Debra Milke: "Sie probten meine Hinrichtung"
Am Samstag, 2. Dezember 1989, um drei Uhr Nachmittag kommt der alles verändernde Anruf. Am Telefon ist Jim Styers, Debra Milkes Mitbewohner. Er war am Vormittag mit ihrem Sohn Christopher ins Einkaufszentrum aufgebrochen, um den Weihnachtsmann zu sehen. "Ich bin nur kurz aufs Klo, und als ich wiederkam, war er weg", sagt Jim. Panisch ruft Milke ihren Vater an, er ist Polizist. Bis zum Abend stellen Wachleute und Polizisten das Einkaufszentrum auf den Kopf. Keine Spur von Christopher. Am nächsten Tag wird der Bub in einem ausgetrockneten Flussbett am Rande der Wüste gefunden. Er ist erschossen worden.
Was jetzt passiert, wird das Berufungsgericht von Arizona 25 Jahre später als "Schande für Arizonas Justizsystem" bezeichnen. Debra Milke wird von Ermittlungsleiter Armando Saldate auf einem Polizeirevier in Phoenix verhört - ohne Zeugen, ohne Aufnahmegerät.
Debra Milke, Jim Styers und Roger Scott werden 1990 in drei getrennten Verfahren zum Tode verurteilt.
Nach einer halben Stunde verlässt Saldate das Verhörzimmer und eine verstörte 24-Jährige, die gerade erfahren hat, dass ihr Sohn tot ist. Er ist überzeugt, sie habe dessen Tod kaltblütig geplant. Drei Tage später verfasst der Polizist ein "Gedächtnisprotokoll". Er notiert: "Sie sagte, sie habe das Kind töten wollen, weil der Junge anfing, sich wie ihr drogensüchtiger Exmann zu verhalten. (...) Sie gab an, sich an ihren Mitbewohner Jim Styers gewandt zu haben. (...) Jim habe sich später mit Roger Scott, einem Freund, in Verbindung gesetzt, und dann hätten sie zu dritt darüber gesprochen, es zu tun." Eine Sensation, die sofort an die Medien weitergegeben wird. "Abscheulich! Unfassbar kaltherziger Santa-Claus-Mord; Mutter und zwei Männer unter Mordanklage", titeln die Zeitungen. Innerhalb weniger Stunden wird die junge Mutter zu einer der meistgehassten Frauen der USA.
Der aufstrebende Staatsanwalt Noel Levy übernimmt den prominenten Fall. Ihm ist klar, dass die Beweislage dünn ist. Debra Milke behauptet hartnäckig, Ermittlungsleiter Saldate habe das Geständnis erfunden; sie sei unschuldig. Also unterstellt ihr Levy vor Gericht, ihren Mitbewohner und dessen guten Freund wegen einer auf Christopher abgeschlossenen Lebensversicherung über 5000 Dollar angeheuert zu haben. Tatsächlich wäre ihr Anspruch auf das Geld erloschen, sobald ein krimineller Hintergrund festgestellt worden wäre. Eines von vielen Fakten, auf die Milkes völlig überforderter Pflichtverteidiger nicht hinweist. Debra Milke, Jim Styers und Roger Scott werden 1990 in drei getrennten Verfahren zum Tode verurteilt. Milke als Mastermind hinter einem grausamen Mord, Styers als jener, der die drei tödlichen Schüsse abgegeben hat, und Scott als Mitwisser und Fluchtfahrer. Diese Version des Tathergangs fußt auf Debras "Geständnis" und auf den teils widersprüchlichen Aussagen von Roger Scott. Jim Styers beteuert bis heute seine und Milkes Unschuld.
Ich lebe mit der Traurigkeit, sie verlässt mich nie. (Debra Milke)
Die Berufungsanträge von Debra Milke werden vom Berufungsgericht in Arizona beharrlich abgeschmettert. Unermüdlich kämpfen Milke, ihre Mutter und ihre Anwälte weiter, bis sie 2015 von allen Anklagepunkten freigesprochen wird. Kommenden Dienstag erscheint ein Buch über ihren Fall, das die Journalistin Jana Bommersbach nach zahlreichen Gesprächen mit Milke auf Deutsch verfasst hat. In Deutschland hat Milke, deren Mutter aus Berlin stammte, eine treue Fangemeinde.
