Denn Schicker tat Dinge, die man in Traditionsklubs nicht tut. Er setzte alternde Vereinslegenden vor die Tür, etwa den langjährigen Tormann Jörg Siebenhandl, der bei Fans und Medien beliebt war. Schnell bekam Schicker zu spüren, wer hier Hausmacht hat – und wer nicht. Doch er zog seine Linie durch. Alternden Stars „immer noch ein Jahr geben, auch wenn es nicht mehr reicht, das gibt es bei uns nicht“. Er setzte auf neue Datentools, um die Spielanalyse zu professionalisieren. Auch die Trainerwahl war riskant: Christian Ilzer, keine Sturm-Vergangenheit, nie Fußballprofi und gerade mit der Austria Wien im Sturzflug. Ilzer lag mit dem dortigen Sportchef Peter Stöger im Clinch, auch aufgrund unterschiedlicher Fußball-Auffassungen. Dabei gilt er als moderner Trainer-Typus, der seine Coachinglaufbahn mit 17 startete und sich aus der Provinz (von Weiz über Puch und Großklein) zum TSV Hartberg hocharbeitete und diesen in die Bundesliga führte. Ilzer, der Malocher, wurde zum Gegenmodell mancher Ex-Starkicker, denen hohe Ämter wie Ehrenzeichen zufallen.
Schicker und Ilzer sind aus einem Holz geschnitzt: ambitioniert, akribisch, arbeitsam. Und sie wollten zeigen, dass Traditionsklubs auch in der Moderne ankommen können. Ungeniert nahmen sie Anleihe beim Red-Bull-Modell. Sturm spielte nun ähnlich giftig, offensiv und attraktiv. „Wenn ich weiß, wie ich Fußball spielen will, dann weiß ich auch, welche Spieler ich brauche – das ist der Schlüssel“, sagt Schicker. Anfangs fischte er sogar im Salzburger Talente-Teich. „Wir wussten, die sind gut ausgebildet und können intensiven Fußball spielen“, erklärt Schicker. Das Ziel: „Wir wollten in jedem Spiel mehr laufen können als der Gegner.“ Die Spielweise ließen sie auch in allen Nachwuchsteams umsetzen. Und ernteten erneut Widerstand. „Da hieß es: Die können in der U15 ja nicht so viel laufen.“ Schickers Antwort: „Na sicher können sie so viel laufen.“ Bei Sturm sei „alles zu gemütlich“ gewesen. „Aber Fußball darf nie gemütlich werden. Das ist der falsche Weg. Wir müssen immer unangenehm bleiben.“
Traditionsklubs sind nicht einfach umzumodeln. Es gibt Legenden, die im Hintergrund mitreden – und große Medien-Platzhirsche, etwa die „Krone“ oder die „Kleine Zeitung“. Das erfordert viel Gespür für Neulinge. Schicker versuche, beide „gleich zu behandeln“, erklärte er im Podcast „Zweierkette“. „Es geht immer drum, wer welchen Transfer zuerst weiß.“ Das löse er „mit Hintergrundgesprächen“ auf seiner Almhütte. Offen gegen ihn zu schießen, traute sich aber ohnehin bald niemand mehr. Sturm spielte erfolgreicher, verbesserte sich in der Liga, schaffte es regelmäßig wieder in den Europacup. „Geht nicht, gibt’s nicht“, sagt Schicker im profil-Gespräch. Er sei ein positiver Typ. Gleich nach dem Feuerwerkunfall, bei dem er seine linke Hand verlor, hätten ihn Psychologen am liebsten in Watte gepackt – und ihm eingeredet, „dass es mir schlecht geht. Das war nicht mein Ansatz“, sagt Schicker. Er sei kein Jammerer, sondern einer, der in Lösungen denkt.
