Jede Mutprobe ist eine Grenzüberschreitung. Die Grenzen können in einem selber liegen oder außerhalb, können Angst, Ekel oder Scham betreffen.
Mut-Special

Eine kleine Kulturgeschichte der Mutprobe

Warum stellen Menschen ihren Mut auf die Probe? Ist es egal, ob dabei wer zusieht? Und was haben bissige Ameisen aus dem Amazonas-Regenwald mit Ladendiebstählen in der SCS zu tun? Eine kleine Kulturgeschichte der Mutprobe.

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Der Junge steht ganz oben am Turm, das Wasser ist weit weg, ziemlich genau zehn Meter unter ihm. Der Anblick lässt ihn zweifeln, die Knie werden von Sekunde zu Sekunde weicher. Er schlägt die Hände vors Gesicht, von unten rufen ihm die Leute zu.

Ein Freibad in Wien, an einem Samstag im August um halb vier Uhr nachmittags, der Zehnmeterturm ist fürs Publikum geöffnet, Höhepunkt des Badetags. Mutige, Tapfere, Angstlustige und Angeber stellen sich an, um den großen Sprung zu wagen. Der Junge ist mit ein paar Freunden hochgeklettert, aber oben, beim Blick nach unten, hat ihn der Mut verlassen. Also steht er da, überlegt lange, schaut hinunter, zittert sich an die Kante, der Bademeister redet ihm gut zu. Er geht wieder ein paar Schritte zurück und lässt Entschlossenere vor. Nächster Versuch, die Leute unten am Beckenrand schreien jetzt immer lauter, die meisten auffordernd, einige auch feixend, aber der Mut reicht wieder nicht. Und wieder, und wieder nicht. Am Ende, nach fünf abgebrochenen Versuchen, klettert der Junge auf der Leiter wieder nach unten. Es gehört auch Mut dazu, sich seiner Angst nicht zu schämen.

Und, immerhin: Der Junge hat, zumindest an diesem Augustnachmittag, kein Waschmittel gegessen. Denn auch das gilt inzwischen – dank YouTube und TikTok – als gangbare Mutprobe. Und Mutproben sind – nicht nur heute, nicht nur in sozialen Medien – praktisch unvermeidlich. Sie gehören zur Persönlichkeitsentwicklung, zum Erwachsenwerden. Sie sind so zahlreich wie vielfältig, aber jede Mutprobe ist eine Grenzüberschreitung. Die jeweilige Grenze mag außen liegen oder in einem selbst, mag Scham, Ekel oder das Strafgesetzbuch betreffen, aber ihre Erkundung, ihre Überschreitung oder – wie in unserem Beispiel – auch Nichtüberschreitung prägt den Menschen.

Tatsächlich stehen Mutproben meist an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend. Zahlreiche Übergangsrituale traditioneller Gemeinschaften sind im Grunde Mutproben.

Das aristotelische Ideal des Muts liegt in der Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, die Pole, zwischen denen eine Mutprobe entsteht, heißen Selbsterhaltung und Neugier. Mutproben dienen der Selbstbestätigung und der Anerkennung von außen, sie können Spaß bereiten oder dauerhaft verunsichern, sie können Horizonte erweitern, Identitäten stärken oder Cliquen vergrößern. Nur in den seltensten Fällen geht es freilich um Zivilcourage oder gesellschaftliche Veränderungen. Mutproben sind eine sehr individuelle Angelegenheit. Zwischen Regenwurm-Essen und U-Bahn-Surfen liegen Welten, aber sie bewegen sich im selben Kosmos.

