DORTMUND-TRAINER THOMAS TUCHEL: "Es gibt keinen Grund, sich die Laune vermiesen zu lassen.“
Freiheit, Mut, Normalität

Dortmunds Trainer Thomas Tuchel: Freiheit, Mut, Normalität

Ballsaison - die profil-Fußallkolumne von Wolff-Christoph Fuss.

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Es war der 11. April 2017, und ich sollte für den TV-Sender Sky in der Konferenzschaltung das Spiel Borussia Dortmund gegen AS Monaco kommentieren. Parallel lief die Partie Juventus Turin gegen Barcelona, und wir sollten fröhlich hin und her schalten. Da Konferenzschaltungen quer durch Europa technisch komplex sind, sitzen die entsprechenden Kommentatoren für diese Form der Übertragung in München.

An solchen Abenden lasse ich Zuschauer und Fans, bevor es um 20:45 Uhr losgeht, gerne via "Facebook live“ an meinen Vorbereitungen teilhaben. Im Zuge dieser Plauderei erreichten mich gegen 19:30 Uhr erste Fragen: "Was ist da mit der Explosion?“ Im Verlauf einer solchen Session kommen mitunter Tausende von Fragen und Wünschen, und nicht alle machen immer Sinn: "Hey Wolff, sag mal Idar-Oberstein. Hey Wolff, sehe dich in Las Vegas. Hey Wolff, schöne Grüße aus Sydney. Hey Wolff, glaubst du, Zwickau schafft den Aufstieg noch? Hey Wolff, grüß mich mal, ich habe Geburtstag. Hey Wolff, was war das für eine Bombe?“ Da, schon wieder. Ich fragte meinen Redakteur, ob er etwas dazu wisse, und er antwortete mir, dass erste Meldungen über den Nachrichtenticker liefen. Es habe offenbar eine Explosion am Bus von Borussia Dortmund gegeben. Auch in der Studiosendung von Sky wurde aus diesem Anlass das Programm geändert, und die Kollegen bestätigten entsprechende Meldungen auch von vor Ort. Im Verlauf des Abends wurde gewahr, drei Sprengsätze am Bus wurden gezielt gezündet. Mittlerweile wissen wir, dass eine komplette Fußballmannschaft gezielt ausgeschaltet werden sollte, um durch den dadurch fallenden Kurs der BVB-Aktie hohe Gewinne zu generieren. Der mutmaßliche Täter sitzt in Untersuchungshaft.

Noch ohne dieses Detailwissen über Täter, exakten Tathergang und genaue Umstände verfügte die UEFA bereits am Tatabend, dass das ausgefallene Spiel keine 24 Stunden später nachgeholt werden sollte. Ohne auch nur ein Mal mit den Betroffenen gesprochen zu haben. Der Spieler Marc Bartra lag schwer verletzt im Krankenhaus. Ein Polizist der begleitenden Eskorte wurde verletzt, wie durch ein Wunder kam es nicht zu weiteren Verletzten oder gar Toten.

Aus dem Technokraten wurde der Mensch Tuchel.

Das Spiel und Borussia Dortmund wurden zum Symbol heroisiert, als Statement für Freiheit, für Mut, für Normalität, für Menschlichkeit. "You’ll never walk alone“ wurde die dazugehörige Hymne und eben nicht die der Champions League. Denn die UEFA verpasste einmal mehr die Chance, ihre ethischen Leitlinien nicht nur werbewirksam vor sich herzutragen, sondern tatsächlich auch zu leben und umzusetzen. Stattdessen war das Zeichen eben auch: Die Bomben sind kein Grund, den Zeitplan über Gebühr verrutschen zu lassen.

Mannschaft und Stab hatten sich zu fügen. Wie viel Kraft und Überwindung das gekostet haben mag, kann nur wirklich beurteilen, wer im Bus oder in der Eskorte gesessen ist. Dortmund verlor dieses Spiel gegen Monaco und schied schließlich im Viertelfinale aus. Dortmunds Trainer Thomas Tuchel sagt noch heute, man müsse diese Zeit in Klammern setzen, und es habe überhaupt keinen Sinn, diese Spiele sportlich beziehungsweise ausschließlich sportlich zu beurteilen. Er selbst hat in dieser Zeit einen äußerst anspruchsvollen Spagat geturnt.

Er ist als Fußballlehrer ein absoluter Perfektionist, der in Prozessen denkt und in jeder Sekunde versucht, den kommenden Gegner zu dechiffrieren. In jener Zeit war er allerdings vielmehr Ansprechpartner und Psychologe für seine Spieler und gleichzeitig auch Betroffener und musste täglich diese Gefühlsmelange in Pressekonferenzen moderieren. Wie er das geschafft hat, verdient allergrößten Respekt. Aus dem Technokraten Tuchel wurde der Mensch Tuchel.

Vergangenes Wochenende gegen Köln war ich wieder im Signal Iduna Park. Die Sicherheitsvorkehrungen waren noch immer erhöht, aber es ist doch wieder weitestgehend Normalität eingekehrt. Marc Bartra lief mit einem Lächeln im Gesicht an mir vorbei, der verletzte Arm ist noch bandagiert, aber er ist schon wieder ins Lauftraining eingestiegen. Borussia Dortmund hatte vor einigen Tagen Bayern München im Pokalhalbfinale ausgeschaltet und nimmt in der Liga Kurs auf die Champions-League-Plätze. Dortmund spielte 0:0 gegen den 1. FC Köln und Tuchel sagte hinterher: "Es gibt keinen Grund, sich die Laune vermiesen zu lassen.“

Wolff-Christoph Fuss kommentiert wöchentlich die Topspiele der deutschen Bundesliga und der UEFA Champions League live auf Sky.