Schicker wollte mit Sturm schneller vorankommen und begann, ein Geschäftsmodell zu entwickeln: mit lukrativen Spielertransfers. Ähnlich wie Salzburg legte Sturm den Fokus auf internationale Rohdiamanten mit hohem Wiederverkaufswert. Und versuchte sie über eine attraktive Spielweise in die Auslage stellen. Das klappte schnell. Kelvin Yeboah kostete den Klub im Jahr 2021 500.000 Euro und brachte wenig später 6,5 Millionen Euro ein. Schicker fand Gefallen an der Methode. Er wollte große Teile des eingenommenen Geldes reinvestieren: in neue Kicker – um das Geschäftsmodell anzukurbeln. Auf seinem Zettel: Rasmus Højlund, ein 18-jähriger Däne, der in Kopenhagen nur wenig spielte und jetzt zwei Millionen Euro kosten sollte. Das klang einigen Beteiligten zu riskant. „Da musste ich intern fighten“, sagt er. In Graz fühlten sich manche an die 1990er-Jahre erinnert, an Sturms große Zeit, in der drei Dinge im Vordergrund standen: Kartnig, Kohle und die Königsklasse. Damals gab es goldene Sitze im VIP-Klub, der Präsident fuhr im Rolls-Royce vor. Doch später verkalkulierte sich Hannes Kartnig bei Millionentransfers, etwa mit Charles Amoah, der 50 Millionen Schilling kostete und zum größten Flop der Vereinsgeschichte wurde. Der heutige Sturm-Präsident Christian Jauk, ein konservativer Banker, stimmte aber schnell zu. „Ich kann gut überzeugen“, sagt Schicker, „auch mit Argumenten, die verständlich sind“. Und Højlund schlug tatsächlich ein. Er schoss Tor um Tor – und wechselte um 17 Millionen Euro nach Italien. Drei Millionen gab es obendrauf, als Højlund weiter zu Manchester United wechselte: um 83 Millionen Euro. Das war Werbung für Sturm. Internationale Klubs wurden auf das steirische Sprungbrett aufmerksam. Intern aber gab es weiter Unkenrufe. Als der niederländische Neueinkauf Emanuel Emegha im Sommer 2022 nicht gleich ablieferte, erhielt Schicker Droh-Mails wütender Fans: Würde der Kicker noch einmal eingesetzt, gäben sie ihr Stadion-Abo zurück, hieß es. Wenig später wechselte Emegha (Einkaufspreis: 1,5 Millionen) für zwölf Millionen nach Frankreich.
Das Konzept klingt einfach. Auch Rapid, Austria und der LASK wollen es umsetzen. Doch selten geht es wirklich auf. Warum kommen die Rohdiamanten ausgerechnet nach Graz? Sturm verfügt nur über drei Vollzeit-Scouts, die Suche muss deshalb gezielt ablaufen. „Wir schicken niemanden zu einem Spiel, wo der Jüngste 27 ist“, sagt Schicker. Sturm konzentriert sich auf ein kleines Segment: schnelle, robuste Spieler mit dem gewissen Etwas. Hier ist der Konkurrent aus Salzburg übrigens eine wertvolle Hilfe. Seit von dort jährlich Spieler wie Erling Haaland oder Sadio Mane um hohe Millionenbeträge zu Topklubs wechseln, gilt Österreichs Liga als perfektes Sprungbrett für ambitionierte Talente.
Sturm hat sich auf diese Weise in kurzer Zeit einen Haufen Kapital (40 Millionen Euro) erspielt und 15 Millionen reinvestiert. Ein Pole, ein Däne, ein Norweger wechselten nach Graz – und gelten schon als die nächsten Gewinnbringer. Ein österreichisches Top-Juwel ist bis auf den 22-jährigen Alexander Prass aber nicht dabei. Auch dafür muss der Sportchef Kritik einstecken. Sturm werde zur austauschbaren Legionärstruppe, unken Fan-Romantiker. Alarm: Kein Steirer bei Sturm. Schicker hält fest: „Dieses kleine Denken, von wegen Steirer und Grazer, spielt es bei mir nicht.“ Das Leistungsprinzip zähle. Ganz einfach. Und doch fällt auf, dass aus dem eigenen Nachwuchs nur wenige in die Profimannschaft kommen. Auch am Österreicher-Topf der Bundesliga (Klubs, die mindestens zwölf Österreicher auf den Spielbericht schreiben, werden mit Geld belohnt) nimmt Sturm nicht mehr teil. Die Linie ist klar: „Wenn sie gut sind, geht es nach oben. Wenn nicht, dann reicht es eben im ersten Schritt für Sturm nicht“, sagt Schicker. Der Nachwuchs fristet ein stiefmütterliches Dasein. In Graz schiebt man das auf die marode Infrastruktur. Bald soll ein neues Trainingszentrum entstehen und die Situation verbessern. Auffällig ist, dass Sturm-Altstars, die bei den Profis keinen Platz mehr finden, im Nachwuchs geparkt wurden: etwa Mario Haas (U16) oder Jürgen Säumel (Sturm II).
Trotz der Erfolge gibt es bei Sturm genügend Baustellen. Etwa das Stadion. Rapid und der LASK spielen in modernen Tempeln, mit denen sie ein Millionengeschäft machen können. Die alte Grazer Merkur-Arena ist marode geworden. Sie ist im Besitz der Stadt, Sturm bloß Mieter. Der Klub versucht nun das Baurecht zu erwerben – um dann, in einer modernisierten Arena, auch Geld mit VIP-Logen und Gastronomie einzunehmen. Allein die Schankrechte, rechnet Schicker vor, würden bei 300.000 Zuschauern pro Jahr und bei einer Konsumation von zehn Euro pro Kopf drei Millionen Umsatz bedeuten. „Das ist Geld, das wir brauchen.“ Ein Investor zur Beschleunigung des Wachstums ist kein Thema. „Das brauchen wir nicht, wir wollen die nächsten 100 Jahre Sturm Graz bleiben“, erklärte Präsident Jauk. Schicker muss das Geld also weiterhin über gute Arbeit einspielen.
Ilzer und Schicker sind international derweil zu gefragten Männern geworden – was, wenn sie Sturm abhandenkommen? Bricht dann alles so schnell zusammen, wie es entstanden ist? Vor Schicker verfolgte Sturm keine klare Linie. Trainer mit unterschiedlichen Philosophien wechselten sich ab. „Es ist meine Aufgabe, dass ich Ideen habe, wenn Ilzer geht“, sagt Schicker. Und was seine eigene Position betrifft? Er sei im ständigen Austausch mit dem Präsidenten, dem er seine Fußball-Weltanschauung vermittelt. Auch in Vorstandssitzungen versuche er, „Spielidee, Prinzipien und Kaderplanung zu veranschaulichen. Das kommt gut an. Jeder weiß, was unser Weg ist.“
Dieser Weg mündet am Ostersonntag im Sturm auf Salzburg. Die Herausforderer-Rolle hat man sich selbst erspielt. 46 Millionen Umsatz wurden zuletzt in Graz erwirtschaftet – und damit Rapid eingeholt und die Austria abgehängt. Der Kaderwert explodierte in vier Jahren von 15 auf 55 Millionen. Man war in den letzten beiden Saisonen Vizemeister und 2023 auch Cupsieger. Erstmals seit 23 Jahren wurde heuer ein Europacup-Achtelfinale erreicht. Und nun: der letzte große Coup. Salzburg vom Thron stoßen. Der legendäre Sturm-Präsident Kartnig, ein Polterer und Showman, hätte wohl gesagt: Die panieren wir! Schicker formuliert es etwas zurückhaltender: „Von der Papierform her ist es schwierig, da ist Salzburg der haushohe Favorit.“ Aber? „Aber wenn man neun Runden vor Schluss zwei Punkte hinten ist, wollen wir alles versuchen.“ Wie es geht, weiß Sturm jedenfalls: Von den letzten acht Duellen gegen den Serienmeister haben die Grazer nur zwei verloren.