David Lama am Stubaier Gletscher im Jahr 2018

David Lama und die Grenzen des Alpinismus

Mit David Lama und Hansjörg Auer hat der extreme Alpinismus in der Vorwoche zwei seiner stärksten Protagonisten verloren. Gedanken des Bergsteigers und Alpinjournalisten Klaus Haselböck über objektive Gefahren, Pokern am Berg und den Reiz von Grenzen.

Drucken

Schriftgröße

Wer oft würfelt, nähert sich dem Erwartungswert des Würfelns. Oder für uns Extrembergsteiger gesagt: Wer zu oft ans Limit geht, wird es überschreiten, wird ‚Pech‘ haben, weil er sich dem nicht kalkulierbaren Risiko ein Mal zu oft aussetzt oder einfach einen Fehler macht“, schrieb David Lama in seiner Kolumne der Zeitschrift „Bergwelten“ 2017. Damals schienen mir solche Gedanken reichlich abstrakt und nichts mit David zu tun zu haben. Zwei Jahre später hat diese mathematische Gesetzmäßigkeit ihre tragische Gültigkeit bewiesen: Am 16. April hatten Lama und der ebenfalls aus Tirol stammende Hansjörg Auer gemeinsam mit dem amerikanischen Spitzen-Alpinisten Jess Roskelley den 3295 Meter hohen Howse Peak in den kanadischen Rocky Mountains über dessen anspruchsvolle Ostwand bestiegen. Beim Abseilen geriet das Trio offenbar in eine Lawine. Auf jeden Fall konnten sie einige Tage später nur mehr tot geborgen werden.

Die Betroffenheit über dieses Unglück ist enorm: Sondersendungen werden im Fernsehen gezeigt, die Anteilnahme in den sozialen Medien scheint grenzenlos, und selbst die Regierungsspitze meldete sich sehr früh zu Wort. Lama und Auer waren im Alpinismus nicht irgendwelche Namen: Sie galten als Popstars des modernen Extrembergsteigens. Im täglichen Leben ruhige, angenehme und humorvolle Zeitgenossen, war ihnen am Berg alles zuzutrauen. Anders als ein Reinhold Messner und ein Peter Habeler, die „Terrible Twins“ der 1970er- und 1980er-Jahre, interessierten sie sich ganz und gar nicht für die Achttausender im Himalaya oder Karakorum. Sehr wohl übernahmen sie aber deren Zugang, einen Berg möglichst „fair“, also mit minimalen Hilfsmitteln, zu besteigen. Sie drehten das Rad weiter und fanden ultraschwere Linien an bekannten Gebirgszügen mitten in den Alpen oder exotische Ziele wie eine Annapurna III, einen Lunag Ri und einen Nilgiri. Diese Berge sind bestenfalls Insidern ein Begriff, haben kaum Begehungen, aber verlangen Alpinisten klettertechnisch alles ab. Den Luxus vorab eingerichteter Lagerketten mit Fixseilen, Depots und Höhenträgern, wie man es von aktuellen Everest-Dokus kennt, gibt es dort selbstverständlich nicht.

Zu zweit oder zu dritt auf so anspruchsvolle Gipfel zu steigen, setzt schnelle, präzise getimte Vorstöße in die dünne Luft von 6000 bis 7000 Meter Höhe voraus. Die Ausrüstung ist genauso minimal wie der Spielraum für Fehler.

"Kein russisches Roulette"

„Was wir am Berg machen, ist kein russisches Roulette“, sagte David Lama dazu. „Das hat viel mehr mit Pokern zu tun, wo man darüber nachdenkt, seine Chancen abwiegt und nur im richtigen Moment riskiert.“

Dieser richtige Moment ist manchmal aber schwer zu finden: Egal wie akribisch die Planung ausfällt, die objektiven Gefahren in Form von Lawinen, Séracs – labilen Türmen aus Gletschereis – und Steinschlag sind an solchen Bergen stets präsent. Und auch für Top-Athleten, die ihren Weg durch gewaltige Eiswände und ein Labyrinth aus Felsgraten, Rampen und Scharten suchen, nicht beeinflussbar.

Neben Leidensfähigkeit und Mut werfen sie vor allem ihr alpinistisches Können in die Waagschale.

