Debütant Wales nach Halbfinal-Einzug im Freudentaumel
Das 3:1 seines Teams gegen die hoch eingeschätzten Belgier sorgte am Freitagabend bei typisch britischem Wetter in Lille für walisische Freudentänze auf und abseits des Rasens. Nach dem völlig überraschenden Meistertitel von Außenseiter Leicester City in der englischen Premier League gilt Wales' Einzug ins EM-Halbfinale als zweites britisches Fußballwunder dieser Saison.
"Fürchte dich nicht davor, Träume zu haben", meinte Trainer Chris Coleman nach dem größten Erfolg in der 140-jährigen walisischen Verbandsgeschichte. Der 46-Jährige erinnerte an sportlich weitaus finsterere Zeiten. "Vor vier Jahren waren wir von so etwas weiter entfernt, als man sich vorstellen kann." Besonders für Coleman bedeutet der Triumph viel. Er stand im Herbst 2012 vor dem Rauswurf.
Als Nachfolger von Gary Speed, der sich Ende 2011 das Leben genommen hatte, gelang Coleman als erstem walisischem Teamchef überhaupt in seinen ersten fünf Spielen kein Sieg. Erst ein 2:1 gegen Schottland dank zwei Toren von Bale beendete diese Misere. Seitdem ging es kontinuierlich bergauf. Der erstmaligen EM-Qualifikation folgte nun ein historischer Lauf. In dem Coleman bisher alles richtig gemacht hat.
Gegen Belgien setzte der ehemalige Teamverteidiger im Angriff auf Hal Robson-Kanu. Der ist seit Donnerstag offiziell vereinslos, nachdem er seinen Vertrag beim englischen Zweitligisten Reading nicht verlängert hatte. Der 27-Jährige - laut Coleman "der Albtraum jedes Verteidigers" - avancierte in der 55. Minute mit dem Treffer zum 2:1 zum "Man of the Match", nachdem er Belgiens Abwehrschwächen mit einem einfachen Trick bloßgestellt hatte.
"Wir sind eine Gruppe von Freunden und so unfassbar stolz. Das ist etwas, wofür wir sechs, sieben, acht Jahre hart gearbeitet haben", sagte Robson-Kanu nach Schlusspfiff. Hinter ihm schallte die walisische Nationalhymne "Hen Wlad Fy Nhadau" (Altes Land meiner Väter) sowie der EM-Song "Please don't send me home" durch die Arena. Seit der WM 1958, als in Schweden immerhin der Einzug ins Viertelfinale gelang, wartete die 3-Millionen-Einwohner-Nation auf ein derartiges Erfolgserlebnis. Dass Wales nicht nur Bale alleine ist, wurde in Lille aber ein weiteres Mal klar.
Der Superstar von Real Madrid beschäftigte Belgiens Abwehr zwar, die Akzente setzten aber andere. Allen voran der bei Arsenal spielende Aaron Ramsey zog im Mittelfeld die Fäden. In der Abwehr war Ashley Williams Chef und Torschütze zugleich. Der Kapitän traf per Kopf zum 1:1 (31.). Und im Angriff wirbelte Robson-Kanu, ehe er Sam Vokes Platz machte. Ein weiterer Goldgriff von Coleman. Der bei Premier-League-Aufsteiger Burnley engagierte Angreifer traf per Kopf im Finish (86.) entscheidend.
Dabei war Österreichs kommender WM-Quali-Gegner von den hoch eingeschätzten Belgiern anfangs überrumpelt worden. Die in der Offensive mit großer individueller Klasse ausgestatteten "Roten Teufel" agierten mit hohem Pressing, Konsequenz war der herrliche Führungstreffer von Radja Nainggolan (13.). "Als sie getroffen haben, gingen unsere schlimmsten Ängste in Erfüllung", sagte Coleman. Doch dann kam der Bruch in Belgiens Spiel. Der Favorit öffnete Räume, die Wales dankend nutzte.
Das walisische Selbstverständnis, sich mit dem Erreichten nie zufriedenzugeben, kam wieder zum Tragen. Diese Marschroute hat der EM-Debütant seit dem Start des Turniers durchgezogen. "Ich habe schon vor Anpfiff gesagt, wir sind nicht hier, um uns darüber zu freuen, sondern um mitzuspielen", sagte Coleman. Er wird gegen Portugal jedoch improvisieren müssen. Ausgerechnet der bei zwei Toren und vier Assists haltende Ramsey erhielt nach einem Handspiel die zweite Gelbe Karte bei dieser EM. Er fehlt damit in Lyon ebenso wie Verteidiger Ben Davies.