Das kleine Mädchen, der Burli und das Losungswort „Himmel“
Wie der Gerichtsmediziner Christian Reiter die „Schwarze Witwe“ Elfriede Blauensteiner überführte. Ein Vorabdruck aus Florian Klenks neuem True-Crime-Buch „Über Leben und Tod“.
22.08.24
Drucken
Schriftgröße
Im Jahr 1996 beschrieb der spätere Bestsellerautor Daniel Glattauer, damals noch Gerichtsreporter der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, Elfriede Blauensteiner als „rüstige Wienerin, die statt Tauben alte Menschen, vorzugsweise alleinstehende Männer, vergiftet“. Naturgemäß fiel das jahrelang keinem auf, schrieb Glattauer, aber „ihretwegen werden jetzt wieder Gräber geöffnet und Leichen exhumiert“. Warum tat sie das? Weil sie gierig war und böse? Es lag an Christian Reiter, diese Exhumierungen durchzuführen, Grüfte und Särge zu öffnen, um die Mordserien akribisch aufzuklären. Eine Tätigkeit, die ihn faszinierte, wie er mir ja oft erzählte. (…)
In Reiters Studierzimmer wühle ich, fast dreißig Jahre nach dem ersten Blauensteiner-Prozess, im Handarchiv des Professors. Er hat die Blauensteiner-Akte für mich vom Dachboden geholt, wo er sie wie ein Geschichtsdokument aufbewahrt hat. Ich sehe Fotos des jungen Mediziners Reiter, Polizeifotos der Leichen, ich lese die akribisch transkribierten Tonbandprotokolle der Gespräche von Gerichtspsychiatern mit Elfriede Blauensteiner. (…)
Und plötzlich versinke ich in Blauensteiners Erzählungen über ihre Kindheit im Wien der Nazizeit, über ihr Überleben im brutal kalten Nachkriegsösterreich. Die Aussagen sind im O-Ton protokolliert, man hört die Wiener Mörderin förmlich näseln. Ich blättere auch durch die Kontaktanzeigen ihrer ermordeten Männer, hilflose Witwer, einst Kriegskinder, patriarchal erzogen, aber nie wirklich selbstständig geworden. Sie werden auch im hohen Alter noch „Burli“, „Fritzi“ oder „Rudi“ genannt.
Ich betrachte die von der Polizei angefertigten Bilder der Opfer, sehe ihre blassen, nackten Körper auf dem Seziertisch. Geschundene Männer, die sich in ihrer Verlorenheit mittels Inserat einer Frau anvertrauten, die ihnen wie eine Magd den Haushalt führen und sie verwöhnen sollte. Und dann lese ich Reiters Rekonstruktion von Blauensteiners medizinischen Beobachtungen.
Der Fall Blauensteiner fügt sich zu einem großen gesellschaftspolitischen Drama, so, als ob die Schriftsteller Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Wolf Haas und Peter Turrini eine vielstimmige Geschichte der Zweiten Republik aufgeschrieben hätten. Der Fall Blauensteiner, betrachtet durch die in Reiters Studierzimmer ausgebreiteten Akten, ist mehr als die Geschichte der „Bestie“ oder einer „Schwarzen Witwe“, es handelt sich um das Schicksal eines Mädchens, geboren 1931, das während der Nazizeit und im finster-verlogenen Nachkriegsösterreich zum Gewaltopfer wurde.
Und dann ist er krank geworden, ohne mein Zutun.
Elfriede Blauensteiner
zu Prozessbeginn im Februar 1997
Reiter sagt, Döcker sei eine „hervorragend erhaltene Leiche“ gewesen. Die Todesursache „Lungenentzündung“ hat er schnell diagnostiziert. Reiter aber ahnte, was Blauensteiner im Schilde geführt hatte: Sie schädigte die Körper ihrer Opfer mit Medikamenten so massiv, dass diese krank wurden und starben – allerdings erst zu einem Zeitpunkt, an dem das Gift nicht mehr im Körper nachweisbar war. „Das war das Geniale an ihrer Methode“, sagt Reiter. „Sie erfand einen zweizeitigen Tötungsmechanismus.“ Schwächen durch Vergiften, Sterben an einer natürlichen hinzugetretenen Todesursache.
Was fehlte, war der letzte, der schlüssige Beweis für diese Theorie: der Nachweis von Euglucon. Christian Reiter fand ihn in der Gruft von Franziska Köberl, einer älteren Dame, die Blauensteiner wie eine Tochter bei sich aufgenommen hatte. Köberl hatte das, was Blauensteiner zum Spielen brauchte: Geld, sehr viel Geld. Zwei Millionen Schilling waren auf einem Sparbuch, Losungswort „Himmel“.
