„Ich erzähle nichts“, erklärt Ihre Romanfigur Wacek am Ende von „Laurenzerberg“ erzählt , „nichts davon, dass mein Vater vor meinen Augen erschlagen wurde (…), nicht vom Gestapogefängnis, denn wem würde das helfen?“ War diese Form der Verdrängung der gängige Umgang mit dem erlittenen Grauen im Nachkriegs-Wien?
Christoph Zielinski
Das war ein gängiges Charakteristikum dieser Generation, die den Krieg überlebt habt. Die haben sich dafür geniert, Opfer gewesen zu sein. Und haben über das Erlebte oft einen Mantel des Schweigens gebreitet.
Sie sind 1957 mit Ihren Eltern aus Krakau nach Wien emigriert.
Zielinski
Mein Vater Adam Zielinski war Direktor der Rundfunkanstalt in Krakau und war als Korrespondent zu den stalinistischen Schauprozessen nach Moskau geschickt worden. Schon damals ist in ihm die Entscheidung gereift, nicht in so einem System leben zu wollen.
Wie haben Sie Wien in den 1960er-Jahren erlebt?
Zielinski
Sehr grau. Die Stadt ist eigentlich erst mit Österreichs EU-Beitritt zum Leben erwacht. Vorher war Wien das Ende einer Sackgasse.
Dass im Wien der Nachkriegszeit viele Ex-Nazis unbeschadet in Schlüsselpositionen gelandet sind, weiß man. Haben Sie auch als Arzt und Universitätsprofessor Antisemitismus erlebt?
Zielinski
Ständig. Ich hatte eine Nachbarin, gegen die ich sogar vor Gericht gegangen bin. Sie war eine rechtsradikale Antisemitin und stellte mir Fragen wie: „Warum haben Sie eigentlich blaue Augen?“ Es gilt zwar in gewissen Kreisen als wenig vornehm, den Antisemitismus auch auszusprechen, aber nach drei Achteln Wein kommt er dann gerne hervor. Erst kürzlich, bei einem Abendessen in der besseren, nein, eigentlich der besten Wiener Gesellschaft, ließ eine Dame ihre Gäste wissen, dass die ganze medizinische Universität „verjudet“ sei. Und ich kann mich nicht erinnern, dass das unter ihren Gästen auf irgendeine Art von Widerstand gestoßen wäre.
Antisemitische Tendenzen sind nicht nur eine Eigenschaft der FPÖ und ihrer Sympathisanten, sondern auch im bürgerlichen Lager?
Zielinski
Es sind nicht nur die Ungebildeten. Im Gegenteil. Das Problem in Österreich ist, dass die Bürgerlichen immer viel mehr mit den Faschisten sympathisieren als mit den Sozialdemokraten. Denken wir nur an die Worte des Präsidenten der Industriellenvereinigung Georg Knill, der ganz offen die schwarz-blaue Koalition favorisierte. Die gesamte deutsche Industrie, darunter die Thyssens, die Opels oder die Krupps, pilgerte 1933 zu Hitler, wie es in dem Buch „Die Tagesordnung“ beschrieben wird. Der erneut amtierende Innenminister Gerhard Karner war Bürgermeister einer Gemeinde, in der ein Museum zu Ehren des Austrofaschisten Engelbert Dollfuß betrieben wird.
Viele Ihrer polnischen Vorfahren wurden im Holocaust ermordet: Machen Ihnen die gegenwärtigen politischen Entwicklungen Angst?
Zielinski
Nein. Ich bin eigentlich pathologisch angstlos. Ich fürchte mich vor ganz anderen Dingen. Sterben in Würde ist ein komplexes Thema, und wenn ich sehe, wie es manchen Menschen dabei geht, ist es zum Fürchten. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir glauben, alles auslagern zu können. Wir delegieren Dinge, mit denen wir uns eigentlich beschäftigen sollten. Wir verfrachten die Kranken und Sterbenden in Krankenhäuser. Wir sperren die Alten in Pflegeheime. Und dabei muss man sich die Frage stellen: Mauern wir diese Menschen dadurch nicht ein? Und uns aus? Dass jemand erst Tage nach seinem Tod gefunden wird, ist doch eine Bankrotterklärung für unser System. Niemand will in einem Spital sterben. Wir versuchen, Menschen möglichst bald aus den Spitälern herauszubekommen und in ihrer häuslichen Umgebung zu betreuen.
Was schlagen Sie vor im Umgang mit alten Menschen?
Zielinski
In Dänemark gibt es zum Beispiel staatlich organisierte Transportsysteme, da werden ältere Menschen regelmäßig abgeholt und in den Supermarkt, zum Arzt oder zur Post gebracht. Wenn da einer oder eine fehlt, fällt das auf, und dann wird nachgesehen. Dieses Konzept fördert auch ein Gemeinschaftsdenken.
Wie stehen Sie zu der gesetzlichen Möglichkeit des assistierten Suizids?
Zielinski
Jeder Mensch sollte die Möglichkeit und die Freiheit haben, sein Leben so zu führen und auch zu beenden, wie er es möchte. Aber die größte Angst, die Patienten haben, ist nicht vor dem Tod selbst, sondern vor dem Schmerz. Und wir sind heute medizinisch in der Lage, den Schmerz zu nehmen. Wenn das nicht gelingen sollte, liegt es nur daran, dass mit den Medikamenten nicht richtig umgegangen wird.
