Gesellschaft

Das kleine Mädchen, der Burli und das Losungswort „Himmel“

Wie der Gerichtsmediziner Christian Reiter die „Schwarze Witwe“ Elfriede Blauensteiner überführte. Ein Vorabdruck aus Florian Klenks neuem True-Crime-Buch „Über Leben und Tod“.

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Im Jahr 1996 beschrieb der spätere Bestsellerautor Daniel Glattauer, damals noch Gerichtsreporter der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, Elfriede Blauensteiner als „rüstige Wienerin, die statt Tauben alte Menschen, vorzugsweise alleinstehende Männer, vergiftet“. Naturgemäß fiel das jahrelang keinem auf, schrieb Glattauer, aber „ihretwegen werden jetzt wieder Gräber geöffnet und Leichen exhumiert“. Warum tat sie das? Weil sie gierig war und böse? Es lag an Christian Reiter, diese Exhumierungen durchzuführen, Grüfte und Särge zu öffnen, um die Mordserien akribisch aufzuklären. Eine Tätigkeit, die ihn faszinierte, wie er mir ja oft erzählte. (…)

In Reiters Studierzimmer wühle ich, fast dreißig Jahre nach dem ersten Blauensteiner-Prozess, im Handarchiv des Professors. Er hat die Blauensteiner-Akte für mich vom Dachboden geholt, wo er sie wie ein Geschichtsdokument aufbewahrt hat. Ich sehe Fotos des jungen Mediziners Reiter, Polizeifotos der Leichen, ich lese die akribisch transkribierten Tonbandprotokolle der Gespräche von Gerichtspsychiatern mit Elfriede Blauensteiner. (…)

Und plötzlich versinke ich in Blauensteiners Erzählungen über ihre Kindheit im Wien der Nazizeit, über ihr Überleben im brutal kalten Nachkriegsösterreich. Die Aussagen sind im O-Ton protokolliert, man hört die Wiener Mörderin förmlich näseln. Ich blättere auch durch die Kontaktanzeigen ihrer ermordeten Männer, hilflose Witwer, einst Kriegskinder, patriarchal erzogen, aber nie wirklich selbstständig geworden. Sie werden auch im hohen Alter noch „Burli“, „Fritzi“ oder „Rudi“ genannt.

Ich betrachte die von der Polizei angefertigten Bilder der Opfer, sehe ihre blassen, nackten Körper auf dem Seziertisch. Geschundene Männer, die sich in ihrer Verlorenheit mittels Inserat einer Frau anvertrauten, die ihnen wie eine Magd den Haushalt führen und sie verwöhnen sollte. Und dann lese ich Reiters Rekonstruktion von Blauensteiners medizinischen Beobachtungen.

Der Fall Blauensteiner fügt sich zu einem großen gesellschaftspolitischen Drama, so, als ob die Schriftsteller Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Wolf Haas und Peter Turrini eine vielstimmige Geschichte der Zweiten Republik aufgeschrieben hätten. Der Fall Blauensteiner, betrachtet durch die in Reiters Studierzimmer ausgebreiteten Akten, ist mehr als die Geschichte der „Bestie“ oder einer „Schwarzen Witwe“, es handelt sich um das Schicksal eines Mädchens, geboren 1931, das während der Nazizeit und im finster-verlogenen Nachkriegsösterreich zum Gewaltopfer wurde.

Und dann ist er krank geworden, ohne mein Zutun.

Elfriede Blauensteiner

zu Prozessbeginn im Februar 1997

Reiter sagt, Döcker sei eine „hervorragend erhaltene Leiche“ gewesen. Die Todesursache „Lungenentzündung“ hat er schnell diagnostiziert. Reiter aber ahnte, was Blauensteiner im Schilde geführt hatte: Sie schädigte die Körper ihrer Opfer mit Medikamenten so massiv, dass diese krank wurden und starben – allerdings erst zu einem Zeitpunkt, an dem das Gift nicht mehr im Körper nachweisbar war. „Das war das Geniale an ihrer Methode“, sagt Reiter. „Sie erfand einen zweizeitigen Tötungsmechanismus.“ Schwächen durch Vergiften, Sterben an einer natürlichen hinzugetretenen Todesursache.