Dieses Können hatte David Lama, der Sohn eines nepalesischen Sherpas und einer Österreicherin, erstaunlich schnell erworben. Einst als Wunderkind des Kletterns gefeiert (Lama: „Da habe ich alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt“), war er noch als Jugendlicher der Welt der Regeln in der Halle müde und begann sich nach den Bergen zu sehnen: „Das Klettern am Fels war für mich immer schon das richtige Klettern, das wahre Klettern.“

David Lama auf der Route "Kraftplatzl" 9a am Berglsteiner See in Tirol im Jahr 2015

In diese Zeit reicht meine erste persönliche Erinnerung an David: Bei einem Medientermin wies ein Fotograf den 15-jährigen Profi für ein Bild an, „wie ein Kletterer zu stehen“. Was den Ahnungslosen jede Sympathie bei David kosten sollte: „Wie stehen Kletterer?“, brummte er sichtlich verstimmt. Mit einer ähnlichen Trotzigkeit verkündete der junge Champion des Hallenkletterns mit 18 Jahren, er werde den Cerro Torre, eine bizarre, 3128 Meter hohe Granitnadel in Argentinien, frei, also ohne die Verwendung von Bohrhaken zur Fortbewegung, besteigen. Eine Vorgabe, an der die besten Alpinisten der Welt gescheitert waren. Viele hielten es schlicht für unmöglich. Doch David blieb beharrlich, lernte dazu, und im dritten Anlauf, 2012, löste er sein Versprechen ein und kam kletternd durch die scheinbar grifflose Headwall des Cerro Torre. „Eine Weltklasse-Leistung“, konstatierte damals der deutsche Top-Kletterer Alex Huber.

Der Ötztaler Hansjörg Auer, 1984 geboren und damit sechs Jahre älter als David Lama, hatte 2007 mit seiner seil­freien Begehung der Marmolada-Südwand in Italien für einen Paukenschlag in der Community gesorgt: Die brüchige, 1220 Meter lange, höchst anspruchsvolle Route „Weg durch den Fisch“ hat seitdem kein anderer Kletterer erneut in Free-Solo-Manier gewagt. Zudem gelang ihm 2013 die Erstbesteigung des Kunyang Chhish Ost im Karakorum.

Alpines Dreamteam

Die alpine Reifeprüfung hatten damit beide bestanden. Lama und Auer spielten nicht nur am selben Level, sondern als alpines Dreamteam auch gemeinsam auf der ganzen Klaviatur des traditionellen Bergsteigens – im Fels, im Eis, in großer Höhe. Durch ihr enormes Können starteten die beiden von einem ganz anderen Niveau als die Generationen vor ihnen. Gebannt warteten ihr Publikum und wir Journalisten, welchem Berg, welcher Wand sie als Nächstes den Nimbus des Unmöglichen nehmen würden. „Es gibt vielleicht insgesamt zehn oder 20 Bergsteiger auf der Welt, die auf der gleichen Stufe, auf der gleichen Wellenlänge traditionellen Alpinismus betreiben“, resümierte Reinhold Messner.

Besonders angetan hatte es den beiden der 7821 Meter hohe Masherbrum in Pakistan. Die noch nie versuchte Nordostwand war das Fels gewordene Abenteuer und symbolisierte alles, wofür Lama und Auer lebten: Entdeckergeist, Wagnis, Vorstoß ins Unbekannte. „Der ist wie die Eiger-Nordwand mit einem Cerro Torre noch obendrauf“, beschrieb David den Berg.

David Lama am Lunag Ri im Himalaya im Oktober 2018

An diesem Monolith bewies er vor allem, dass er warten konnte, dass Geduld zu seinen zentralen Tugenden zählte. Zwei Mal belagerte Lama seinen Traumberg wochenlang, ein Mal gemeinsam mit Auer, und kehrte ohne die Chance einer Besteigung nach Österreich zurück. Durch die prekäre Lawinensituation in der Region war das Risiko schlicht zu groß gewesen.

