Fahim Amir

Corona oder Die Rache des Schuppentiers

Nachdenken über die Krise: Der Wiener Philosoph Fahim Amir über den Ursprung des Virus, wandelbare Politiker und das Paradox des Wartens.

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PROTOKOLL: SEBASTIAN HOFER

Der Wiener Philosoph und Autor Fahim Amir, dessen animalisch-politische Studie „Schwein und Zeit“ (Edition Nautilus, 2018) mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurde, erkennt auch in der Corona-Krise tierische Motive – und zumindest kurzfristig weitreichende gesellschaftspolitische Konsequenzen. Dem Nachdenken über die Krise widme er sich, selbst derzeit im akademischen Homeoffice tätig, zunehmend intensiv und auch im internationalen Austausch: „Nach den ersten zehn Tagen der Schockstarre fährt gerade die Maschine der Reflexion und Kommunikation hoch. Es finden Konferenzen, Debatten und Vorträge statt, es wird gestreamt, und niemand weiß, wie das geht, aber man lernt es eben innerhalb kürzester Zeit.“ Für diesen Artikel diktierte Amir profil vier Gedanken zur Corona-Krise. Es geht um antikapitalistische Schuppentiere, die paradoxe Gegenwart der Zukunft, wandelbare Politiker – und um die Frage, welche Art von Solidarität Kassenkräfte wirklich verdienen.

1. Corona ist die Rache des Schuppentiers.

Was keiner politischen Partei oder Gewerkschaft je gelungen ist, nämlich die Räder des globalen Kapitalismus zum Stillstand zu bringen, hat eine Allianz aus Schuppentieren und Fledermäusen zustande gebracht. Das Problem scheinen nicht AktivistInnen zu sein, die ansteckende Tiere aus Labors befreien und Epidemien auslösen, wie dies in Endzeitfilmen gerne präsentiert wird. Das Problem scheinen vielmehr feuchtfröhliche Après-Ski-Orte, ausbeuterische Tierhaltung und die kulinarischen Vorlieben der Eliten zu sein. Ein überwiegender Teil aller neuen Infektionskrankheiten sind zoonotischen Ursprungs, das heißt, sie sind vom Tier auf den Mensch übergesprungen. Ob das „Vogel-“ oder „Schweinegrippe“ ist, SARS, MERS, HIV oder Ebola – es hat stets damit zu tun, dass Tiere extrem intensiv oder in großer Menge bejagt, gehalten oder gehandelt werden, um von Menschen verspeist zu werden. Habitatzerstörung befördert den mikroskopischen "Fremdenverkehr" zwischen Spezies. Im Fall von Corona weisen genetische Untersuchungen darauf hin, dass der Erreger von Fledermäusen an Schuppentiere und von diesen an uns weitergegeben worden ist. Das Schuppentier, das an einen länglichen Tannenzapfen mit Beinen erinnert, gilt in China als eine elitäre Delikatesse und teures Heilmittel. Es ist das am öftesten geschmuggelte Wildtier der Welt und ist in China mittlerweile de facto ausgestorben. Nun erleben wir seine Rache. Rache bezeichnet im politischen Denken zumeist eine aktive, absichtsvolle und sich selbst bewusste Strategie. Aber diese Krise, und nicht nur diese, zwingt uns dazu, den Begriff des Politischen zu weiten und neu zu denken. Natur ist nicht bloß passiver Gegenstand politischer Einflussnahme, sondern eine widerspenstige Akteurin des Politischen.

2. Corona, Körper und die Zeit: Zurück in die Zukunft.

In den meisten industrialisierten Ländern nahm man lange nicht zur Kenntnis, was sich mit Corona anbahnt. Auch Europa hat es kalt erwischt. Wir dachten: Das kann uns nicht passieren. Wir dachten, wir hätten andere Körper. Hunger, Krisen, Viren gab es stets nur anderswo, in den Tropen, im fernen Osten. Wir waren dafür offenbar rein körperlich nicht anfällig. Uns konnten solche schrecklichen Dinge nicht zustoßen. Der zweite Gedanke war: Und wenn so etwas doch passiert, dann haben wir die technischen Mittel, um darauf zu reagieren. Wir werden das hinkriegen. Drittens war lange klar: Wir haben die finanziellen Mittel, so etwas zu bekämpfen. Das waren die drei Gedanken, die uns daran gehindert haben, mit Corona zu rechnen. Dieses Mindset löst sich nun auf.

Eine Besonderheit dieser Situation liegt in der Tatsache, dass wir nun scheinbar Zeugen der eigenen Zukunft werden, die sich in anderen Ländern bereits realisiert hat. Wir sehen unsere eigene Zukunft: in Südkorea, in Italien. Einmal als Geschichte mit gutem Ende, einmal als Katastrophe. Wir nehmen zwei sehr unterschiedliche Zukünfte war. Und auch die Vergangenheit kehrt wieder: Die Alpen waren bis ins 18. Jahrhundert hinein als schreckliche, bizarre und fürchterliche Landschaft verrufen. Durch das Tiroler Krisenmanagement könnte es bald heißen – back to the future.

