Kulturelle Aneignung: Finde den Fehler!
Es war ein Sommerabend zum Haareraufen. Am 18. Juli wurde in der alternativen Berner Brasserie Lorraine ein Konzert der Reggaeband "Lauwarm" abgebrochen, weil – so die Veranstalter – beim Publikum "Unwohlsein" entstanden sei über die Tatsache, dass zwei der weißen Musiker Dreadlocks trugen. Der Ursprung des Unwohlseins hat seine Wurzeln in einer Debatte, die seit den frühen 1980er-Jahren geführt wird, lange auf akademische Sphären beschränkt war und im vergangenen Jahrzehnt schließlich eine große Öffentlichkeit erreichte. Dort sorgt sie seither regelmäßig für skandalisierte Erhitzung. Es geht in dieser Debatte um "kulturelle Aneignung". Worin diese genau bestehe, bleibt bei vielen der laufenden Skandale unklar. Der Begriff raunt sozusagen aus sich selbst heraus und bedeutet sehr oft genau das, was man halt gerade darunter verstehen will, was einer Debatte selten wohl bekommt.
Ein Monat später: Der Ravensburger Kinderbuchverlag erklärt am 19. August via Instagram, dass er die Auslieferung seines Buchs zum Film "Der junge Häuptling Winnetou" stoppen werde. Grund dafür seien "die vielen negativen Rückmeldungen zu unserem Buch" gewesen: "Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben." Die Kommentarspalten liefen erwartungsgemäß heiß. Zeitungsseiten und Onlineforumsbeiträge wurden mit dem Thema geflutet, Cancel Culture und linker Meinungsterrorismus beklagt. In der letzten Augustwoche lag das Thema "Winnetou" aufmerksamkeitsökonomisch allen Ernstes auf dem Niveau von "Gaspreis" und "Putin". Grundsätzlicher Tenor: Wir lassen uns unsere Indianer nicht verbieten!
An dieser Stelle erscheint es angebracht, für eine gewisse Nüchternheit zu sorgen – und ein paar grundlegende Fragen zu dieser verkorksten Debatte zu klären.
Worum geht es?
Was heißt das eigentlich, "kulturelle Aneignung"? Im englischen Original, also als "cultural appropriation", tauchte der Begriff Mitte des 20. Jahrhunderts erstmals auf, in den 1980er-Jahren gewann er im Zuge der postcolonial studies an Einfluss. Als Debattenthema von globaler Reichweite eignet er sich allerdings erst seit knapp zehn Jahren, nämlich seit der großflächigen Durchsetzung der sozialen Medien. Eine weitverbreitete Definition formulierte die US-Juristin Susan Scafidi im Jahr 2005: "Cultural Appropriation, das ist, wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg, um daraus Profit zu schlagen."
Es geht also, grob gesagt, um die illegitime Übernahme kultureller Hervorbringungen – Texte, Bilder, Praktiken, Gegenstände, Gebräuche. Und es geht, ganz wichtig, um die Machtverhältnisse, unter denen diese Übernahme passiert, kurz gesagt: um Ausbeutung. Diese Verhältnisse sind selten auf den ersten Blick zu erkennen, und meistens wird der zweite Blick die Sache noch weiter verkomplizieren. Sehr häufig steht dahinter eine koloniale Vorgeschichte. Wenn der steirische Volksmusik-Künstler Andreas Gabalier sich im Stile eines 1950er-Jahre Rock'n'Rollers inszeniert, mag das kulturelle Aneignung sein, erscheint aber ebenso wenig bedenklich wie die Tatsache, dass die US-amerikanische Musikerin Megan Thee Stallion auf ihrem jüngsten Song "Anxiety" über ein Jodel-Sample rappt.
Kontext matters. Die Kritik an der kulturellen Aneignung hat ihre Wurzeln in den USA und lässt sich nur mit einigen Reibungsverlusten nach Österreich übertragen. Es gibt hier keine vergleichbare Vorgeschichte von Sklaverei und Rassentrennung, also fehlt den Debatten, die wir hier führen, häufig der Kontext, darum erscheinen sie auch bisweilen weltfremd.
