Wir sind Kaisers!
Von Eva Sager
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Mitte April sitzen Bürgermeister, Agrar-Masseverwalter, Almobmann, Vorsitzender der Lawinenkommission und Datenschutzbeauftragter im Gemeindeamt. Ihr Name ist Norbert Lorenz. Denn Norbert Lorenz ist alle fünf. In einem Bergdorf wie Kaisers ist das nicht unüblich, schließlich leben hier nur 73 Menschen, da gehen einem die Funktionsträger zwangsläufig irgendwann aus. Vor der Tür schneit es, Wetterwarnung. Lorenz hat heute Sprechstunde. Er sitzt in seinem Büro: moosgrüner Teppichboden, Blumentischdecke, Jesus am Holzkreuz. Es gibt Kaffee, Tee und Wasser ohne UV-Bestrahlung, direkt aus der Quelle – Lorenz ist darauf erkennbar stolz. „Hier bei uns, da herrscht eine ganz andere Energie. Das merkt man, wenn man zu uns nach Kaisers herauffährt. Wir sind spiritueller“, sagt er.
Kaisers ist eine Gemeinde in den Lechtaler Alpen, ganz am Ende des Tals. Wer hierher will, braucht zu dieser Jahreszeit ein Auto, Busse fahren ausschließlich im Sommer. Die deutsche Touristin Bärbel hat deshalb auf halber Strecke vom Nachbarort Steeg wieder umgedreht, erzählt sie. Die Straße war ihr zu kurvig, der Abhang zu steil. Kein Wunder, Kaisers liegt auf über 1500 Meter Seehöhe. Fährt man durch den trüben April-Nebel, entpuppt dieser sich in den meisten Fällen als Wolke.
Das Dorf ist 74 Quadratkilometer groß – ein Einwohner pro Quadratkilometer, damit ist Kaisers die am dünnsten besiedelte Gemeinde Österreichs. Nun könnte man meinen, damit hat es sich. Bergdorf, Kirche, Volkspartei, Schnapsverkostung – fertig. Doch ganz so einfach macht es Kaisers einem nicht. „Vor 30 Jahren waren wir laut einigen Zeitungen die EU-feindlichste Gemeinde Österreichs“, sagt Bürgermeister Lorenz. Und damit hat er recht.
Das Gespenst von Europa
1994 stimmt Österreich über den Beitritt zur Europäischen Union ab. „Soll der Gesetzesbeschluss des Nationalrates vom 5. Mai 1994 über das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union Gesetzeskraft erlangen?“, steht auf dem Stimmzettel. Zugegeben: etwas sperrig. Fast 67 Prozent der österreichischen Bevölkerung beantworten die Frage trotzdem mit Ja. In allen Stimmbezirken und Bundesländern gibt es eine klare Mehrheit für den Beitritt zur EU. Das Schlusslicht ist Tirol, hier stimmen nur 57 Prozent dafür. Zum Vergleich: Im Burgenland waren es fast 75 Prozent.
Lorenz erinnert sich: „Ich war zu dieser Zeit Student in Wien und habe bei einem EU-Informationsstand gearbeitet. Zwei, drei Wochen haben wir da Informationsmaterialien an Passanten verteilt. Je länger ich dort war, desto kritischer bin ich geworden. Die ganzen Broschüren waren mir zu einseitig, klar pro EU“, sagt er. „Bei der Volksabstimmung habe ich dann gegen den Beitritt gestimmt. Das war schon ein bisschen komisch. Davor war ich hinter diesem Stand, bezahlt, um über die EU aufzuklären, und dann war ich aus Überzeugung gegen sie.“ Geändert hat sich das seither nicht. Seine Argumente sind nach wie vor die gleichen. „Ich vergleiche die Situation der EU gerne mit der Privatwirtschaft. Bei einer kleinen Firma, da kennt man einander, da gibt es eine persönliche Geschichte. Bei großen Konzernen herrscht Intransparenz, auf einmal ist niemand mehr zuständig, sie werden zu einem richtigen Moloch“, sagt Lorenz.
