Ein bisschen Córdoba
Der österreichische Erfolgslauf nimmt kein Ende. Erst der Achtelfinaleinzug, dann das Ausscheiden der Deutschen (was in der Regel noch mehr zählt) - und nun steht Österreich-Bezwinger Italien gar im Endspiel, was im Umkehrschluss wohl bedeutet: Wer gegen den Stärksten so hauchdünn verliert, hat (irgendwo) fast gewonnen, ist zumindest ein bisschen Europameister. Die "Kronen Zeitung" fabulierte von "heimgekehrten Helden", die "historische Niederlage" wurde frenetisch bejubelt. Heimische Erfolgsgeschichten waren nie ohne Makel. Bei der WM 1978 im argentinischen Córdoba war das Ausscheiden der Österreicher längst festgestanden, als man Deutschland 3:2 völlig überraschend in die Schranken wies. Der Sieg verhinderte zwar nicht den eigenen Untergang, riss aber die Deutschen mit in den Abgrund, was dann doch eine Heldensage wert war. Denn nur eines ist hierzulande schöner als der eigene Erfolg: der Misserfolg des anderen.
Dem Österreicher wird zugeschrieben, er agiere beim Fußballkonsum nahezu bipolar und pendle zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. In Wahrheit begnügt er sich schon damit, dass sich das eigene Team nicht bis auf die Knochen blamiert. Die rot-weiß-rote Fußballseele weiß: Glücklich ist, wer nichts erwartet. So bleibt man enttäuschungsresistent: Bislang hatte Österreich bei den vorangegangenen zwei EM-Antritten das Minimum erreicht, sprich: kein Spiel gewonnen. Traditionell rechnete der oberflächliche Beobachter auch heuer mit tollpatschigen und verängstigten Österreichern. Doch diese sind keine "Bloßfüßigen" mehr, sondern internationale Klassekicker, die logischerweise auch gegen Italien mit Selbstbewusstsein auftreten. Teamchef Franco Foda gelang zudem der Kunstgriff, seine hausgemachten Baustellen vor der Weltöffentlichkeit doch noch unter Kontrolle zu kriegen: So ließ er (zumindest in den letzten beiden Spielen) die Zügel locker und seine Spieler ins offensive Heil rennen. Und David Alaba verzichtete gnädigerweise darauf, Lionel Messi imitieren zu wollen.
Das Glück konnte trotzdem nicht erzwungen, weil schwer berechnet werden. Hätte Österreich in der Vorrunde nicht die Ukraine besiegt, hätte im Achtelfinale Schweden statt Italien gewartet. Offenbar besagt das Turnier-Reglement: Wer gewinnt, den bestraft das Leben. Oder die UEFA. Konsequenzen wird die Ungerechtigkeit wohl keine haben. Solange in Baku, St. Petersburg oder Budapest niemand Regenbogenfarben trägt, scheint Gerechtigkeit kein Thema und wird eine lückenlose Aufarbeitung vermieden.
Glücklicherweise wurde Marko Arnautović nach seinem Wutanfall und Rassismus-Eklat ebenso inkonsequent sanktioniert. Denn das Turnier hätte, zumindest durch die rot-weiß-rote Brille betrachtet, nur halb so viel Spaß gemacht ohne den "Mister Oberschenkel", dessen kurzfristige Abwesenheit den Unterhaltungsfaktor des Teams so reduzierte, als ob ein Mr.-Bean-Sketch ohne Mr. Bean stattfände. Arnautović hat nämlich die Erfolgsdramaturgie für jede gute Komödie verinnerlicht: Er dribbelt die halbe gegnerische Mannschaft aus, trifft ins Kreuzeck, überhebt den Tormann; läuft dann aber gegen den Pfosten, zerrt sich den Oberschenkel und springt dem Gegner an die Gurgel.