3. Corona und Gesellschaft: Applaus für die Kassafrauen.

Das Virus wirkt wie ein Stroboskop, das die gesellschaftliche Wirklichkeit in ein anderes Licht taucht. Man weiß noch nicht: ist es eine neue, fremde Realität, oder ist es die alte, die nun sichtbarer geworden ist? Die Situation erinnert auch an eine magische Drehtüre für Politiker, die als bärbeißige Neoliberale hineingehen und als Sozialisten wieder herauskommen. Plötzlich ist Solidarität alles, und Geld spielt keine Rolle.

Im Neoliberalismus ist der Einzelne immer an allem selbst schuld. Ob du nicht fit bist oder arbeitslos oder traurig oder hässlich: selber schuld. Das Schöne an der Corona-Krise ist, dass so viele Menschen daran völlig unschuldig sind. Die Natur ist schuld! Das Virus übernimmt die Funktion, die früher der Dämon innehatte: Man war besessen und deshalb fehlbar, amoralisch oder delinquent. Eine fremde Macht ergriff von einem Besitz, konnte aber auch kunstvoll wieder ausgetrieben werden. In der Moderne wurde dieses Böse verinnerlicht. Wir könnten uns erlauben, die aktuelle Situation als ein Moment von Freiheit zu verstehen, in der wir zumindest von dieser besonderen Form der modernen Schuld befreit sind.

Gleichzeitig scheint die angemessene Reaktion auf Corona genau das zu sein, was der Neoliberalismus vorangetrieben hat: die Vereinzelung, die Entsolidarisierung, die Einsetzung von Ich-AGs und privater Vorsorge. Nun wird die soziale Isolierung als Schutzmaßnahme auf die Spitze getrieben. Mächtige Interessengruppen haben freilich durchgesetzt, dass große Teile der Bevölkerung ganz normal zur Arbeit gehen müssen. Zugleich macht sich mancherorts eine autoritäre Zivilcourage von unten breit, die wütend all das bei anderen maßregelt, was sie sich selbst versagt oder versagen muss. Der Stress des Homeoffice rotiert als Ressentiment nach außen. Und wenn gerade Leute, die gar keine Ahnung haben, wie sich das Leben einer Kassenkraft abspielt, von wieviel sie leben muss etc., nun an vorderster Front applaudieren, applaudieren sie in Wirklichkeit sich selbst. Solidarität ist nicht gleich Charity. Solidarität ist riskant und vollzieht sich unter perspektivisch Gleichen. Der wohlfeile Applaus erinnert hingegen an die Landgräfin, die ihren Kutscher lobt. Der viral biedermeierliche Hashtag #staythefuckhome passt denn auch ideal zu autoritärer Ordnungspolitik und nationalistischer Abschottung. Ich schlage #stayresponsible als vernünftigere Alternative vor.

4. Corona und Individuum: Bitte Warten.

Wir befinden uns in einer Situation des Wartens: auf die nächsten Maßnahmen der Regierung. Auf den Härtefonds. Auf den Maturatermin. Auf den Neubeginn des gesellschaftlichen Lebens. Warten hat zunächst einmal eine passive Dynamik. Warten stößt uns zu und dauert an, bis von außen ein Impuls kommt: es geht wieder weiter. Wir können diese Passivität aber auch überspringen, indem wir das Warten mit Inhalt füllen, mit Aktivität. Wahrhaft warten können wir nur, wenn wir noch etwas vom Leben erwarten. Sonst vegetieren wir. Es gibt zwei weitere Dimensionen des Wartens: eine situative und eine existenzielle. Wir warten auf die Eröffnung des Eissalons, und wir warten auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Oder darauf, dass das Leben endlich einen Sinn ergibt. Je nach Beruf, Bildung und Einkommen kann Warten ein angenehmes, meditatives dolce far niente bedeuten: endlich Zeit, sich den Baum in Park oder Garten anzusehen und sich um sich selbst zu kümmern. Warten kann aber auch das Gegenteil sein. Schließlich besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem entspanntem Warten des Hobby-Anglers und dem gestressten Warten der Sex-Arbeiterin. Warten ist also ambivalent und hat eine paradoxale Fülle. Es kann aktiv oder passiv sein, nervenaufreibend oder entspannend. Es existieren auch zahlreiche, verwirrend effektive Technologien des Wartens: das Nummernziehen beim Arzt, die Wartezeitprognose in der Telefonhotline, die bei manchen Reiseanbietern derzeit bis zu 21 Stunden beträgt. Wir dürfen als die, die Warten lassen, das Warten nicht leichtfertig abkürzen. Es ist verdächtig, wenn Dinge zu schnell passieren. Wenn ein Immobilienprojekt sofort bewilligt wird, riecht es stark nach Korruption. So hat unsere Situation zugleich die unangenehmsten Züge von Schutz- und Untersuchungshaft: Man weiß leider nie genau, wann so etwas endet.