Die Fleischfresserinnen
„Von Rinderhoden gibt’s nicht wirklich viel Auswahl bei Amazon.“ Damit hat Walter* nicht unrecht. In der österreichischen Carnivore-Telegram-Gruppe, in der er schon länger Mitglied ist, wird gerade über Black-Friday-Angebote diskutiert. Die große Frage: Gibt es irgendwo Aktionen „für uns“?
„Für uns“, damit sind in diesem Fall Anhängerinnen und Anhänger der Carnivore-Diät gemeint. Sie ernähren sich ausschließlich von tierischen Produkten wie Fleisch, Eiern oder Milch. Obst, Gemüse oder Getreide? Fehlanzeige. Vorneweg: Gesund ist das Ganze überhaupt nicht. Jürgen König, Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften an der Universität Wien, sagt: „Bei dieser Ernährungsform fehlen ganz wichtige Nährstoffe, die man normalerweise aus pflanzlichen Lebensmitteln zieht. Vitamin C, ungesättigte Fettsäuren und viele Ballaststoffe beispielsweise.“
Auf Social Media trendet die Ernährungsweise trotzdem. Und zwar nicht zum ersten Mal. Schon in der Vergangenheit hatte die Diät immer wieder ihre Hochphasen, auch, weil man ihr angeblich recht schnell abnehme. Ernährungswissenschafter König sagt dazu: „Es kann bei solchen Diäten natürlich zu einem kurzfristen Abnehmerfolg kommen, die Betonung liegt aber auf kurzfristig. Das, was man eigentlich reduzieren will, nämlich die Fettmasse, nimmt man mit ihr meistens nicht ab, sondern reduziert im Wesentlichen nur den Proteingehalt der Muskulatur und verliert Wasser. Das ist keine nachhaltige Gewichtsabnahme.“
Dazu kommt: Wirklich ökologisch ist eine derart fleischbetonte Diät auch nicht. Stichwort: Klimakrise. Warum kommen die Carnivore dann trotzdem immer wieder zurück? Und essen sie wirklich ganze Butter-Blöcke?
Alpha-Männer und rohe Leber
Angefangen hat es um das Jahr 2018. Da begann der ehemalige orthopädische Chirurg Shawn Baker auf Social Media die Carnivore-Diät zu bewerben. Die hohe Proteinaufnahme helfe beim Muskelaufbau und Abnehmen, außerdem steige der Testosteronspiegel. Er selbst sei das beste Beispiel: oberkörperfrei, muskelbepackt, betont maskulin. Sein chronisches Erschöpfungssyndrom habe er mit Steaks geheilt.
2021 bekam Baker Unterstützung vom „Liver King“. Der amerikanische Influencer und Bodybuilder propagierte in seinen Videos einen „urzeitlichen Lebensstil“, behauptete sich lediglich von rohen Innereien und Fleisch zu ernähren. Wie Baker stand er dabei meistens oberkörperfrei vor der Kamera, hielt eine rohe Leber oder Hanteln in der Hand. Ende 2022 wurde aufgedeckt, dass der „Liver King“ für seinen Muskelaufbau eine Reihe leistungssteigernde Substanzen und Wachstumshormone einnahm, darunter anabole Steroide, synthetische Proteine und Testosteron – im Wert von rund 11.000 Dollar pro Monat. Sein „Alpha-Organismus“ war also auf vieles, aber nicht auf seine Ernährungsweise zurückzuführen.
Die Carnivore-Diät begann also auch als eine Ausdrucksweise für Männlichkeit. Es geht viel ums Jagen, um Brutalität und Testosteron. Fleisch und Männlichkeit werden in der Erzählung von Baker, aber auch in der des „Liver Kings“ mit Stärke und Macht verknüpft. Dabei reproduzieren sie die Position des Mannes als vermeintlich „starkes Geschlecht“ und statuieren die Vorherrschaft des Menschen über die Natur, schließlich muss für Fleisch in erster Linie auch immer ein Tier sterben.
Pilates und Rückenmark
Nun hat sich dieses Bild der Carnivore-Diät besonders im Internet stark gewandelt. Auf TikTok und Instagram gibt es immer mehr junge, sportliche Frauen, die auf eine strikt tierische Ernährungsweise schwören. Und dabei treten sie erstaunlich ruhig und reflektiert auf, ganz und gar nicht in der Optik der ihnen vorangegangenen Alphamänner.
Die Influencerin „neleaep“ gehört beispielsweise zu ihnen. Mit sanfter Stimme referiert sie in einem ihrer Videos, was sie tagsüber gegessen hat – Frühstück: eine Schüssel Hackfleisch, Snack: eine Schüssel Hackfleisch, Abendessen: ein T-Bone Steak vom Hirsch, Kaffee immer mit Kollagenpulver. Auf TikTok gibt es unter dem Hashtag „#carnivore“ mittlerweile über 200.000 Videos. Im Gegensatz zu ihren männlichen Diät-Genossen geht es den Carnivore-Frauen aber meistens um den Gewichtsverlust oder eine Verbesserung des Hautbilds. Ein Großteil von ihnen hat das Gefühl, dass „westliche Lebensmittel“ giftig oder ungesund sind und sie in ihrer Ernährungsweise nun etwas gefunden haben, das ihnen wirklich hilft.
Dabei scheuen sie nicht zurück, wie die amerikanische Influencerin „steakandbuttergal“ – übersetzt „Steak und Butter-Mädchen“ – von einem Block Butter abzubeisen. „Für extra scharfe mentale Klarheit“, wie sie sagt.
* Name von der Redaktion geändert