eatdrink von Klaus Kamolz: Ein großer Schlund
Jetzt hat die Historikerin, die bereits ein ganzes Buch über die Wiener Rindfleischküche vorgelegt hat, ein weiteres über die Wiener Küche und ihre schier unerschöpfliche Bandbreite geschrieben, und das Erste, was ich tun muss, ist, einen Einwand zu erheben. Haslinger meint, die Wiener Küche sei "tatsächlich als Einzige nach einer Stadt" benannt; eine österreichische Küche, die der anerkannte Küchenforscher und Autor Franz Maier-Bruck mit der Wiener gleichsetzt, gebe es gar nicht. Teil zwei des Arguments, geschenkt: Da verhält es sich wie in Italien, denn eine authentische und zugleich homogene italienische Küche, die das Aostatal und Sizilien unter ein Dach bringt, kann es gar nicht geben - genauso wenig, wie man die alemannischen Einflüsse mit den pannonischen verrühren kann. Aber die Wiener Küche halte ich nicht für die einzige glaubwürdig nach einer Stadt zu benennende. Zumindest eine römische gibt es sehr wohl. Die ist mit der aus Wien sogar sehr gut vergleichbar: selbstbewusst aus vielerlei kulturellen Einflüssen schöpfend (siehe: Artischocken auf jüdische Art, Gewürze wie Zimt und Schokolade in pikanten Speisen), enorm erfinderisch in der aus Armut und Mangel geborenen Kreativität (Wiener Bruckfleisch von der Schlachtbrücke und Innereien sowie weniger edle Teile, zum Beispiel Ochsenschwanz, aus dem sogenannten römischen quinto quarto, dem fünften Viertel des Schlachtviehs) und historisch bewusst.
Aber zurück nach Wien: Was Ingrid Haslinger uns in ihrem Buch "Die Wiener Küche" bewusst macht, ist, dass sie eine sehr alte ist; viel älter noch, als man annehmen könnte. Und dass sie schon sehr früh sehr viel mit dem gemein hatte, was wir heute darunter verstehen. In Wien wurde immer schon gern, viel und kulturell vielfältig gegessen, das ist die Voraussetzung für die Küchenphilosophie eines überschaubaren regionalen Raums. "In der That, der Magen von Wien ist ein großer Schlund, der den Überfluss aller benachbarten Provinzen verschlingt", schrieb der Schriftsteller Johann Pezzl um 1800. Da war schon lange wörtlich von der "Wiener Küche" die Rede. Ein Kapitel des Kochbuchs des Dorotheenklosters zu Wien hieß im frühen 15. Jahrhundert "Wiener Kochbuch". Ein anderes Wiener Kochbuch aus 1719 enthielt bereits Rostbratl, gekochtes Rindfleisch, Beischl und dünn geschnittene Scheiben vom Kalbfleisch: die schnizl.
Die Geschichte des Gulasch
Noch im selben Jahrhundert, nämlich 1793 (übrigens zwei Jahre nach Mozarts Tod, darf ich zur Orientierung anmerken), ist viel von dem, was die Wiener Küche ausmacht, schon da. In einer Arie des Singspiels "Die Teufelsmühle am Wienerberg" werden besungen: "eine Suppe mit Fleckerln","ein Rindfleisch mit Semmelkren und roten Rüben","ein g'fülltes Rostbratl","gebackene Karpfen" oder "ein wölscher Salat mit frischen Sardellen".
Ein ausführliches Kapitel widmet Ingrid Haslinger dem Gulasch, das dann doch eine weniger alte Geschichte hat, als man vermuten würde. Ursprünglich war gulyás der ungarische Rinderhirte; seine einfache Küche kam ohne Paprika aus. Die Schoten galten bis ins späte 18. Jahrhundert als billig auch im Sinne von minderwertig; sie waren vielen Menschen zu scharf. Erst als es unter Joseph II. Spannungen zwischen Wien und Budapest gab, wollten die Ungarn ihre Paprikaspeise heimholen und erklärten das Gulasch zum ungarischen Nationalgericht, was wiederum die Wiener auf den Plan rief. Haslinger listet die beeindruckenden Folgen des Gulaschgerangels auf: 51 verschiedene in Wien zubereitete Gulasche vom Concurrenzgulasch über das Fiakergulasch, zahlreiche Regionalvarianten aus Fiume, Triest, Znaim oder Prag bis zum Secessionsgulasch. Mit dem Ende der Monarchie war es mit dieser paprizierten Vielfalt vorbei. Und nicht nur damit, auch die Blütezeit der Wiener Küche ging zu Ende.
Nächste Woche: die Toast-Hawaii-Krise und der Neubeginn der Wiener Küche sowie ein Parcours durch historische Rezepte.
Ingrid Haslinger: Die Wiener Küche. Kulturgeschichte und Rezepte, Mandelbaum Verlag 2018, 396 Seiten, 28 Euro