Obwohl auch Köberl nie zuckerkrank war, mischte ihr Blauensteiner Euglucon in wachsender Dosis in Getränke und Speisen. Köberl war aber eine Naschkatze, hatte immer eine Tafel Schokolade parat. Verspürte sie in der Folge von Unterzuckerung Heißhunger, stoppte Schokolade den fatalen Verlauf.
Eines Tages aber war keine Schokolade vorhanden. Mit Verdacht auf Schlaganfall wurde sie in ein Krankenhaus transportiert. Die Rettung stellte eine „massive Unterzuckerung“ fest und verabreichte ihr eine Zuckerinfusion. Doch zu spät: Sie starb laut Spitalsdokumentation infolge eines „Schlaganfalles, natürlicher Tod“, sie wird ohne Obduktion bestattet.
Reiters Glück dabei: Köberl leistete sich eine Gruftbestattung. Dabei wird der Leichnam luftdicht in einen Metallsarg eingelötet, er lagert darin wie in einer Konservendose. Der Metallsarg wird in einem hölzernen Übersarg in einen Betonschacht versenkt und kommt nicht in Berührung mit feuchter Erde. „Für einen Gerichtsmediziner“, sagt Reiter, „eine ideale Leiche.“ Köberl habe sich „in einem hervorragenden Erhaltungszustand befunden“. In Grüften, so lernt man von Reiter, liegen noch nach Jahren Tote, die man wie frische Leichen sezieren kann. Man müsse allerdings „bedenken, dass durch das lange Liegen die Organe sehr weich werden“. Es sei „alles sehr mürbe und zerfließlich“. Reiters Befund von Frau Köberl: kein Schlaganfall. Aber im Sarg war Flüssigkeit, darin enthalten: Euglucon. Anhand der Menge des Wirkstoffes errechneten die Chemiker, wie viele Tabletten Köberl verabreicht worden waren: weit mehr als therapeutisch üblich verordnet wird.
Blauensteiner war überführt. Die Geschworenen verurteilen sie in zwei Prozessen aufgrund von drei Morden zu lebenslanger Haft, zwei weitere Morde, einen an ihrem zweiten Mann Rudolf, klagt die Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen nicht mehr an. Blauensteiner hatte ihren Rudi vorsorglich einäschern lassen. Die Gerichtspsychiaterin, die sie stundenlang befragte, kam zu dem Ergebnis, dass sie geistig nicht „abnorm“, also voll zurechnungsfähig sei. Blauensteiner sollte den Rest ihres Lebens in der Justizanstalt Schwarzau verbringen. Dort starb sie aber schon im November 2003 im Alter von 72 Jahren.
Woher kommt nun das Böse? Aus den traumatischen Erfahrungen der Kindheit? Reiter, der Blauensteiner während der Gerichtsverhandlungen gelegentlich den Puls fühlte und ihr Vertrauen gewann, erinnert sich an eine „manierierte, zum Teil größenwahnsinnig wirkende Frau“. Immer wieder sagte sie: „Der liebe Gott und ich entscheiden, wer sterben wird.“ In der Haft entdeckten Ärzte schließlich einen Hirntumor, der sie selbst zum Pflegefall machte und letztlich zu Tode brachte. Heute noch beschäftigt Reiter eine Frage: Hat der Krebs zur Zeit ihrer Taten schon gewuchert? (…)
Hirntumore, sagt Reiter, können Persönlichkeitsveränderungen hervorrufen. Die Leute können „überwertige Ideen entwickeln“, sie können enthemmter werden. Aber es ist nicht so, dass sie gänzlich unfähig sind, sich zu steuern. Die Krankengeschichte von Elfriede Blauensteiner werfe grundsätzliche Fragen auf: Ab wann beginnt jemand nicht mehr verantwortlich zu sein für seine Handlungen? Wie vieler Krankheit im Gehirn bedarf es, ehe ein Arzt zu der Ansicht kommt, eine Person sei nicht mehr verantwortlich für ihr Tun? Die „Bestie Mensch“ ist also nicht nur das Produkt seiner Sozialisierung, sondern auch eine Konsequenz der Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems. Reiter sagt: „Aber das allein wäre doch eine banale medizinische Erklärung.“
Der liebe Gott und ich entscheiden, wer sterben wird.