Sie gelten als einer der führenden Krebsspezialisten weltweit, in der kalifornischen Stanford University werden Sie unter die zwei Prozent der wichtigsten Mediziner gelistet.
Zielinski
Na ja, das ist mir eigentlich egal, ich bin nicht anerkennungssüchtig. Ich mache meine Arbeit, und ich mache sie so gut wie möglich. Und wenn man regelmäßig publiziert, wird das natürlich wahrgenommen.
Die große Frage, die uns Laien beschäftigt: Was ist der beste Weg, um das Risiko einer Krebserkrankung zu minimieren?
Zielinski
Das große Alleinstellungsmerkmal beim Krebs ist, dass Sie nichts aktiv tun können, um seinen Ausbruch zu verhindern. Natürlich gibt es Dinge, die Sie nicht tun sollten wie Rauchen, übergewichtig sein, aber der größte Faktor ist schicksalshaft. Natürlich haben auch Genetik und Lebensstil ihren Einfluss, aber nicht in dem Ausmaß. Das ist der Unterschied zu kardiovaskulären Erkrankungen: Mit Bewegung können Sie Herz-Kreislauf-Erkrankungen aktiv präventiv entgegenwirken. Es hat Sinn, wenn ältere Menschen mit diesen Stöcken durch die Stadt gehen. Oder Menschen joggen. Krebs aber ist vor allem Schicksal.
Das erklärt, warum auch viele Nichtraucher an Lungenkrebs leiden können.
Zielinski
Ja, ein Drittel aller Lungenkrebspatienten hat nie geraucht. Einschränkung: Aber von diesem Drittel haben zwei Drittel mit jemandem gelebt, der raucht. Sie haben somit passiv mitgeraucht.
Wie stehen Sie dazu, wenn Patienten zu nicht schulmedizinischen Alternativen greifen?
Zielinski
Wenn es eine wissenschaftlich überprüfte Substanz gäbe, die hilfreich ist, wäre ich der Erste, der sie verabreichen würde. Leider ist Krebs natürlich auch ein großes Business. Und wir wissen, dass 75 Prozent aller angebotenen Substanzen, meistens sind es Ernährungszusatzsubstanzen, eine Krebsbehandlung auch neutralisieren können. Und dennoch sind sie, ohne diesbezüglichen Vermerk, erhältlich. Und bleiben von der Gesundheitsbehörde unüberprüft.
Wie stehen Sie zu dem Zusammenhang Krebs und Psyche?
Zielinski
Ich stehe dem skeptisch gegenüber. Meine Erfahrung ist, dass kein Charaktertypus weniger gefährdet ist als ein anderer. Extrovertierte, fröhliche Menschen können genauso diese Diagnose erfahren wie in sich gekehrte, verschlossene oder depressive. Brustkrebs nimmt heute epidemiologische Ausmaße an: Jede achte Frau erlebt so eine Diagnose. Und man kann nichts tun, um ihn zu verhindern. Das ist das Tückische: Erst wenn die Krebserkrankung bereits da ist, kann man dagegen vorgehen.
Aber die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs scheint doch effizient.
Zielinski
Ja, aber das ist ein viraler Krebs. Bei uns wird noch viel zu wenig geimpft. Wir haben eine Rate von 40 Prozent. In Schottland ist die weibliche Bevölkerung nahezu durchgeimpft, und diese Krebsart ist dort inzwischen nahezu verschwunden.
Von der Impfung gegen jede Form von Krebs sind wir noch weit entfernt?
Zielinski
Dafür ist Krebs viel zu komplex. Aber wir sind in einem Stadium, wo wir viele Krebserkrankungen chronifizieren können. Ich kann nur raten, die Möglichkeiten der Früherkennungsuntersuchungen wahrzunehmen: Prostata, Koloskopien, ab 50 einmal jährlich. Treten dabei Polypen auf, sollten sie sofort entfernt werden, denn sie können sich zu Tumoren entwickeln. Leider ist das Überleben bei Krebserkrankungen noch immer definiert durch den Bildungs- und Sozialstatus. Die Sterblichkeitsrate ist deutlich höher bei ungebildeten und armen Menschen. Das ist in einem Sozialstaat eigentlich eine Katastrophe.
Und noch immer ist auch Krebs für die Betroffenen mit einem irrationalen Schamgefühl verbunden.
Zielinski
Leider. Ich habe beispielsweise eine bekannte Sängerin nach ihrer Diagnose behandelt, die davor meinte: „Ich bin bei Ihnen, Herr Professor, aber wenn wir uns auf der Straße sehen, dann grüßen wir uns nicht.“
Gehen Sie auf die Begräbnisse Ihrer Patienten?
Zielinski
Nein, meist nicht. Da müsste ich ja ständig auf dem Friedhof sein.
Für jemanden, der ständig mit Krankheit und Tod konfrontiert ist, wirken Sie sehr fröhlich.
Zielinski
Wenn ich nicht fröhlich wäre, müsste ich mich aufhängen.