Zwischen Risikovermeidung und Tatendrang besteht ein psychologischer Grundkonflikt, dessen Aushandlung eine Persönlichkeit definiert. Es gibt sogar Fachbegriffe dafür: Der Philobat tendiert dazu, Wagnisse einzugehen, für den Oknophilen liegt der Fokus auf der Sicherheit des Gewohnten. Tiefenpsychologisch betrachtet, ist der Mensch im Verlauf seiner geistigen Entwicklung früher oder später mit der Erkenntnis konfrontiert, dass er im Grunde auf sich gestellt ist, allein in der Welt, abgetrennt vom Anderen, von Mutter, Vater, Welt. Er muss sich selbstständig zu diesem Anderen verhalten – und sich dabei manchmal selbst überwinden.

Über die Schwelle

Tatsächlich stehen Mutproben meist an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend. Zahlreiche Übergangsrituale traditioneller Gemeinschaften sind im Grunde Mutproben: Die brasilianischen Sateré-Mawé etwa feiern das Fest der Riesenameise, bei dem junge Burschen einen Handschuh aus geflochtenen Pflanzenfasern anziehen, in den bis zu 200 Exemplare der Tropischen Riesenameise eingeflochten sind, deren Gift heftige Schmerzen auslöst. Der Schmerz dieser „Ameisenprobe“ wird als unbeschreiblich beschrieben; wer ihn übersteht, kann in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen werden. Auch die Rituale mancher studentischen Burschenschaften stehen in dieser Tradition: das Fechten mit scharfen Waffen als rituelle Überwindung der individuellen Angst und Bedingung zur Aufnahme in die Gemeinschaft.

Nun besteht der wesentliche Unterschied zwischen Mutprobe und Initiationsritus darin, dass Erstere selbstbestimmt ist und eben kein gemeinschaftliches Pflichtprogramm. Aber die psychologische Grunderfahrung schlägt doch in dieselbe Kerbe. Mutproben sind entwicklungsgeschichtlich prägend und solchermaßen auch kulturelle Dauerbrenner. Mit Nicholas Rays „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) wurde James Dean unsterblich in der Rolle des Jim Stark, der bei einem pubertären Mut-Wettbewerb mit einem Auto auf eine Klippe zufährt, im letzten Moment aussteigt und gerade noch überlebt – während sein Konkurrent Buzz Gunderson tödlich abstürzt. Die Faszination dieser Szene liegt auch darin, dass sie – absurd spektakulär – etwas ganz Alltägliches zeigt.

Gruppendruck und Selbstbewusstsein

Die Szene erinnert auch an das hypothetische „Feiglingsspiel“ aus der mathematischen Spieltheorie: Zwei Spieler rasen in diesem Szenario mit Autos aufeinander zu – wer ausweicht, verliert das Spiel (aber nicht sein Leben). Bestehen beide die Mutprobe bis zur letzten Konsequenz, sind auch beide tot. Dieses Spiel lässt sich – natürlich mit einigen Differenzierungen – auf die atomare Gleichgewichtsdiplomatie des Kalten Krieges umlegen – und auf den Alltag: Mutproben können ganz schön idiotisch sein.

Das gilt besonders für jene „Challenges“, die beharrlich durch die sozialen Medien geistern und Teenagern und deren Eltern das Leben schwer machen. Denn Mutproben werden in der digitalen Welt weit über das „vernünftige“ Maß hinaus gesteigert, sowohl was ihre Verbreitung als auch ihre Gefährlichkeit betrifft. Bei der erwähnten „Tide Pod Challenge“ ging es etwa darum, wasserlösliche Waschmittel-Päckchen zu schlucken, was auf YouTube vor einigen Jahren erhebliche Anerkennung versprach, aber eben auch schwere Verätzungen auslösen kann. Ähnliche Blödheiten kursieren en masse; Jugendliche würgen sich selbst oder andere bis zur Bewusstlosigkeit; klettern ungesichert auf Hochhäusern herum; auch das U-Bahn- oder S-Bahn-Surfen, bekannt aus Problemfilmen der 1980er-Jahre, erlebte via Instagram-Reels eine Renaissance. Die Beratungsstelle „Rat auf Draht“ sah sich ob dieser Entwicklung zur Feststellung genötigt: „Es ist generell günstig, auf Mutproben zu verzichten. Denn die bringen meist nur Ärger. Du wirst vielleicht beim Stehlen erwischt und musst zur Polizei, bekommst von deinen Eltern Hausarrest oder verletzt dich möglicherweise sogar. Denk daran, dass derjenige wirklich mutig ist, der sich traut, immer nur das zu tun, was er auch wirklich möchte.“