„Ich würde wieder gegen den EU-Beitritt stimmen und glaube, dass es der Mehrheit in Kaisers ähnlich geht.“
Norbert Lorenz, Bürgermeister
In Kaisers haben das vor 30 Jahren viele Menschen ähnlich gesehen. 88,6 Prozent stimmten gegen den EU-Beitritt. 59 Wahlberechtigte, 44 gültige Stimmen, 39 Mal Nein. „Ich vermute, dass Leute, die am Land leben, überdurchschnittlich geerdet sind. Die werden sich gedacht haben: Den oberen zehn Prozent wird das schon helfen, aber für die breite Masse ist das nichts“, sagt der Bürgermeister. „Ich fühle mich heute in meiner Entscheidung bestätigt. Ich würde wieder so wählen und glaube, dass es der Mehrheit in Kaisers ähnlich geht. Wir sind gerne unabhängig und autark.“
Eine ältere Dame, unterwegs mit dickem Daunenmantel, bestätigt das. Sie steht vor dem Edelweißhaus, einer Hütte des Deutschen Alpenvereins in der Nähe der Feuerwehrhalle. „Ich tät’ noch mal dagegen stimmen“, sagt sie: „Da wird doch nur gestritten, wie überall in der Politik.“ Die EU-Volksabstimmung sei nicht die einzige Wahl gewesen, bei der Kaisers aufgefallen sei, erzählt sie. Bei den Nationalratswahlen 2002 erreichte die Volkspartei in der Gemeinde glatte 100 Prozent. Sie lacht: „Danach haben sie uns einen Sozialisten als Wahlbeisitzer heraufgeschickt.“
Das Gespenst von Kaisers
Keine 100 Meter vom Gemeindeamt entfernt steht die Dorfkirche. Ihre Fassade ist grau und grob, sie passt perfekt zum ruppigen Bergpanorama, das von den dunklen Bleiglasfenstern reflektiert wird. Heute ist sie abgeschlossen. Gottesdienst: jeden Sonntag, 10.30 Uhr. In einem Schaukasten an der Kirchenmauer, unter dem Schriftzug „Tiroler Volkspartei“, hängt das Gemeinderatsprotokoll der letzten Sitzung. Im kleinen Friedhof stehen 18 Grabkreuze aus Eisen, vor ihnen ein paar rote Grablichter, sorgfältig aneinandergereiht. Plötzlich wirkt Kaisers ein wenig leer.
„Wir kämpfen ums Überleben. Uns fehlen die jungen Menschen“, sagt Bürgermeister Lorenz. Seit 15 Jahren ist die lokale Volksschule geschlossen. Das größte Thema für die Gemeinde: Zuwachs. „Wir setzen stark auf leistbares Wohnen. Heuer bauen wir eine Mikrowohnanlage mit vier Wohnungen. Das ist unsere Chance: Die Gegend hier ist wirtschaftlich extrem stark, aber der Bauplatz wird enger, teurer. Viele Einwohner ziehen in leistbare Gemeinden, da kommen wir ins Spiel.“
Der Gasthof „Vallugablick“ tut es der Dorfkirche gleich: Auch er hat heute Ruhetag. Auf der Terrasse steht eine Schneeschaufel, die Holzfensterläden sind geöffnet. Zwei Wirtshäuser und eine Pension gibt es derzeit in Kaisers, rund 100 Gästebetten. „Wichtig ist, dass wir nicht denselben Fehler machen, den viele andere Gemeinden in Tirol gemacht haben: Zu schnell wachsen, wie diese typischen Touristenhochburgen. Es ist nicht unser Ziel, hier ein Chaletdorf aufzustellen“, sagt Lorenz. Er will auf einen sanften und ökologischen Tourismus setzen. „Bei uns hat man endlich seine Ruhe. Das ist doch das, was die ganzen gestressten Europäer suchen.“
Und da sind wir wieder bei Europa. Auch wenn Kaisers in Sachen Europäische Union wohl anders tickte und noch immer tickt als der Großteil Österreichs: Über die Agrarförderungen hat man sich im Ort dann doch gefreut. „Ohne EU-Förderungen wäre das Bauernsterben sicher noch schneller vorangegangen. Gestorben sind trotzdem viele“, sagt Lorenz. In den Jahren 2021 und 2022 wurden in Kaisers laut Transparenzdatenbank für EU-finanzierte Beihilfen im Agrarbereich mehr als 174.000 Euro ausgeschüttet. Acht Empfänger pro Jahr zählte man, das sind fast elf Prozent der lokalen Bevölkerung. Höfe gibt es in Kaisers einige, viele davon werden aber nur im Nebenerwerb betrieben. Teilweise sieht man sie entlang der sich den Berg hochschlängelnden Hauptstraße, manche liegen fernab.
„Bergbauerndorf“ nennt sich Kaisers deshalb auf seiner Website. „Klein, aber fein“, voller „Ruhe und Erholung“. Das birgt auch seine Herausforderungen. Bürgermeister Lorenz sagt: „Wir wissen zu viel voneinander. Da geht es oft nicht immer um die Sache, sondern manchmal auch um uralte Geschichten. Bei größeren Gemeinden ist das sicher anders.“ Ein wenig sieht man das auch im Gemeinderatsprotokoll vom vergangenen September. Unter „Allfälliges“ steht da: „Gemeindevorstand Christian wünscht sich, dass die Gemeinderatssitzungen während der Wintermonate bereits um 19.00 Uhr beginnen, um den Gedanken der Kameradschaftspflege nach den Sitzungen besser Rechnung tragen zu können.“ Man konnte sich offenbar einigen, im November traf man sich dann tatsächlich eine Stunde früher.
Und nein, in der Europäischen Union hätte so eine rasche Umsetzung garantiert nicht geklappt.
Eva Sager
seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.