Bei der Europameisterschaft ereilte ihn das übliche Gefühlschaos: Wie gewonnen, so zerronnen. Erst rückte er nicht auf der Höhe seiner Kräfte, aber im goldenen Rolls-Royce, ins Teamquartier ein, erzielte wenig später das 3:1 gegen Nordmazedonien, beschimpfte jedoch danach seinen Gegenspieler so wüst, dass ihn die UEFA für ein Spiel unter Arrest stellte. Arnautović fasziniert, weil er sowohl das Rollenfach Glückspilz als auch das des Pechvogels in einem solchen Wechselspiel beherrscht. Gegen Italien ließ er innerhalb weniger Sekunden das ganze Land mitfühlen: Tor, Jubel, Abseits, Ärger. Arnautović muss die positive Seite sehen, also den Werbewert. Die Sitcom "Mein cooler Onkel Charlie" wäre wohl ein Ladenhüter ohne Alan, den tollpatschigen Bruder des smarten Charlie. Wer schaut schon gerne ausschließlich einem erfolgreichen Playboy beim Liebesspiel zu? Arnautović vereint Charlie und Alan. Das ist sein Erfolgsrezept.
Ein Heldenleben hat jedenfalls selten ein Ablaufdatum. Der Held von 1978 Herbert Prohaska agiert bis heute als werbewirksamer Chefanalytiker des ORF; der 1998er-Held Roman Mählich (bei der WM gelangen seiner Mannschaft zwei Remis) als sein Stellvertreter. Heiliggesprochen werden Fußballer in Österreich traditionell schon zu Lebzeiten und ohne nachweisliches Wunder. Ausnahme sind die Heiligen von Córdoba, die das 40-Jahr-Jubiläum der wundersamen Deutschland-Hinrichtung 2018 in aller gebotenen Feierlichkeit begingen.
Bleibt die Frage: Wird in Jahrzehnten noch gefeiert werden, dass Österreich 2021 Italien fast besiegt hätte? Eine echte Sensation gelang jedenfalls der Schweiz, die den amtierenden Weltmeister Frankreich ausschaltete. Oder den Dänen, die gegen England fast das Endspiel erreichten. Womit wir wieder bei "fast" und somit dem österreichischen Dilemma wären. Ganz nüchtern betrachtet hat nämlich Österreich als die Nummer 23 der Weltrangliste bloß Nordmazedonien (Platz 62) und die auf Platz 24 rangierende Ukraine besiegt. Die Sensation blieb also eine unvollendete. Damit kann man in Österreich aber durchaus leben. Immer noch besser als eine endlose Blamage. Oder ein 0:9 gegen Spanien. Alles schon da gewesen.
Nicht unbedingt blamabel, aber etwas seltsam mutete der Jubel des Österreich-Bezwingers Italien nach dem Halbfinaleinzug gegen Belgien an. Die eleganten Männer verschenkten ihre Hosen an mitgereiste Zuschauer und liefen daraufhin in knappen Slips über den Platz. Das rief Erinnerungen an den halb nackten Toni Polster bei der WM 1998 hervor, der nach seinem späten Ausgleichstreffer beim 1:1 gegen Kamerun im Adrenalinrausch gar seine Socken in die Menschenmenge schleuderte. Man soll die unentschiedenen Partien und die "historischen Niederlagen" eben feiern, wie sie fallen. Am besten geht das wohl ohne Hose. Und ohne Socken. Das Leben ist ohnehin eine große Sauerei, natürlich auch die Europameisterschaft. Alle vier Halbfinalisten durften nämlich ihre Vorrunden-Spiele im eigenen Stadion austragen, was Ländern wie Österreich (das altehrwürdige Happel-Stadion war der UEFA nicht neu genug) einen gehörigen Nachteil bescherte. Auch das müsste genau genommen in der Erfolgsbilanz des Fast-Italien-Bezwingers gegengerechnet werden.
Ebenso wie das Abschneiden der Deutschen, die zwar (wie Österreich) im Achtelfinale scheiterten-aber ohne Einzug in eine 30-minütige Verlängerung. Genau genommen war Österreich somit klar besser als Deutschland. Zumindest um eine halbe Stunde. Es dürfte nicht verwundern, sollte dieser Umstand mit etwas zeitlichem Abstand einen neuen, zumindest Córdoba ein bisschen ähnlichen Mythos bewirken.