Es ist ja wirklich allzu einfach und billig, sich über die zweifellos vorhandenen Blödheiten der Aneignungs-Debatte zu empören. Ja dürfen wir denn gar keine Dreadlocks mehr tragen, nie wieder Indianer spielen, kein Sushi mehr formen? Was soll Hans Söllner sagen? Oder Waterloo, Bully Herbig, ein Schamane aus der Esoterikszene? Dass die deutsche Grünpolitikerin Bettina Jarasch im Vorjahr bei einem Parteikongress mit Schimpf und Schande überzogen wurde, weil sie auf die Frage nach ihrem frühkindlichen Berufswunsch keck mit "Indianerhäuptling" geantwortet hatte – man kann das überschießend finden. Auf Jarasch bezogen trifft der Vorwurf der kulturellen Aneignung, der ja in der Regel einen latenten Rassismus unterstellt, wohl die Falsche. Aber, und schon wird es kompliziert, im Kern hat er eben doch seine Berechtigung.
Denn auch im unschuldigen Cowboy-und-Indianer-Spiel steckt ein rassistischer Kern, der den Genozid an der amerikanischen Bevölkerung durch die europäischen Kolonialisten ignoriert, millionenfachen Mord romantisiert. Die gutmütige Wertschätzung gilt einem rassistischen Konstrukt, das müssen Kinder nicht wissen, aber Erwachsenen ist es doch zuzutrauen. An dieser Stelle wird auch die Frage brisant, wer aus welchen Gründen Dreadlocks trägt. Die – in den allermeisten Fällen wohlmeinende – Identifizierung mit den jamaikanischen Outsidern der Rasta-Gemeinde ignoriert deren historische Leidensgeschichte oft genauso selbstverständlich wie die Tatsache, dass schwarze Dreadlock-Träger bis heute rassistischen Amtshandlungen und alltäglichen Anfeindungen ausgesetzt sind.
Was geht, und was geht nicht?
Vor bald 100 Jahren wurde mit dem Film "The Jazz Singer" die Ära des Tonfilms eingeläutet. Er handelt von dem weißen, jüdischen Sänger Jakie Rabinowitz (Al Jolson), der aus seiner Familientradition ausbricht und zum Jazzsänger wird, mit allem, was dazugehört, unter anderem: schwarzer Gesichtsfarbe. Es ist eine rührende Emanzipationsgeschichte, die einem heute im Hals stecken bleibt. Inzwischen hat sich eben doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass solches "Blackfacing" – wie auch immer die dahinterstehende Absicht sein mag – eine üble, rassistische Tradition fortsetzt, nämlich die hämischen Minstrel-Shows des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Aber Jolson eignete sich nicht nur eine neue Hautfarbe an, sondern auch eine musikalische Kultur – und wurde damit zu einem dominanten Mainstream-Star. So wie nach ihm etwa auch Paul Whiteman ("King of Swing"), Benny Goodman ("King of Jazz") oder Elvis Presley ("King of Rock'n'Roll").
Schwarze Alltags- und Populärkultur wurde tatsächlich über Jahrzehnte hinweg immer wieder als Selbstbedienungsladen für weißes Gewinnstreben – ökonomischer oder auch nur selbstdarstellerischer Natur – betrachtet. Die schwarzen Pioniere dieser Stile blieben sehr oft unbedankt und meistens unbezahlt. Wo heute "kulturelle Aneignung" angeprangert wird, wird oft schlicht Gerechtigkeit eingefordert.
Was dabei aber nicht behauptet wird – auch wenn sich gerade in diesen Punkt oft die Debatte verbeißt –, ist der exklusive Eigentumsanspruch auf bestimmte kulturelle Formen. Der Blues gehört nicht Robert Johnson, der Jazz nicht Louis Armstrong. Beide Kunstformen – und ja, auch HipHop oder der ebenfalls ursprünglich schwarze Techno – tragen sehr wohl Spuren von weißen Musikerinnen und Musikern. Kultur existiert nicht im Format von Besitzverhältnissen, sondern ist eine kollektive, im Fluss befindliche Formation – außer natürlich, es geht um individuelle Urheberrechte. Und gerade in diesem Bereich ist die Kritik an der Aneignung berechtigt, wurden schwarze und weiße Urheber historisch keineswegs immer gleichbehandelt. Eine reine, abgegrenzte, in sich authentische Kultur und kulturelle Identität existiert dagegen wohl nur in der Vorstellung völkischer Ideologen (die es freilich nicht nur in weißen Burschenschaften gibt).
