Im Heliumrausch

Clint Eastwoods neuem Film „Jersey Boys“ fehlt es an Substanz

Kino. Clint Eastwoods neuer Film über „The Four Seasons“

Drucken

Schriftgröße

Ein paar kostbare Jahre lang gehörten sie zu den populärsten Bands der Welt: The Four Seasons aus New Jersey mischten 1962/63, etwa zeitgleich mit den Beach Boys und kurz bevor die britischen Invasoren mit den Pilzköpfen und dem Zungenlogo ihnen allen langfristig das Spiel verdarben, die angloamerikanischen Charts mit einer Serie von Nummer-eins-Titeln auf. Den Songs der Four Seasons ist bis heute nicht zu entgehen, jeder kennt, auch wenn er von ihren Autoren noch nie gehört haben mag, Schlager wie „Walk Like a Man“, „Sherry“ oder das von Frankie Vallis Heliumstimme besonders heftig durchkreischte „Big Girls Don’t Cry“ aus den Playlists der Golden-Oldies-Sender und dem Hintergrundrauschen diverser TV-Nostalgieprodukte.

Braver, als der Rock’n’Roll erlaubt
Während die Modebranche ihren letzten Schrei bekanntlich „Normcore“ nennt (und damit eine neue textile Bieder- und Unauffälligkeit meint), unterzieht das amerikanische Gegenwartskino, passend dazu, die Nicht-Hipster-Musik der konservativen Fifties und Sixties einer liebevollen Revision: Steven Soderbergh und Michael Douglas setzten im Vorjahr mit „Behind the Candelabra“ der Kitschklassik des Pelz- und Glitzerpianisten Liberace ein Denkmal, die Coen-Brüder loteten in dem exzellenten „Inside Llewyn Davis“ New Yorks Folkszene um 1960 aus. Nun zieht Regisseur Clint Eastwood mit seiner Nahaufnahme eines Mainstream-Pop-Phänomens nach: „Jersey Boys“ (Österreich-Kinostart: 1. August) erzählt, betont konventionell, die Gründungs-, Erfolgs- und Trennungsgeschichten der Doo-Wop-Legende The Four Seasons nach. Und ­tatsächlich musste die Band, bei aller Popularität und unleugbaren Entertainment-Qualitäten, schon in ihren frühen Jahren ein wenig outdated erscheinen, so wohlerzogen und effeminiert trat sie auf – braver, als der Rock’n’Roll erlaubt. So ist es auch die unauflösbare Differenz zwischen dem vorgeblich rauen Straßenleben der jungen Musiker und dem Konformismus ihrer Musik, die diesem Film zu schaffen macht.

Eastwood folgt dem am Broadway 2005 uraufgeführten Jukebox-Musical „Jersey Boys“; dessen Autoren, Marshall Brickman und Rick
Elice, verfassten auch das Drehbuch zum Film, und die meisten Protagonisten der Show, obwohl fast durchwegs Kinoneulinge, wurden als Hauptdarsteller für die Leinwandfassung verpflichtet. Die Dramaturgie folgt der produktiven, aber gefährdeten Freundschaft zwischen dem dominanten, hedonistischen Gitarristen Tommy DeVito (Vincent Piazza) und dem deutlich solideren Sänger Frankie Valli (John Lloyd Young) – vor allem aber einer Kette jener populären Songs, mit denen die Four Seasons ab 1962 reüssierten. Die Gründungsmitglieder der Band bewegen sich schon als Teenager in den frühen 1950er-Jahren im suburbanen Belleville, New Jersey, nur ein paar Kilometer von New York City entfernt, in kleinkriminellen Kreisen.