Elfriede Blauensteiner
Es ist auch das Drama eines misshandelten Kindes, einer von ihrem Stiefvater und später von ihrem Mann getretenen Frau. Traumatisiert durch erbarmungslose Eltern. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das schon früh das Glücksspiel als Flucht aus ihrer Not lieben lernte – und die dabei ihr Taschengeld an den herzlosen Stiefvater verlor. Als Erwachsene, so zeigen es die Akten, wollte sie offenbar eines nicht: erneut verarmen, wieder Opfer von Männern werden. „Sie hat nun einmal zwei extreme Feindbilder in ihrem Leben: Armut und Männer. Irgendwann fand sie ihr todsicheres Mittel dagegen“, erkannte Glattauer. Sie schlüpfte nun in die Rolle der Gewalttäter. Sie war jetzt jene, die sich holte, was anderen gehörte. Sie übte rohe Gewalt aus gegen Schwache und Moribunde. (…)
Blauensteiner ist 65 Jahre alt, als ihre Mordserie auffliegt – durch Christian Reiter. Ihr letztes Mordopfer gelangte auf seinen Seziertisch, es ist Alois Pichler.
Rossatz in der Wachau im Jahr 1995. Alois Pichler gibt in den „Niederösterreichischen Nachrichten“ eine Kontaktanzeige auf. „Witwer vom Staatsdienst im Ruhestand, alleinstehend, römisch-katholisch, 75, 1,65, fühlt sich einsam. Neues Haus in herrlicher Lage nahe Göttweig, Wachau. Führerschein erwünscht.“ Das Nachrichtenmagazin profil wusste später zu berichten, Pichlers Frau habe ihm noch zwei Jahre vor ihrem Tod einen Koffer gepackt, für den Fall, dass er irgendwann einmal ins Spital muss und sie vielleicht nicht mehr am Leben sein wird. Pichler war hilflos ohne seine Frau.
Elfriede Blauensteiner meldet sich auf seine Annonce, nennt Pichler liebevoll „Burli“, pflegt ihn, betreut ihn – und sperrt ihn weg. „Und auf einmal“, sagt Christian Reiter, „ist Pichler mit Unterzuckerungen krank geworden“ und dann „sehr schnell und unerwartet verstorben“. Aber wie konnte das sein? Er hat doch gerade noch die Obstbäume beschnitten, er war „rüstig“, wie die Nachbarn einander erzählten, trotz der Kinderlähmung, die eines seiner Beine versteift hatte.
Elfriede Blauensteiner, so weiß man es heute, ist zu Pichlers Begräbnis mit einem Leibwächter erschienen, dem Herrn Wrba. Und der Herr Wrba gestand später im Fernsehen, Blauensteiner habe ihm am Weg vom Begräbnis nach Hause 300.000 Schilling angeboten, wenn er vor den Behörden bestätigte, dass ihr Alois Pichler das Haus vererbt habe. Er lehnte ab.
Christian Reiter hatte Pichler damals obduziert und war ratlos, denn „ich hatte bei der Leichenöffnung keine Todesursache gefunden, weshalb ich eine toxikologische Untersuchung veranlasste“. Also forschten die Chemiker weiter. In Pichlers Körper finden sie eine Substanz in einer überhöhten Konzentration: das Medikament Anafranil, ein Psychopharmakon, ein Antidepressivum, kein potentes Gift. Reiter entdeckt dann noch etwas: Anzeichen einer Unterkühlung. Er befragt den Hausarzt, wieso er Anafranil verordnet habe. War er depressiv? Hatte er Schlafstörungen? Der Praktiker ist überrascht. Er hatte Pichler kein Anafranil verschrieben, er sei nie depressiv gewesen.
Ich suche eine Leich. Den Döcker Fritz. Gibt's von dem noch etwas?
Christian Reiter
ermittelt in der Anatomie
Reiters Hypothese: Blauensteiner hat Pichler durch die heimliche Verabreichung von Anafranil geschwächt, in einen Dämmerzustand verbracht und dann unterkühlt, sodass er starb. Dann rief sie die Rettung und zeigte sich empathisch besorgt. Ein perfektes Verbrechen.
