Der letzte Jude von St. Pölten
Hans Morgenstern ist ein echter Dandy. Pinkes Poloshirt, karierter Blazer, weiße Plastiksonnenbrille, goldfarbener Siegelring, enge Halskette und die leicht wallenden weißen Haare elegant nach hinten gekämmt. So sitzt „der Herr Morgenstern“, wie ihn viele in St. Pölten nennen, am Rathausplatz und genießt die Aufmerksamkeit. Er gilt nicht nur wegen seines extravaganten Auftretens als Unikat: Hans Morgenstern ist der letzte Jude von St. Pölten. „Kannst mich dann anschauen im profil“, sagt er zum Kellner seines Stammcafés. Der gibt sich ungerührt: „Ich seh dich eh jeden Tag.“ Zwischen dem „Herrn Morgenstern“ und dem „Herrn Kellner“ rennt der Schmäh.
Seit seiner Pensionierung genießt der frühere Hautarzt sein tägliches Ritual: Morgenkaffee, Plauscherl und Zeitungslektüre im Café, danach geht es zum Mittagessen eine Gasse weiter. „Guten Tag, Herr Morgenstern“, wird er auf dem kurzen Weg dorthin gegrüßt. „Das war wahrscheinlich ein ehemaliger Patient von mir. Mir gefällt das immer, wenn mich jemand freundlich grüßt.“
Hans Morgenstern hat auch schon ganz andere Zeiten erlebt. Er war drei Monate alt, als im März 1938 der Rathausplatz in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde und St. Pölten als erste Stadt Österreichs Hitler die Ehrenbürgerschaft anbot. Morgensterns Vater bekam als sozialdemokratischer Anwalt nach dem „Anschluss“ Berufsverbot, kurz darauf wurde die Wohnung der Familie arisiert. Der Vater schaffte es, ein Ausreisevisum zu bekommen. Im März 1939 gelangte die Familie mit dem Schiff von Triest nach Palästina. Bat Jam, ein Vorort von Tel Aviv, wurde ihr neues Zuhause. Der kleine Hans ging in den Kindergarten, lernte Hebräisch und war vom Meer angetan. Ein Foto von damals zeigt ihn mit seinem älteren Cousin Hans Cohn: aufgeweckt, neugierig, bereit, die Welt zu entdecken – und ahnungslos, was die Sorgen seiner Eltern betrifft. Sie konnten sich nur schwer an die neue Heimat gewöhnen.
„Meine Eltern waren zwar Juden, aber nicht religiös. Palästina war für sie komplett fremd“, erzählt Morgenstern. Dem Vater, von klein auf wegen einer Kinderlähmung gehbehindert, machte die Hitze zu schaffen. Als Anwalt fand er keine Arbeit, Hebräisch sprach er nur rudimentär. Die Gedanken waren zudem bei dem Teil der Familie, der St. Pölten nicht rechtzeitig hatte verlassen können. Wenn Hans Morgenstern über das Schicksal seiner Großeltern spricht, verschwindet sein Lächeln. Seine damals noch lebenden Großeltern (die Mutter des Vaters und die beiden Eltern der Mutter) wurden nach dem „Anschluss“ zunächst nach Wien gebracht und schließlich in Auschwitz und im Ghetto Litzmannstadt (Łódź) ermordet. „Bis heute weiß ich nicht, ob sie bereits im Lager gestorben sind oder in der Gaskammer umgekommen sind.“
Seine Großeltern waren drei von 275 St. Pöltner Juden, die den Naziterror nicht überlebten. Als am 12. März 1938 Hitler auf dem Weg von Linz nach Wien in St. Pölten Halt machte und die ersten Bücher im Hof der Synagoge verbrannt wurden, lebten rund 400 jüdische Bürger in der Stadt. Vereine wie der Turnverein Makkabi, der Bund Jüdischer Jungwanderer oder der Zionistische Verband sorgten für eine lebendige Gemeinschaft, die fest in St. Pölten verankert war. 1945 war sie jedoch ausgelöscht, die Synagoge zerstört. Nach dem Krieg kehrten nur ungefähr 20 Juden zurück, die meisten von ihnen verließen St. Pölten jedoch wieder.
Für die Eltern von Hans Morgenstern gab es trotz des Naziterrors nur ein Ziel: die Rückkehr in die Heimat. Als sie sich im April 1947, noch vor der Staatsgründung Israels, von Bat Jam nach Port Said in Ägypten aufmachten, um per Schiff nach Venedig zu fahren, erzählten sie dem neunjährigen Hans zunächst nichts von ihren Plänen. Erst als die Familie einen Monat lang in Zelten in der Wüste am Suez-Kanal gewartet hatte, erfuhr er, wohin die seltsame Reise gehen sollte. Der Vater, der sich aufgrund seiner Kinderlähmung nur mühsam mit Stöcken fortbewegen konnte, sank ständig im Wüstensand ein.
Während die Eltern erleichtert waren, die Strapazen hinter sich zu haben, erlebte Hans Morgenstern die Rückkehr als Abenteuer. „Zur Begrüßung am Wiener Südbahnhof gab es Würstel, und ein halbes Dutzend Fiaker wartete vor dem Bahnhof.“ Der Grund: Ein Fiakerfahrer, der ebenfalls geflohen war, kehrte im selben Zug wie die Morgensterns zurück und wurde von seinen ehemaligen Kollegen abgeholt. „Ich fand das sehr rührend. Die Bedeutung dieses Tages wurde mir aber erst später klar“, erinnert er sich.
In St. Pölten begann der Vater wieder zu arbeiten. Das Haus der Familie war durch einen Bombentreffer zerstört worden; die Morgensterns bekamen eine Gemeindewohnung zur Verfügung gestellt. Hans Morgenstern lebt noch heute darin. Neben Büchern seines Lieblingsautors Kurt Tucholsky und Bildbänden von Malern wie Paul Cézanne oder Marc Chagall stapeln sich Kästchen mit Karteikarten. Darin befinden sich die Namen und Fotos ermordeter und überlebender Mitglieder seiner jüdischen Gemeinde. Neben den Ordnern hängen Bilder seiner Eltern und Großeltern. Hans Morgenstern, der dem Horror des Holocaust nie direkt ausgesetzt war, hat sein Leben in St. Pölten immer genossen: die Theaterbesuche, die Ausflüge in die Wachau, das Leben im Kaffeehaus. Auf der anderen Seite ist St. Pölten jene Stadt, aus der seine Eltern flüchten mussten und seine Großeltern in den Tod geschickt wurden. Dieser Widerspruch lässt Morgenstern nicht los. Er erweckte in ihm das Bedürfnis, die Erinnerungen an das jüdische Leben und die Synagoge zu erhalten. „Es war mir wichtig, dass diese Menschen nicht vergessen werden“, sagt Morgenstern. Als letzter Überlebender habe er diese Verantwortung übernehmen müssen.
Seit dem Tod seiner Mutter im Jahr 1999 lebt Hans Morgenstern allein in der rund 100 Quadratmeter großen Wohnung. Eine Familie zu gründen, hat ihn nie interessiert. Die Verbindung zur Mutter (der Vater starb im Jahr 1970) begleitete ihn beinahe bis zu seiner Pensionierung. Die Mutter war auch für ihn da, als er nach der Rückkehr aus Palästina im Gymnasium Antisemitismus zu spüren bekam. Ein älterer Schüler provozierte ihn in der Pause regelmäßig: „Was hast du hier verloren? Ihr Juden gehört nach Israel.“ Wenig später begegnete Morgenstern ihn in Begleitung seiner Mutter auf der Straße. „Da ist sie zu ihm hingegangen und hat gesagt, er soll damit sofort aufhören. Sonst werde sie ihn anzeigen. Damit war das vorbei.“
Neben den Morgensterns war nach dem Krieg nur eine zweite jüdische Familie wieder in St. Pölten sesshaft geworden: die Familie seines Cousins Hans Cohn, mit dem er schon in Palästina gespielt hatte. Die Morgensterns selbst gingen nach dem Krieg mit ihrer Vertreibung pragmatisch um: „Mein Vater war einfach froh, wieder in Österreich zu sein und arbeiten zu können. Wenn er auf der Straße ehemalige Nazis getroffen hat, hat er sie freundlich gegrüßt, wenn auch sie freundlich zu ihm waren.“ Der Wunsch des Vaters nach einem normalen Alltag war stärker als die erlittenen Demütigungen. Hans Morgenstern und seine Mutter hatten größere Schwierigkeiten, die Vergangenheit auszublenden. Einmal fragte er den Vater, warum er in ein Land voller Mörder zurückgekehrt sei. Die Antwort lautete: „Nicht alle waren Mörder. Und das alte Gewaltregime ist Geschichte.“
Hans Morgenstern hat vergessen, seine Pendeluhr aufzuziehen. Sie hängt im Extrazimmer gegenüber einem schmalen Bett, daneben sein Schreibtisch mit Laptop und Dokumenten. Die Uhr hat eine besondere Bedeutung. Seine Großmutter hatte sie vor ihrer Deportation einer Nachbarin überlassen. Als die Morgensterns aus Palästina zurückkehrten, gab die Frau ihnen die Uhr zurück. Die Geschichte rührt Hans Morgenstern auch 70 Jahre später noch. Die Pendeluhr erinnert ihn aber auch an die Leiden seiner Vorfahren und daran, dass mit ihm die Geschichte seiner Familie und der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt versiegen wird. „Vielleicht ist es Schicksal, dass ich der Letzte bin und weder ich noch mein Cousin Kinder haben.“
Hans Cohn, sein letzter Verwandter in St. Pölten, ist im Jänner dieses Jahres verstorben. Sein Grab liegt nur wenige Meter entfernt von jenem der Familie Morgenstern am jüdischen Friedhof. Hans Morgenstern hat auf den Stein bereits seinen Namen eingravieren lassen. Darunter steht: „1937–“.
Literaturempfehlung. Christoph Lind, "Es gab so nette Leute dort", Die zerstörte jüdische Gemeinde, NP-Verlag, 1998
Ausstellung. "Verwischte Grenzen. Jüdische Verortungen nach 1918." In der Ehemaligen Synagoge St. Pölten anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs.