eatdrink: Das Taschenbuch
Was haben das Lin Heung Tea House in Hongkong und die Piazza della Vittoria in Castelfranco Emilia zwischen Modena und Bologna gemeinsam? Sie sind Taschenmanufakturen, und zwar in richtig großem Stil - Teigtaschenmanufakturen, in denen geknetet, gewalkt, gefüllt, geformt und gekocht wird, als gäbe es kein Morgen. 3000 Bambuskörbe mit jeweils fünf Dim Sum, die Schwein, Garnelen oder Gemüse in sich bergen, produziert das alte Hongkonger Etablissement täglich ab vier Uhr früh, also imposante 15.000 Stück.
Unterdessen in Italien: Im Städtchen Castelfranco Emilia steuert die Taschenproduktion der rezdore, wie die Tortellini-Macherinnen in der Emilia Romagna genannt werden, ihrem Höhepunkt im September zu. Dann findet die sagra del Tortellino statt - das achttägige Fest der Tortellini, bei dem zwei Tonnen der handgefertigten Teigtäschchen mit einer Füllung aus Schweinefleisch, Prosciutto, Mortadella und Parmesan in einer Suppe aus Rind und Kapaun verspeist werden; in einer Suppe wohlgemerkt, denn mit Ragú gilt's hier als Sakrileg. Damit beim Fest die Kultur nicht zu kurz kommt, führen die Italiener jedes Jahr auch die Legende von der Geburt der Tortellini auf. Die Geschichte, ganz kurz erzählt: Göttin Venus, erschöpft vom Kampf gegen Mars, wird in einem Gasthof während des Umkleidens vom Wirt durch das Schlüsselloch bespechtelt, und weil der Traumnabel der Venus den Voyeur ganz wurlert macht, entwickelt er Teigtaschen in Nabelform. Große Oper halt, wir sind schließlich in Italien ...
Kuriositäten des Teigtaschen-Kosmos
Es sind solche Geschichten, die die Autorin Nicole Schmidt (ehemals Chefin vom Dienst hier im profil) und der Fotojournalist Heimo Aga in ihrem Buch mit dem umweglos schlichten Titel "Teigtaschen" erzählen; und es macht Spaß, sie zu lesen, weil die beiden einen Blick haben für die Kuriositäten des Teigtaschen-Kosmos, für die kleinen Geschichten, die nie erzählt werden. Sie handeln davon, dass ein chinesischer Arzt Heilkräuter in Dim Sum füllte, damit man die Medizin besser zu sich nehmen konnte, und davon, dass ukrainische Mädchen Zettel mit den Namen heiratswürdiger Mannsbilder in den Wareniki versteckten und darauf warteten, welche der gefüllten Nudeln als Erste an die Oberfläche des Kochwassers aufstieg. Oh nein, es ist Volodymyr! Ich kann das Gekicher beinahe hören ...
Schmidt und Aga, leidenschaftliche Reisende, haben viele Originalschauplätze örtlicher Teigtaschenkulturen besucht. Die Recherchen ergeben eine eindrucksvolle Übersicht. Fast hätte ich geschrieben, dass keine maßgebliche Küche der Welt ohne gefüllte Teigwaren auskommt, aber in der langen Liste fällt eines auf: Frankreich fehlt. Frankreich, der Nabel der kulinarischen Welt, hat Louis Vuitton, aber keine einzige nennenswerte essbare Tasche . Alle anderen Weltgegenden schon: Neben den Hochkulturen China und Italien hat Kärnten seine Kasnudeln, Deutschland die Maultaschen, die Mongolei Bansh, der Kaukasus Chiburreki, die Türkei Manti, die spanischsprachige Welt Empanadas, Japan Gyoza, der europäische Osten Pelmeni und Pierogi, Tibet Momos oder Indien Samosas; Schmidt und Aga listen insgesamt 125 Taschentraditionen quer über den Globus auf.
Ich mache mich erst einmal über meine Favoriten her, denn in Schmidts und Agas Buch findet sich auch das Originalrezept für die Tortellini Tradizionali di Castelfranco Emilia; kann doch nicht so schwer sein, wenn die Taschen aus 100 Kilo Teig pro Tag um den Finger wickelt: "Nun jedes Dreieck über den Zeigefinger legen und die beiden Spitzen rechts und links... " Ja, ein bisschen mehr Arbeit ist es schon.
Heimo Aga, Nicole Schmidt: Teigtaschen. Eine Reise zu den besten Rezepten der Welt, Hädecke 2017, 200 Seiten, 25,60 Euro