Reiter alarmiert die Polizei: „Diese Frau ist schwer verdächtig.“ Die Kriminalisten schlagen noch nicht zu, sondern sammeln Beweise. Sie hören Blauensteiners Telefon ab, durchleuchten ihr Vorleben, ermitteln die Namen ihrer Pfleglinge und ihrer verstorbenen Ehemänner. Dann schnappt die Fangschaltung tatsächlich zu: Blauensteiner gesteht gegenüber einer Freundin ihre Taten, prahlt förmlich damit. Sie habe ihre Pfleglinge mittels Euglucon geschwächt und dement gemacht – und in diesem Zustand ans offene Fenster gelegt und erkranken lassen. Weil ihr das Euglucon ausgegangen sei, habe sie Pichler stattdessen Anafranil in die Zitronenlimonade gegeben.
Die Polizei nimmt Blauensteiner fest, sie gesteht, widerruft die Geständnisse, später wird sie einer Zellengenossin in der U-Haft allerdings erzählen, dass sie in der Tiefkühltruhe nasse Handtücher einlagerte, um Pichler damit einzuwickeln.
Aus dem Tonbandprotokoll der Blauen-steiner: „Ich habe in einer Woche eine Million Schilling gewonnen (…) Diese Million habe ich in ein Kuvert gelegt, habe es zugeklebt und habe daraufgeschrieben: ‚Dieses Geld gehört meiner Tochter.‘ Später musste ich einen Ring versetzen, der hat 311.000 Schilling gekostet, und ich habe dafür 110.000 im Dorotheum bekommen, das Geld habe ich sofort verspielt. Ich habe einen Kredit aufgenommen mit öS 300.000, das habe ich alles verspielt. Ich habe zum guten Schluss alles verspielt, es ist nichts übrig geblieben. Ich habe mir 1994 gedacht, ich suche mir einen Lebenspartner.“
„Witwe, 64/1,64/63, gepflegt, alleinstehend, Führerschein, Stadtwohnung, Ortswechsel möglich, suche einfachen, unkomplizierten Mann.“ So wirbt Blauensteiner in der „Kronen Zeitung“ um ein weiteres Opfer. Fritz Döcker meldet sich aufgrund der Annonce.
„Der Herr Döcker hat mir geschrieben. Er war ein gütiger, ruhiger, besonnener Maurer in Pension, da gab es kein ordinäres Wort, da gab es keinen ordinären Witz. Und dann ist er krank geworden, ohne mein Zutun, weil ich hätte den Menschen auf Händen getragen. Er hat sich hingelegt und ist nicht mehr aufgestanden.“
Ich halte ein vergilbtes Foto in der Hand, es zeigt den toten Fritz Döcker. Auch er starb „eines unerwarteten und rätselhaften Todes“, nachdem Blauensteiner ihn betreut hatte. Sie verabreichte ihm Euglucon, ein Medikament, das Zuckerkranke nach Mahlzeiten einnehmen sollen, um den erhöhten Blutzuckerspiegel zu senken. Bei Gesunden führt es zu Unterzuckerung, also zu Verwirrung, Schwächung und durch Hirnabbau zu Demenz. (…)
Der Mord an Döcker wäre nahezu perfekt gewesen. Sie schwächte ihn mit Euglucon, er wurde immer verwirrter – einmal glaubte er sogar, in einem Schweinestall zu wohnen –, und als sich Zeichen eines Hirnabbaus einstellten, ließ sie ihn in ein Spital einweisen, wo er dann nach ein paar Wochen an einer Lungenentzündung starb. Niemand schöpfte Verdacht. Und selbst wenn, hätte man nichts mehr finden können, denn das Gift war längst ausgeschieden und abgebaut, und der Leichnam wurde perfekt beseitigt, zumindest glaubte Blauensteiner das. Mit seiner von ihr gefälschten Unterschrift vermachte sie Döckers Körper der Anatomie. Dort sollte er anonymisiert und von Studenten zerlegt in einem Sammelgrab landen. Das war ihr Plan. Er erfüllte sich nicht. Aufgrund des abgehörten Telefonats nach Pichlers Tod interessierten sich die Kriminalisten auch für Döckers Schicksal. Christian Reiter meldete sich auf der Anatomie: „Ich suche eine Leich. Den Döcker Fritz. Gibt’s von dem noch etwas?“ – „Jaja“, lautete die Antwort des Anatomen, „der schwimmt noch im Bottich 5, den haben wir bis jetzt noch nicht seziert, weil wir momentan genug Leichen haben.“
Zum Autor
Florian Klenk ist Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung "Falter". Mit dem Gerichtsmediziner Christian Reiter betreibt er der Podcast "Klenk + Reiter", der auch die Grundlage für das neue Buch "Über Leben und Tod" bildet.