Das war 2024: Gisèle Pelicot und der Prozess von Avignon
Gisèle Pelicot hat ihre runden Sonnenbrillen abgenommen, als sie in einem blau gemusterten Kleid, flankiert von ihren beiden Anwälten, den überfüllten Gerichtssaal betritt. Vor dem Strafgericht des Départements Vaucluse in der südfranzösischen Provence haben sich Hunderte Menschen versammelt, großteils Frauen, die klatschen und „Merci Gisèle!“ rufen, als die 72-jährige Frau, die von ihrem Ehemann über Jahre hinweg immer wieder betäubt und dann – von ihm selbst und von im Internet rekrutierten Männern – zigfach vergewaltigt worden war, sich ihren Weg zum Gebäude bahnt. Manche schwenken Transparente, die Pelicots Forderung „La honte doit changer de camp“ (Die Scham muss die Seite wechseln), die zu einem landesweiten Rebellionsslogan gegen das Patriarchat und seine brutalen Auswüchse wurde, als Aufschrift tragen. Oder ein simples „Je suis Gisèle“ (Ich bin Gisèle) als Symbol der Solidarität und des Respekts für deren Mut, das Erlittene öffentlich und den Prozess der „Vergewaltigungen von Mazan“ (wie das Verfahren in den Medien häufig bezeichnet wurde) allgemein zugänglich zu machen.
In diesen Wochen avancierte die ehemalige Managerin, Mutter von drei Kindern und fast 50 Jahre lang Ehefrau von Dominique Pelicot, einem früheren Elektriker, nicht nur in Frankreich zu einer feministischen Befreiungsikone, sondern weltweit. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, die sexuelle Gewalt ertragen mussten, hat Gisèle Pelicot sich von Anfang an entschlossen, die Gerichtsverhandlung gegen ihren Ehemann und 50 von 83 Komplizen (33 Mittäter konnten nicht ausfindig gemacht werden) öffentlich zu machen. Die Angeklagten erscheinen mit Masken vor dem Gesicht, sie müssen mit bis zu 20 Jahren Gefängnis rechnen; das ist die Höchststrafe, zu der das Mastermind dieser Barbarei am Ende auch verurteilt werden wird. Es sind Männer aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft: IT-Techniker, Krankenpfleger, der Journalist einer Regionalzeitung, ein pensionierter Gärtner, der bei seiner Mutter wohnt, Restaurantmanager; das Altersspektrum reicht von 22 bis 74 Jahren, manche sind biedere Familienväter, andere Single.
Ich bin eine zerstörte Frau. Aber ich will, dass alle Frauen, die eine Vergewaltigung erlitten haben, sich in Zukunft sagen werden: ,Madame Pelicot hat es gemacht, also werde ich es auch schaffen.‘ Wenn einem so etwas widerfährt, schämt man sich. Aber es ist nicht an uns, sich zu schämen, sondern allein an ihnen.
Gisèle Pelicots radikale Entscheidung zur totalen Transparenz und die damit verbundene Entfachung eines längst überfälligen Diskurses markiert in Frankreich auch eine Zäsur im Umgang mit häuslicher Gewalt. Allzu sehr hatte man sich daran gewöhnt, dass Missbrauchs- und Vergewaltigungsopfer schambesetzt ihre Gesichter verhüllen, ehe sie einen Gerichtssaal betreten und hinter verschlossenen Türen um ihr Recht und manchmal auch nur darum kämpfen, überhaupt ernst genommen zu werden. Die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsdelikten weist im französischen Gesetz Lücken auf, indem sie beispielsweise die Voraussetzung von Einvernehmlichkeit, die auch während des Akts widerrufen werden kann, und Penetration, während die Frau schläft, ausklammert. Das wird sich nach dem Urteil ändern, denn die französische Justiz steht entsprechend unter Druck. Gisèle Pelicot kämpfte deswegen mit offenem Visier. Ihre Mission: Das Patriarchat und die Gesellschaft müssen sich ändern, indem man die Täter an den Pranger stellt und ihre Verbrechen detailgenau offenlegt.
„Ich bin eine zerstörte Frau“, hat sie zu Beginn des Prozesses Anfang September in die Mikrofone der Medien gesagt, „aber ich will, dass alle Frauen, die eine Vergewaltigung erlitten haben, sich in Zukunft sagen werden: ,Madame Pelicot hat es gemacht, also werde ich es auch schaffen.‘ Wenn einem so etwas widerfährt, schämt man sich. Aber es ist nicht an uns, sich zu schämen, sondern allein an ihnen.“
Erst durch einen polizeilichen Zufallsfund musste sie überhaupt begreifen lernen, was ihr neun Jahre lang von ihrem eigenen Mann und von dessen Komplizen angetan worden war: Von Juli 2011 bis zum Oktober 2020 war Madame Pelicot vom Vater ihrer Kinder, der Person, „der ich von allen am meisten vertraute“ (wie sie an diesem Morgen erzählt), durch heimlich in ihr Essen gemischte Schlaf- und Betäubungsmittel bewusstlos gemacht und in diesem Zustand Männern zur Vergewaltigung angeboten worden.