Psychiaterin und Bestsellerautorin Heidi Kastner: „Serienkiller sind meist langweilig“
Die forensische Psychiaterin Heidi Kastner, 62, kennt wie kaum jemand anderer die Abgründe menschlichen Verhaltens. Die Verbrecher, über die die Linzerin und Tochter eines Eisenbahners psychiatrische Gutachten erstellte, wie der Inzest-Vergewaltiger Josef Fritzl, der seine Tochter mit den gemeinsamen sieben Kindern 24 Jahre im Keller gefangen hielt, oder die „Eissalonmörderin“ Estibaliz Carranza, die die Leichen ihrer Männer einmauerte, gehören zu den spektakulärsten in der österreichischen Kriminalgeschichte. Sätze wie die Aussage von Fritzl: „Ich bin zum Vergewaltigen geboren, dafür habe ich mich eigentlich noch ganz gut gehalten“, gehören zu Kastners Berufsalltag.Heidi (eigentlich Adelheid) Kastner ist Primarärztin für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt am Kepler-Universitätsklinikum in Linz. Der Terminus bezeichnet jenes Teilgebiet der Psychiatrie, das sich mit der Diagnose, Behandlung und Unterbringung von psychisch kranken Straftätern auseinandersetzt. In der forensischen Psychiatrieabteilung werden Inhaftierte nach akuten Suizidversuchen untergebracht, liegen durch jahrelangen Alkoholkonsum delirierende oder akut schizophrene Häftlinge, um nur einige der möglichen Szenarien aufzuzählen. Nebenbei verfasste Kastner zahlreiche Bücher, etwa zu den Themen „Wut“ und „Väter als Täter“. Vor allem ihr Pamphlet gegen die „Dummheit“ rangierte zuletzt auf den deutschsprachigen Bestseller-Listen und war kürzlich auch Themen-schwerpunkt eines Kongresses der Universität Basel.
Der Auslöser, sich in ihrem jüngsten Buch, „Feig“ (Erscheinungstag 17. April), mit dem Phänomen Feigheit auseinanderzusetzen, war wachsendes Unbehagen. „Ich habe mich zunehmend über die grassierende Feigheit der Leute geärgert“, entrüstet sich Heidi Kastner. „Eine Facette der Feigheit ist, dass viele in vorauseilender Panik, irgendwo hinausgeschossen zu werden, aberwitzige Positionen einnehmen, die sich jeglichen vernünftigen Argumenten entziehen.“ Kastner spielt damit auf die für sie „übertriebene Wokeness“ an, die sie für völlig aus dem Ruder gelaufen hält: „Tom Hanks erklärte allen Ernstes, dass er heute als heterosexueller Mann keine schwule Figur wie in dem Aids-Filmdrama ‚Philadelphia‘ mehr spielen würde – aus präventiver Angst, sonst ins Visier der Cancel- Culture zu kommen. Wie daneben ist das bitte? Es ist doch das Wesen eines Schauspielers, in andere Identitäten zu schlüpfen. Aus Feigheit, dass einen sonst wildgewordene Besserwisser und Fanatiker durch die Gegend jagen, bleiben viele einfach lieber mit eingezogenem Schwanz im Eck stehen.“
Doch diese Form der konfrontationsscheuen Duckhaltung ist nur eine Facette des vielschichtigen Phänomens Feigheit, dessen grausamste Auswirkungen 2024 in Frankreich zu einem Jahrhundert-„Prozess der Feigheit“ geführt haben: Der nach außen gediegene, biedere Familienvater
Dominique Pelicot hatte seine Frau Gisèle über neun Jahre lang systematisch betäubt, in diesem Zustand vergewaltigt und sie anderen Männern auf diversen einschlägigen Online-Plattformen zur Vergewaltigung angeboten. Kastner bilanziert das schockierende Ende des Prozesses, der
Gisèle Pelicot inzwischen weltweit zu einer Symbol- und Galionsfigur im Kampf gegen häusliche Gewalt gemacht hat: „Gisèle Pelicot stellte in ihrer abschließenden Stellungnahme bei Gericht den Männern die Frage, wann sie sich entschieden hatten, die Situation nicht zur Anzeige zu bringen, und forderte die Übernahme der Verantwortung ein, was ein beträchtlicher Teil der Angeklagten verweigerte: Einige beriefen sich darauf, fremdgesteuert gewesen oder unter Drogen gesetzt worden zu sein, oder gaben an, die offensichtliche Reaktions- und Handlungsunfähigkeit des Opfers nicht erkannt zu haben, was durch Videoaufnahmen der Taten und ihrer aufgezeichneten Kommentare eindeutig widerlegt werden konnte. Selbst angesichts dieser vernichtenden Evidenz siegte die Feigheit der Betroffenen.“
„Hofnarr auf Ketamin“
Feigheit könne eine mächtige Triebfeder für alle Arten von Verbrechen werden, wenn es darum geht, Konflikte oder Konsequenzen um jeden Preis zu vermeiden. In diesem Zusammenhang erwähnt Kastner eine Reiheprominenter Feiglinge wie die US–Start-up-Unternehmerin Elizabeth Holmes, deren Bluttest-Technologien nicht im Geringsten halten konnten, was sie ihren Investoren versprochen hatte, oder den inzwischen in der Haft verstorbenen New Yorker Großbetrüger Bernie Madoff, der Tausende Kleinanleger um ihr Erspartes gebracht hatte. In dieser Riege befinde sich auch, zwar nicht namentlich genannt, aber klar erkennbar, der Auslöser für die „größte Insolvenz Österreichs, dessen Malversationen über einen längeren Zeitraum dazu dienten, den Schein zu wahren.“
Es stellt sich die Frage nach den Psychodynamiken hinter solchen oft über Jahre aufrechterhaltenen Konstrukten, wie sie René Benko mutmaßlich bediente (es gilt die Unschuldsvermutung). „Das sind natürlich Narzissten, also Menschen, die darauf konditioniert sind, der Beste oder die Beste, Schönste und Tollste sein zu wollen – ohne diese Superlative empfinden sie ihr Leben als wertlos.