Diebstahl ist Diebstahl, Plagiat ist Plagiat, aber die Aneignung von kulturellen Ausdrucksformen ist das alles nicht, sie ist vielmehr ein wichtiger Teil der kulturellen Entwicklung. Ohne kulturelle Aneignung wäre Kultur per se nicht denkbar, auch die traditionals des schwarzen Blues haben Wurzeln, die außerhalb der Baumwollplantagen des amerikanischen Südens liegen, der Jazz ist an sich eindeutig Fusion-Kunst. Konsequent ans Ende gedacht würden wir ohne kulturelle Aneignung unsere angeborene Scholle gar nicht mehr verlassen, würden immer noch jodelnd im Alpental sitzen – die Welt als Heimatmuseum.
Der Gedanke unterschlägt aber eben, dass diese Konsequenz auch von den radikalsten Verfechtern einer Aneignungs-Kritik nie gefordert wurde. Sondern vielmehr: Respekt. Dieser kann sich finanziell äußern oder in schlichtem Nachdenken darüber, was man da macht und ob es eine gute Idee ist, bei einer Unterwäsche-Modenschau eine Federkrone aufzusetzen oder als kalifornische Popsängerin mit einem Kimono zu einer Preisverleihung zu kommen.
Hier nähert sich die Debatte um die kulturelle Aneignung jener um die Identitätspolitik, die ja leider ähnlich verkorkst verläuft und selbst den solidarischen Austausch zwischen verschiedenen Erfahrungswelten verdächtig erscheinen lässt. Homogene, reine Identität ist ein konservatives Projekt, an das sich manche besonders eifrige Verfechter der Aneignungs-Kritik sehr eng anschmiegen.
Natürlich schwingt dabei immer auch die Sehnsucht nach dem Echten mit, dem Authentischen, Ursprünglichen, das gerade im Digitalen eine neue Brisanz erhält, wo es ja nie ganz gesichert erscheint, wo Deep Fakes und Formen der kreativen Selbstdarstellungen verwirrend ineinanderfließen. Freilich ist das Dogma der kulturellen Reinheit, das der "woken" Bewegung gern attestiert wird, in den allermeisten Fällen nur eine Unterstellung.
Die Rolling Stones haben bei Muddy Waters geklaut, aber sie haben ihn auch zitiert, haben ihre Verehrung für den großen Bluesgitarristen immer wieder öffentlich betont. Sie haben aber auch Millionen verdient und Waters keine entsprechenden Tantiemen überwiesen. Sie haben, zweites Aber, dafür gesorgt, dass Waters in ihrem Windschatten ein größeres Publikum erreichte, als er es ohne sie getan hätte.
Chuck Berry wurde in den 1950er-Jahren nicht im weißen Radio gespielt, kam nicht in die Billboard-Charts, auch nicht auf dem Höhepunkt der Rock'n'Roll-Mania. Die Gesellschaft war rassistisch, Elvis war ein Teil von ihr, und er hat nichts dazu beigetragen, das zu ändern.
Es ist intuitiv nicht so schwierig, zwischen schamloser Ignoranz und echter Wertschätzung, zwischen abfälliger Karikatur und reflektierter Kunst zu unterscheiden, und es ist nicht so schlimm, im Zweifel die Bedenken anderer zu achten, die sich von bestimmten Äußerungen oder Werken verletzt fühlen. Kulturelle Enteignung ist etwas anderes als kultureller Austausch. Austausch ist etwas anderes als Ausbeutung.
Ja, was darf man denn jetzt wirklich noch?