In den Spielszenen zwischen den Liedvorträgen nimmt Eastwood versuchsweise an Martin Scorsese Maß, der mit seinen Mafiadramen und Lasterlebensläufen thematisch und mit dem Illusionsbruchmittel des Direkt-in-die-Kamera-Erzählens (wie in „The Wolf of Wall Street“) auch formal Pate stand. Aber die Rekapitulation der Musikerbiografien bleibt, den Songs perfekt entsprechend, zahn- und harmlos; sie erweist sich in Eastwoods Zugriff zudem als sehr synthetisch, als künstlich von den Dialogen bis zum Make-up. In den vergleichsweise besten Momenten dieses Films verdichtet sich Popgeschichte zu einer Art von epischem Theater, jede Andeutung emotionaler Tiefe aber wird umgehend in Kinosentimentalität versenkt.
Clint Eastwoods dringendes Interesse an amerikanischer Populärmusik wird hier nicht zum ersten Mal manifest: In „Bird“ (1988) ließ er die Jazz- und Drogenkarriere des tragischen Virtuosen Charlie Parker, fabelhaft dargestellt von Forest Whitaker, Revue passieren. Allerdings wechselt der alte Meister nun das Register fundamental. Der Mangel an Substanz in der Musik der Four Seasons prägt auch den Film selbst; man weiß nicht recht, was Eastwood an der Detailbeschreibung einer nicht sonderlich spektakulären Laufbahn fasziniert haben könnte. Eastwoods Stoizismus, oft ein gutes Antidot gegen falsche Dramatik, unterstreicht hier nur noch die gegen null tendierende narrative Suspense, man könnte die Abgeklärtheit der Inszenierung stellenweise sogar für Lustlosigkeit halten. Dabei dürfte der 84-Jährige an Ermüdungssymptomen keineswegs laborieren: Seinen nächsten Film, die Navy-SEAL-Biografie „American Sniper“, hat er bereits abgedreht, sie soll 2015 in die Kinos kommen.

Das daueraufgekratzte Schauspiel, das „Jersey Boys“ bietet, hat nicht annähernd die Klasse, die man aus Eastwoods Regiearbeiten sonst gewohnt ist. Die Arbeit etwa, die Nebendarsteller Christopher Walken als vermittelnde graue Gangster-Eminenz verrichtet, findet – trotz der Heiterkeit, die er bisweilen ein wenig zu deutlich durchblitzen lässt – drei Ebenen oberhalb des Spiels seiner jungen Kollegen statt, die eher im B-Movie-Stil als auf Oscar-Niveau agieren. Young gelingen als Falsettkapazität Frankie Valli, der diesen Film übrigens, heute 80 Jahre alt und immer noch auf Tour, koproduziert hat, ein paar gute Momente – und die Szene, in der Songwriter Bob Gaudio (Erich Bergen) zur Band stößt und man erstmals gemeinsam „Cry for Me“ improvisiert, entwickelt ungeahnt mitreißende Qualitäten.

Routinierte Reise
Aber diese Augenblicke sind rar; zu routiniert legt Eastwood seine Reise durch die Musikszene zwischen 1951 und 1970 an, zu kursorisch mutet sein mit Pop-und Nostalgie-Ikonen gepflastertes Epochenbild an: Man tritt in der Musik- und Tanzshow „American Bandstand“ auf, die ­Sixties-Girl-Group The Angels singt nebenbei „My Boyfriend’s Back“, und TV-Legende Ed Sullivan schleicht bärbeißig durchs Bild.

Mit der Musealisierung der Four Seasons, ihrer Reunion in der Rock and Roll Hall of Fame 1990, bastardisiert Eastwood seinen Stoff schließlich konsequent, löst ihn im Anachronismus auf, in der Vermischung von Doo-Wop, Disco und Vegas-Orchester. Die lange Szene am Ende, die alle Beteiligten, singend und tanzend, noch einmal in klassischer Hollywood-Manier in einer neonerhellten Warner-Bros.-Studiostraße vereint, erinnert an den eigentlichen (und passenderen) Ort der „Jersey Boys“: die Musical-Bühne.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.