Was fehlte, war der letzte, der schlüssige Beweis für diese Theorie: der Nachweis von Euglucon. Christian Reiter fand ihn in der Gruft von Franziska Köberl, einer älteren Dame, die Blauensteiner wie eine Tochter bei sich aufgenommen hatte. Köberl hatte das, was Blauensteiner zum Spielen brauchte: Geld, sehr viel Geld. Zwei Millionen Schilling waren auf einem Sparbuch, Losungswort „Himmel“.

Obwohl auch Köberl nie zuckerkrank war, mischte ihr Blauensteiner Euglucon in wachsender Dosis in Getränke und Speisen. Köberl war aber eine Naschkatze, hatte immer eine Tafel Schokolade parat. Verspürte sie in der Folge von Unterzuckerung Heißhunger, stoppte Schokolade den fatalen Verlauf.

Eines Tages aber war keine Schokolade vorhanden. Mit Verdacht auf Schlaganfall wurde sie in ein Krankenhaus transportiert. Die Rettung stellte eine „massive Unterzuckerung“ fest und verabreichte ihr eine Zuckerinfusion. Doch zu spät: Sie starb laut Spitalsdokumentation infolge eines „Schlaganfalles, natürlicher Tod“, sie wird ohne Obduktion bestattet.

Reiters Glück dabei: Köberl leistete sich eine Gruftbestattung. Dabei wird der Leichnam luftdicht in einen Metallsarg eingelötet, er lagert darin wie in einer Konservendose. Der Metallsarg wird in einem hölzernen Übersarg in einen Betonschacht versenkt und kommt nicht in Berührung mit feuchter Erde. „Für einen Gerichtsmediziner“, sagt Reiter, „eine ideale Leiche.“ Köberl habe sich „in einem hervorragenden Erhaltungszustand befunden“. In Grüften, so lernt man von Reiter, liegen noch nach Jahren Tote, die man wie frische Leichen sezieren kann. Man müsse allerdings „bedenken, dass durch das lange Liegen die Organe sehr weich werden“. Es sei „alles sehr mürbe und zerfließlich“. Reiters Befund von Frau Köberl: kein Schlaganfall. Aber im Sarg war Flüssigkeit, darin enthalten: Euglucon. Anhand der Menge des Wirkstoffes errechneten die Chemiker, wie viele Tabletten Köberl verabreicht worden waren: weit mehr als therapeutisch üblich verordnet wird.

Blauensteiner war überführt. Die Geschworenen verurteilen sie in zwei Prozessen aufgrund von drei Morden zu lebenslanger Haft, zwei weitere Morde, einen an ihrem zweiten Mann Rudolf, klagt die Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen nicht mehr an. Blauensteiner hatte ihren Rudi vorsorglich einäschern lassen. Die Gerichtspsychiaterin, die sie stundenlang befragte, kam zu dem Ergebnis, dass sie geistig nicht „abnorm“, also voll zurechnungsfähig sei. Blauensteiner sollte den Rest ihres Lebens in der Justizanstalt Schwarzau verbringen. Dort starb sie aber schon im November 2003 im Alter von 72 Jahren.

Woher kommt nun das Böse? Aus den traumatischen Erfahrungen der Kindheit? Reiter, der Blauensteiner während der Gerichtsverhandlungen gelegentlich den Puls fühlte und ihr Vertrauen gewann, erinnert sich an eine „manierierte, zum Teil größenwahnsinnig wirkende Frau“. Immer wieder sagte sie: „Der liebe Gott und ich entscheiden, wer sterben wird.“ In der Haft entdeckten Ärzte schließlich einen Hirntumor, der sie selbst zum Pflegefall machte und letztlich zu Tode brachte. Heute noch beschäftigt Reiter eine Frage: Hat der Krebs zur Zeit ihrer Taten schon gewuchert? (…)

Hirntumore, sagt Reiter, können Persönlichkeitsveränderungen hervorrufen. Die Leute können „überwertige Ideen entwickeln“, sie können enthemmter werden. Aber es ist nicht so, dass sie gänzlich unfähig sind, sich zu steuern. Die Krankengeschichte von Elfriede Blauensteiner werfe grundsätzliche Fragen auf: Ab wann beginnt jemand nicht mehr verantwortlich zu sein für seine Handlungen? Wie vieler Krankheit im Gehirn bedarf es, ehe ein Arzt zu der Ansicht kommt, eine Person sei nicht mehr verantwortlich für ihr Tun? Die „Bestie Mensch“ ist also nicht nur das Produkt seiner Sozialisierung, sondern auch eine Konsequenz der Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems. Reiter sagt: „Aber das allein wäre doch eine banale medizinische Erklärung.“