiv betreiben, muss automatisch eine Krankheit sein. Die Forscher beklagen, dass ein solcher Schritt "moral panic" - quasi moralisierende Panik - begünstigen könne.

Mir scheint, jedes Jahrzehnt braucht seine simplen Feindbilder: Vor 50 Jahren wurden die Beatles verteufelt, weil sie zu wild waren, weil sie lange Haare hatten und manche Besucher auf ihren Konzerten auszuckten. Heute werden Videospiele als Übel und sogar als potenzielle Krankheit eingestuft. Und ich wette: In 50 Jahren werden wir zurückblicken und diesen Schritt absurd finden.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

war bis Dezember 2023 Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.