Hochrisikoverhalten

Das aristotelische Ideal des Muts liegt in der Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, die Pole, zwischen denen eine Mutprobe entsteht, heißen Selbsterhaltung und Neugier. Zwischen Regenwurm-Essen und U-Bahn-Surfen liegen Welten, aber sie bewegen sich im selben Kosmos.

Aber der Druck ist halt groß. Er kommt meist mehr aus einem selbst als aus der Gruppe. Der deutsche Psychologe Jürgen Raithel hat sich intensiv mit dem Risikoverhalten im Jugendalter beschäftigt. Er schreibt, dass Mutproben und Initiationsriten wohl „eine Art anthropologische Konstante der Angst-/ Ekel-/Schamüberwindung“ darstellen und unterscheidet zwei Grundformen: „einerseits die eher spektakulären, riskanten Mutproben und andererseits die eher unauffälligen konventionsbrechenden Mutproben“ – also, beispielhaft: Von-der-Brücke-Springen versus Ladendiebstahl. Raithel hat auch eine der wenigen empirischen Studien zu dem Thema unternommen. Im Rahmen einer repräsentativen Schülerstudie in Nordrhein-Westfalen wurden knapp über 1000 Jugendliche zwischen neun und 17 Jahren zu ihren Erfahrungen mit Mutproben befragt. Etwa ein Viertel aller Jugendlichen dieser Gruppe hatte vor der Befragung Mutproben ausgeübt, davon deutlich mehr Jungen als Mädchen. Die meisten Mutproben wurden von Elfjährigen berichtet, danach sank die Häufigkeit. „Hiernach lässt sich die Annahme bekräftigen, dass Mutproben im Sinne von symbolischen Riten vor allem den Übergang von Kindes- ins Jugendalter markieren“, schreibt Raithel dazu: „Männliche wie weibliche Kinder beweisen sich und anderen, dass sie nicht mehr länger Kind sind.“ Am häufigsten wurden laut dieser Studie Mutproben durchgeführt, bei denen ein Verletzungs- oder Schmerzrisiko besteht, darunter waren wiederum Sprung- oder Höhenmutproben, Balance- oder Klettermutproben am beliebtesten. An zweiter Stelle standen sanktionierungsriskante Mutproben, also Verstöße gegen moralische oder Rechtsnormen wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder das Betreten gesperrter Flächen oder Gebäude. Auf die Frage nach den Motiven von Mutproben antworteten die meisten Befragten (nämlich knapp mehr als 50 Prozent): „um Spaß zu haben“. Nicht ganz 50 Prozent (Mehrfachantworten waren möglich) erklärten, sie hätten die Mutprobe gemacht, „um etwas Neues auszuprobieren“, etwa ein Drittel wollte sich selbst „etwas beweisen“, und nur zehn Prozent gaben an, dass sie aus Gruppenmotiven gehandelt hätten („weil es Freunde verlangt haben“ oder „um Freunden zu gefallen“).

Das johlende Publikum jenes Augustsamstags im Freibad hat den Jungen, der dann doch nicht vom Zehnmeterturm springen wollte, wohl schon wieder vergessen. Er selbst wird noch länger an diesen Tag denken. Den Weltrekord im Klippenspringen hält übrigens der Schweizer Laso Schaller. Am 4. August 2015 sprang er von einem 58,8 Meter hohen Felsvorsprung in einen Bergbach im Tessin. Schaller trug dabei sogar eine Helmkamera, das Video davon findet sich im Internet. Aber Vorsicht, es ist nichts für schwache Nerven.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.