Man darf eigentlich noch ziemlich viel. Die Cancel-Kultur ist nicht so weit verbreitet, wie es ihre Gegner oft beklagen. Eminem wird gefeiert, die Rolling Stones werden geliebt, Elvis verdient 45 Jahre nach seinem Tod immer noch Millionen. Man darf ruhig auch darauf beharren, dass man sich wünsche, die Unterschiede (zwischen den Kulturen, Hautfarben) würden keine Rolle mehr spielen. Dann sollte man sich aber auch dafür einsetzen, dass diese Unterschiede nicht nur im Reggae-Club, sondern auch auf der Einwanderungsbehörde verschwinden.
Dass so vieles Verschiedene unter dem Begriff kulturelle Aneignung subsumiert wird, ist ein Problem. Denn es besteht eben doch ein qualitativer Unterschied zwischen rassistischer Karikatur (Blackfacing) und wertschätzender Auseinandersetzung (Freejazz-Combo). Wer "kulturelle Aneignung" reflexhaft mit Ersterem verbindet, wird bei der bloßen Erwähnung des Begriffs Alarm schreien. Umgekehrt werden jene, die von seltsamen Vorwürfen wie der "kulturellen Aneignung" des persönlichen "Indianerhäuptlings" der Grünpolitikerin Bettina Jarasch hören, daraus schließen, dass die Debatte in allen Fällen auf Mumpitz hinauslaufe. Diese Ambivalenz wird von konservativer Seite gern bedient, um legitime progressive Anliegen zu verunglimpfen. Der Dogmatismus, der dabei oft insinuiert wird, bleibt ein Phantom.
Der weiße Küchenchef, der in der US-amerikanischen Unimensa vietnamesische Banh mi anbietet, sollte sich dafür nicht rechtfertigen müssen. Und diejenigen , die an diesem Beispiel den Untergang der liberalen Demokratie festmachen, sollten auch noch einmal genauer hinschauen. Denn das Beispiel ist zwar legendär, hält einem Faktencheck aber nicht stand: Im Sommer 2015 berichtete die Campuszeitung des Oberlin College in Ohio, dass einige asiatisch-amerikanische Studenten sich dort über die asiatisch inspirierten Mensa-Gerichte beschwert hätten. Der Artikel wurde von der Boulevardzeitung "New York Post" aufgegriffen und, nun ja, zugespitzt. Aus der Beschwerde über schlecht gemachte Schweinefleisch-Sandwiches, die mit Banh mi einfach nichts zu tun hatten, wurde ein linker Kulturkrieg. Bis heute wird der Vorfall als Paradebeispiel für die Absurdität der ideologisch verhärteten Woke-Linken durch die Kommentarspalten getragen. Es ging zwar um die Qualität des Essens, nicht um dessen Herkunft, aber das Thema war zu gut, um es nicht auszuschlachten. In der aktuellen Debatte ist "kulturelle Aneignung" so etwas wie ein Scheinriese: Je näher man hinschaut, desto kleiner wird sie.
Auch am Beginn der jüngsten Winnetou-Debatte stand keine Jagdgesellschaft linker Ideologen, sondern die freie Entscheidung eines Verlags, ein missglücktes Buch nicht auf den Markt zu bringen. Die "vielen negativen Rückmeldungen", die Ravensburger überzeugt hatten, stammten nicht aus einem woken Shitstorm, sondern aus der bürgerlichen Presse: Der "Junge Häuptling Winnetou" bediene alte Klischees und Stereotypen, hatten etwa "Die Zeit" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" festgehalten.
Ihre allerblödeste, unheimlich lustige Pointe erreichte die Debatte dann aber am 24. August. Die Nachricht erreichte uns auf der Website der Schweizer Boulevardzeitung "Blick": "Reggae-Band Lauwarm spielt am Sommerfest der Weltwoche". Das rechtspopulistische Wochenmagazin hatte die von der linken Rasta-Polizei eingetunkte Band also ins Boot geholt. Es schaukelten, auf einer Zürcher Nobelterrasse und mutmaßlich ohne Ganja-Buffet, der völkisch orientierte AfD-Politiker Alexander Gauland, der ehemalige deutsche Verfassungsschutzpräsident und Migrationskritiker Hans-Georg Maaßen, etliche prominente Corona-Leugner und der schelmisch lächelnde "Weltwoche"-Verleger Roger Köppel. Identitätspolitiker aller Völker, vereinigt. Ein Sommerabend zum Haareraufen.