Mit profil trifft sich Debra Milke Mitte Februar auf Skype. Eine Technologie, welche die 51-Jährige in Freiheit schnell zu schätzen gelernt hat. Als sie ins Gefängnis gegangen war, hatte es noch nicht mal Handys gegeben. Debra Milke sitzt in ihrem gelb gestrichenen Wohnzimmer, die Terrassentür steht offen, ein dünner Vorhang bauscht sich im Wind. In ihrer Heimatstadt Phoenix in Arizona hat es 25 Grad, die Sonne scheint. Sie trägt ein helles T-Shirt; weiße Locken und eine schmale Brille rahmen ihr Gesicht. Schon bei der ersten Frage steigen Milke die Tränen in die Augen, und sie werden bis zum Ende des Gesprächs nicht versiegen. Sie sagt: "Ich lebe mit der Traurigkeit, sie verlässt mich nie."
profil: In Ihrer Einzelzelle waren Sie jahrelang unvorstellbarer Einsamkeit ausgesetzt. Wie ist es jetzt? Brauchen Sie Menschen um sich oder sind Sie lieber allein? Debra Milke: Grundsätzlich bin ich gerne allein, weil ich so daran gewöhnt bin. Aber es ist toll, dass ich jederzeit unter Leute gehen kann, wenn ich das möchte. Deshalb gehe ich auch sehr gerne arbeiten. Zu Hause habe ich meine Hündin Angel, die mich so oft tröstet.
Er kontrollierte, ob meine Venen gesund genug waren, damit mich der Staat Arizona ermorden konnte. (Debra Milke)
profil: Nach acht Jahren in der Todeszelle kam Ihr Hinrichtungsbefehl. Sie wurden gefragt, auf welche Weise sie sterben möchten und mussten ihr letztes Menü auswählen. Und das, obwohl Ihr Anwalt damals bereits herausgefunden hatte, dass Armando Saldate auch anderen Verdächtigen illegal Geständnisse abgepresst hatte. Wie haben Sie diese Situation überstanden? Milke: Mein Anwalt und ich hatten beim Obersten Gerichtshof Einspruch gegen den Hinrichtungsbefehl erhoben. Währenddessen musste das Gefängnis aber laut Protokoll vorgehen. Also probten sie meine Hinrichtung. Ich wusste zwar, dass die Exekution letztendlich nicht stattfinden würde, aber es war schrecklich. Ich musste zwischen Gas und Giftspritze wählen und entschied mich für Letztere. Zu essen wünschte ich mir nichts Besonderes, nur die normale Gefängniskost. Meine Zelle wurde akribisch durchsucht. Man hatte Angst, ich würde Suizid begehen. Was mich am meisten fertigmachte, war der Besuch beim Arzt. Er kontrollierte, ob meine Venen gesund genug waren, damit mich der Staat Arizona ermorden konnte. Nach drei harten Wochen stoppte der Oberste Gerichtshof meinen Hinrichtungsbefehl.
profil: Eigentlich dachten Sie kurz vor dem Tod Ihres Sohnes, ein neues Leben beginnen zu können. Sie hatten sich von Mark Milke, Christophers Vater, getrennt, einen neuen Job angenommen und eine neue Wohnung in Aussicht. Noch wohnten Sie aber bei Jim Styers. Milke: Ich war bei Jim eingezogen, weil ich mich bei ihm sicher fühlte. Er war Vietnam-Veteran und hatte eine zweijährige Tochter, die sich gut mit Christopher verstand. Jim hatte mich einmal aus einer schlimmen Situation mit meinem Ex-Mann Mark gerettet. Mark war ein guter Vater - solange er nüchtern war. Nach einem Drogenentzug war Christopher auf Besuch bei ihm. Als ich meinen Sohn abholen wollte, war Mark wieder high, schob mich vor seine Haustür und wollte Christopher bei sich behalten. Er bedrohte mich und nahm mir meine Autoschlüssel weg. Schließlich schaffte ich es, mit Christopher zu fliehen. Wir rannten, so schnell wir konnten, und von einer Tankstelle aus rief ich meinen Bekannten Jim an. Er holte mich ab und brachte uns zu sich nach Hause. Ich wollte aus Angst vor Mark nicht mehr in meiner Wohnung bleiben und zog vorübergehend zu Jim. Wir waren Mitbewohner, kein Paar. Er war sehr fürsorglich zu seiner Tochter Wendi und zu Christopher.
Was wirklich passiert ist, wissen wir nicht, weil nicht korrekt ermittelt wurde. (Debra Milke)
profil: Jim hatte einen Freund namens Roger Scott. Sie konnten ihn nicht leiden. Warum? Milke: Ich hatte vom ersten Tag, an dem ich Roger traf, kein gutes Gefühl bei ihm. Er war gemein, und er mochte die Kinder nicht.
profil: Was glauben Sie, ist an jenem Dezembertag 1989, als Jim und Roger mit Ihrem Sohn unterwegs waren, wirklich passiert? Milke: Jim fragte mich am Vormittag, ob er sich mein Auto ausleihen könne, um ins Einkaufszentrum zu fahren. Christopher bettelte, mitfahren zu dürfen, um den Weihnachtsmann zu sehen. Ich war einverstanden . Ein paar Stunden später bekam ich seinen Anruf, er habe Chris verloren. Alles, was ich weiß, ist, dass zwei erwachsene Männer mit meinem Sohn unterwegs waren. Einer der beiden oder beide haben ihn umgebracht. Was wirklich passiert ist, wissen wir nicht, weil nicht korrekt ermittelt wurde.