Auch das passte gut zu dem „jungen Wilden“, den ich nie als Hasardeur erlebt habe. David Lama war für mich die ungewöhnliche Mischung eines ernsten, aber doch fröhlichen, meist überaus bedachtsamen und für sein Alter vielleicht sogar zu reif wirkenden Menschen. Ein gewissenhafter Planer, der nichts dem Zufall überlassen wollte, akkurat jeden Aspekt einer Tour und seiner Ausrüstung hinterfragte und stets sehr genau wusste, was er als Bergsteiger nicht wollte. So erzählte er mir, dass er den Ostriss auf der Martinswand, einen Kletter-Klassiker nahe Innsbruck, von der Schwierigkeit her zwar locker schaffen würde, es ihm das Risiko aber keinesfalls wert wäre. Zu unberechenbar sei die Gesteinsqualität, zu sinnlos wäre es, bei so einer Tour das Leben zu lassen.

Grausame Statistik

Das unkontrollierbare Risiko ausgewachsener alpiner Touren muss einem so klar strukturierten Menschen wie David Lama zeitlebens sowohl Reiz als auch Ärgernis gewesen sein. Die Statistik spricht eine grausam deutliche Sprache: So hat fast die gesamte Elite der polnischen Extrem-Alpinisten, die zu Messners Glanzzeit vielbewunderte Winterbegehungen und kühne Routen an den Achttausender-Bergen umsetzen konnte, ihr Tun nicht überlebt. International gesehen verunglückt rund die Hälfte der Top-Athleten. Trotz besserer Ausrüstung, höherem Können und Wetter-Daten von jedem Punkt des Planeten sind die Berge auch 2019 unberechenbar geblieben.

Denn mit der Leistungsexplosion im Klettern, das heute eine breitere Basis an ganz exzellenten Protagonisten als jemals zuvor hat, wird die Latte höher und höher gelegt. „Bergsteigen in dieser Dimension ist faszinierend. Aber es ist den Angehörigen gegenüber schwer zu vertreten“, gab sich Messner zuletzt nachdenklich.

Für Gerlinde Kaltenbrunner, die als erste Frau ohne künstlichen Sauerstoff alle 14 Achttausender-Gipfel bestieg, hat das Überleben im Grenzbereich vor allem mit Glück zu tun: „Egal wie gut oder wie vorsichtig du bist. Ein erhöhtes Restrisiko bleibt in dem Bereich immer. Und das geht man ganz bewusst ein.“ Seit 2011, dem Abschluss ihres Achttausender-Projekts, ist Kaltenbrunner auf weniger riskanten Gipfeln unterwegs.

David Lama am Lunag Ri im Himalaya im Oktober 2018

Geht es also auch bei Extrembergsteigern um einen freiwilligen Verzicht auf manche Routen, manche Berge? Sollte der extreme Alpinismus, bei dem auch die Besten der Besten sterben, reguliert, gar verboten werden? Hätte man Menschen wie David Lama, Hansjörg Auer, Jess Roskelley oder den Schweizer Speed-Bergsteiger Ueli Steck, der 2017 am Nuptse tödlich verunglückt ist, zu einem normalen Leben abseits alpiner Risiken „zwingen“ müssen?

Solche Überlegungen machen deutlich, wie sehr das Bergsteigen in all seinen Ausprägungen eine Projektionsfläche für Grundfragen der menschlichen Existenz ist: In unserer technisierten Welt erleben viele die Selbstbestimmtheit als zentrale Motivation, um hinaus in die Natur zu gehen: Es gilt, den Annehmlichkeiten der Zivilisation ein Schnippchen zu schlagen; zu frieren, obwohl man in der geheizten Wohnungen sitzen könnte; sich Ängsten zu stellen, obwohl man eigentlich gar nicht bedroht ist; selbstgewählte Herausforderungen zu schaffen.

Zu erklären ist so ein Verhalten wohl nur über die Momente großer Intensität, die man in den Bergen auch geschenkt bekommt. Wie intensiv diese sein müssen, hat viel mit dem eigenen Lebensentwurf zu tun. Die Sehnsüchte, Träume und Ziele der drei am Howse Peak Verunglückten waren sicher andere als die von gemütlichen Almwanderern oder Klettersteiggehern. Die Profis Lama, Auer und Joskelley haben die Sicherheit eines Nine-to-five-Jobs oder eines ruhigen Lebens gerne gegen den Reiz, den der Aufbruch in den Grenzbereich für sie hatte, getauscht – inklusive all ihrer persönlichen Risiken und der Schmerzen für die Hinterbliebenen. Auch das gilt es zu respektieren.

Klaus Haselböck ist Mitglied der Chefredaktion der Zeitschrift „Bergwelten“ (bergwelten.com).

Mehr zu diesem Thema: