Der TikTok-Krieg in der Ukraine
Dieser Krieg hat viele Namen. Manche nennen ihn „Putins Krieg“ oder „russischen Angriffskrieg“, wieder andere befürchten, dass bald „Dritter Weltkrieg“ zutreffend werden könnte. Immer häufiger wird auch die Bezeichnung „TikTok-Krieg“ bemüht - denn während unzählige ukrainische Zivilist:innen jetzt zu Waffen greifen, greifen auch viele zu ihren Handys, um das Leid und den Horror auf der Kurzvideo-Plattform direkt zu dokumentieren.
Eines jener Videos hat sich zu Beginn des Krieges in der Ukraine unwiderruflich in viele Köpfe eingebrannt. Es zeigt einen von Raketen erleuchtete Himmel über Kiew, mehrere Aufnahmen von verschiedenen Orten in der Stadt sind aneinandergereiht. Wie Feuerwerke ziehen die Sprengkörper Lichtschweife über den Nachthimmel; hinterlegt ist das Video mit dem düster klingenden Song „Little Dark Age“ von MGMT.
Das getrost als zeithistorisches Dokument einzuordnende Video wurde von Marta Vasyuta hochgeladen. Vasyuta ist eine junge Ukrainerin, die Freund:innen in Großbritannien besuchte, als Putin am 24. Februar den Angriffskrieg auf die Ukraine startete. Von dort aus versucht sie jetzt, Aufmerksamkeit auf die Gemengelage in ihrem Heimatland zu ziehen. In der Kurzbeschreibung auf ihrem TikTok-Profil steht „I show real footages of real people“, also „Ich zeige euch echtes Material von echten Menschen.“ Vasyuta ist mittlerweile eine der wichtigsten Katalysatoren und Berichterstatterinnen dieses Krieges, innerhalb weniger Tage hat sicher ihre Follower-Zahl vervielfacht. Aus ukrainischen Telegram-Gruppen filtert sie Videos, versucht sie zu verifizieren und stellt somit die ukrainische Sicht auf den Krieg kompiliert auf TikTok.
Marta Vasyuta erreicht damit Millionen von jungen Menschen – und sie ist nicht die einzige. Die Userin @valerisssh widmet sich dem Krieg in ihrem Heimatland aus einer sehr galgenhumoristisch Perspektive, indem sie gängige TikTok-Schemata persifliert und auf ihre Situation ummünzt. Zu „Che La Luna“ von Louis Prima zeigen TikToker:innen, die sich gerade nicht in Kriegsgebieten befinden, normalerweise Dinge in ihrem Haus, die „einfach Sinn machen“, und meinen damit ironisch zum Beispiel eine Tür, die ins nichts führt. @valerisssh titelt ihre Interpretation des Trends süffisant „My typical day in a bomb shelter“; und schreibt in die Videobeschreibung noch als Draufgabe „Living my best life“.
Das Video wurde bis jetzt mehr als 32 Millionen Mal angesehen. Sie macht sich über ihre Eltern lustig, geht ihrem Vater im Bunker auf die Nerven, und witzelt, dass ihre Mutter Borschtsch mit Putins Blut kocht.
Die Kriegs-TikToks entsprechen den Parametern und der Sprache der Generation Z, sie zeigen unmittelbar und ungefiltert, was in Kharkiv, Mariupol oder Cherson passiert – und sie amplifizieren sich tausendfach. Durch die immense potentielle Reichweite werden sie zum einflussreichen Vehikel im ukrainischen Widerstand. Sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj appellierte in einer Rede an die TikTokerinnen, dass sie helfen können, den Krieg zu beenden.
Die furchtbaren Bildwelten sind jedoch vor allem für Kinder, denen die Kurzvideos in den Feed geschwemmt werden, nicht unbedenklich. Im aktuellen profil sagt Barbara Buchegger, die pädagogischen Leiterin der NGO Safer Internet, dazu: „Die sehr kurzen, häufig mit Musik unterlegten Videos sprechen Emotionen besonders stark an und machen es den Jugendlichen schwer, Fakten zu überprüfen. In dem bruchlosen Flow können zwischen Scherz- und Schminkvideos sehr unvermittelt schlimme Kriegsbilder auftauchen und emotional stark herausfordern.“
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