Am Abend der Entführung befragt Ermittlungsleiter Saldate Jim Styers und Roger Scott mehrmals. Styers bleibt bei der Version, Christopher im Einkaufszentrum verloren zu haben. Der psychisch labile Roger Scott erzählt unter dem Druck des Detectives drei verschiedene Versionen des Tathergangs, zuletzt behauptet er, Jim Styers habe Christopher erschossen. Styers habe sogar schon länger vorgehabt, den Buben zu töten. An jenem Tag seien sie in die Wüste gefahren, Styers sei mit dem Kind ausgestiegen und zu dem Flussbett gegangen. Scott habe im Auto sitzend Schüsse gehört und Styers nach der Tat wieder eingesammelt. Die Idee, dass Debra Milke den Mord geplant hat, legt ihm der Ermittlungsleiter in den Mund, wie Scott später immer wieder beteuern sollte. Scott führt die Polizei tags darauf zum Tatort.
Nachdem das mit Roger und Chris passiert war, stand ich unter Schock. (Jim Styers)
Als alle drei Verurteilten im Gefängnis sitzen, beginnen Debra und Jim einen Briefwechsel. Sie ist damals überzeugt, dass ihr Mitbewohner nichts mit dem Mord zu tun hat. Jim Styers schreibt ihr, wie er den Tag erlebt hat: "Wir haben Roger abgeholt (...), und Chris hat gesagt, er hat Hunger. Also sind wir Pizza essen gegangen und haben beschlossen, dass wir Wendi (Styers zweijährige Tochter, Anm.) und dich abholen und zum Einkaufszentrum fahren. Roger wollte abends weggehen, aber ich habe gesagt, nein, wir machen was mit den Kindern. Um die Zeit zu überbrücken, bis wir Wendi abholen konnten, sind wir rausgefahren, um die Gleitschirmflieger und Schlangen zu beobachten. Chris hatte Lust dazu. Wir waren eine Weile da draußen, und ich sagte dann, es ist Zeit, umzukehren. Chris war direkt hinter mir, Roger hinter ihm. Ich dachte, Rogers Pistole ist im Auto. Ich hatte gesagt, wenn Christopher dabei ist, wird nicht geschossen. Aber Roger hatte ganz andere Absichten."
Über Roger Scotts Motiv schreibt Jim Styers: "Ich glaube, er hat es aus Eifersucht getan, weil ich mit dir und den Kindern etwas unternehmen wollte, statt mit ihm auszugehen. Da hat er beschlossen, Chris zu töten, um dich und mich zu bestrafen. Nachdem das mit Roger und Chris passiert war, stand ich unter Schock (...) Also habe ich aus Angst und Dummheit einen Fehler begangen und bin zum Einkaufszentrum gefahren, habe dich angerufen, und den Rest weißt du."
Tatsächlich wird der Revolver, mit dem der Bub erschossen worden ist, zu Hause bei Roger Scott gefunden. Die Polizei glaubt trotzdem, dass Jim Styers geschossen hat. Sie untersucht keinen der beiden Männer auf Schmauchspuren. Bei Roger Scott wird später Schizophrenie festgestellt, bei Jim Styers eine posttraumatische Belastungsstörung infolge seines Einsatzes im Vietnamkrieg. Bei beiden wird die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt.
Im Gegensatz zu Debra Milke traut sich deren Biografin Jana Bommersbach, ein abschließendes Urteil abzugeben: "Ich denke, es ist so gut wie erwiesen, dass es nicht Jim Styers war, der Christopher Milke ermordet hat. Ich halte Roger Scott für den Mörder. Es war keine 'Verschwörung' dreier Personen, sondern die impulsive Tat eines eifersüchtigen und geistig behinderten Mannes, der in dem Versuch, sich selbst zu retten, mit dem Finger auf Styers zeigte, und dann an der Nase herumgeführt wurde, bis er auch auf Debra zeigte."
Ich hatte von Psychologen starke Beruhigungsmittel bekommen und saß da wie ein Zombie. Das legte man mir als Bösartigkeit aus. (Debra Milke)
profil: Auch Ihr Vater und Ihre Schwester glaubten nicht an Ihre Unschuld und sagten sogar vor Gericht gegen Sie aus. Wissen Sie heute, warum? Milke: Wenn ein Staatsanwalt nicht genügend Beweise hat, versucht er, den Charakter eines Angeklagten in Zweifel zu ziehen. Levy versuchte mit allen Mitteln, mich als schlechte Mutter darzustellen. Mein Vater sagte aus, ich sei wahnsinnig in meinen damaligen Freund Ernie Sweat verliebt gewesen, und Christopher sei mir dabei im Weg gewesen. Meine Schwester Sandy behauptete, ich hätte nicht gut für meinen Sohn gesorgt. Beides stimmt nicht. Meinem inzwischen verstorbenen Vater habe ich vergeben. Zu meiner Schwester habe ich keinen Kontakt, und ich kann ihr auch noch nicht verzeihen.
profil: Warum hat Ihre Mutter nicht vor Gericht ausgesagt? Milke: Meine Mutter war kurz nach dem Mord von der Schweiz, wo sie damals lebte, nach Arizona geflogen, um mich zu besuchen. Im Gefängnis sagte man zu meiner Mutter, ich wolle sie nicht sehen. Mir sagten sie, sie wolle mich nicht sehen. Im Nachhinein glaube ich, dass das Absicht war. Meine Mutter trat den Behörden gegenüber sehr energisch auf. Deshalb hielt man sie von mir fern und lud sie auch nicht vor Gericht. Ich selbst wurde von den Geschworenen und den Medien als gefühlskalt wahrgenommen. Ich hatte von Psychologen starke Beruhigungsmittel bekommen und saß da wie ein Zombie. Das legte man mir als Bösartigkeit aus.
profil: Können Sie uns einen Einblick in Ihren Alltag in der Einzelzelle geben? Milke: Ich habe mein Gehirn mit täglicher Routine auf Trab gehalten. Ich bin um vier Uhr morgens aufgestanden, um zu lesen und zu schreiben. Um diese Zeit war es einigermaßen ruhig. Dann habe ich meine Zelle geputzt, dann Fernsehen geschaut. Am Nachmittag habe ich ein Schläfchen gehalten. Manchmal durfte ich in den Gefängnishof, um frische Luft zu schnappen. Ich habe viel Instrumentalmusik gehört, um mich in dieser chaotischen Umgebung zu beruhigen. Viele der Frauen im Gefängnis waren drogenabhängig, hatten sich prostituiert und auf der Straße gelebt. Fast alle waren verhaltensauffällig, sie schrien herum, schlugen gegen ihre Türen. Es war schwer, mich an den hohen Gräuschpegel zu gewöhnen.
Ich mache keine Pläne, ich lebe von Tag zu Tag. (Debra Milke)
Debra Milke klagt derzeit vom Staat Arizona eine Entschädigung ein. Aufgrund des laufenden Verfahrens kann sie darüber nicht sprechen. Eine der letzten großen Entschädigungszahlungen in Arizona ging an Ray Krone, der zehn Jahre unschuldig im Gefängnis saß und 2002 entlassen wurde. Krone klagte auf 100 Millionen Dollar, 2005 wurden ihm 1,7 Millionen Dollar zugesprochen.
Ermittlungsleiter Saldate und Staatsanwalt Levy genießen Immunität und beziehen heute ihre staatliche Pension, obwohl beide nachweislich unsauber gearbeitet haben.
profil: 2013 durften Sie das Gefängnis erstmals mit einer Fußfessel verlassen. Was war das für ein Gefühl? Milke: Das Wichtigste war für mich, meine Mutter endlich umarmen zu können. Sie hatte all die Jahre für mich gekämpft und war schwer krank. Sie starb im Sommer 2014 an Krebs. Es war unbeschreiblich, endlich unter den Menschen sein zu können, die ich liebte. Ich war aber auch überfordert: Der Himmel war so weit, die Gebäude so groß, überall waren so viele Menschen. Und es war immer noch nicht klar, ob der Staat ein neues Verfahren gegen mich einleiten würde, weshalb ich eine Fußfessel tragen musste.
profil: Im Dezember 2014 wurden schließlich alle Anklagepunkte gegen Sie fallen gelassen. Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Milke: Ich mache keine Pläne, ich lebe von Tag zu Tag. Ich arbeite 30 Stunden pro Woche in einer Anwaltskanzlei, wo ich helfe, Gerichtsverfahren vorzubereiten. Ich engagiere mich außerdem gegen die Todesstrafe. Und ich reise so oft es geht zu meinen Freunden nach Deutschland, die mich in der schweren Zeit unterstützt haben.
Jana Bommersbach: Ein geraubtes Leben. 23 Jahre unschuldig in der Todeszelle - der Fall Debra Milke. Droemer, 416 Seiten, 19,99 Euro.