ISLAND JUBELT: Leidenschaft und Unberechenbarkeit sind dem Fußball noch nicht ganz abhandengekommen.

EM-Tagebuch: Gummi Ben, CR7 & Super-Lewy

Sven Gächter über die dritte Woche der Fußball-EM in Frankreich.

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Unmittelbar nach dem Ende der Gruppenphase der Uefa Euro 2016 begann ein Sickerwitz zu kursieren, der in fachkundigen Kreisen für allgemeine Erheiterung sorgte. Der Witz ging so: Spanien scheidet im Achtelfinale aus – und ­Island kommt weiter. Ein paar Tage später war Spanien (Europameister 2008, Weltmeister 2010, Europameister 2012) tatsächlich ausgeschieden – und Island weitergekommen. Zur Ehrenrettung der Iberer ist allerdings anzumerken, dass die furia roja an taktisch blendend disponierten Italienern scheiterte. Unter anderen Umständen hätte das auch den Engländern passieren können, die es aber vorzogen, sich von kämpferisch blendend disponierten Isländern (noch dazu blutigen EM-Neulingen!) aus dem Feld schlagen zu lassen.

Darüber wurde dann auch weit über fachkundige Kreise hinaus herzhaft gelacht. Wenn auch nicht ganz überall: Im stolzen Mutterland des Fußballs ging die Brexit-Depression nahtlos in kollektive Entgeisterung über das frühzeitige und beispiellos blamable EM-Aus über. „Das war hirntoter Fußball von Individuen in Panik“, schrieb die Londoner „Times“. Bei den panischen Individuen handelte es sich um hochkarätige Premier-League-Profis, von denen jeder einzelne pro Woche vermutlich mehr verdient als der gesamte Island-Kader im Jahr. Selbst wenn man die aktuelle Pfund-Schwäche wohlwollend berücksichtigt, ist das immer noch sehr viel Geld. Wenigstens dürften die Engländer nun endlich von ihrem unseligen Elfmetertrauma befreit sein – an dessen Stelle ist die Schmach von Nizza getreten, wohl bis in alle Ewigkeit.

Die Sehnsucht nach Fußballmärchen ist ungebrochen.

Die Europameisterschaft in Frankreich, die zuvor eher zähflüssig dahingeplätschert war, hatte ihre erste echte Sensation – und neben den frenetisch gefeierten Underdogs auf dem Platz einen veritablen Kultstar: Mit seinem entfesselten Torjubel sprengte der isländische TV-Kommentator Gudmundur Benediktsson alle seit Edi Finger senior bekannten Dimensionen der Hyperventilation. Als deren gängige Symptome verzeichnet Wikipedia „Zittern, Muskelschmerzen und gelegentlich Lähmungen der Extremitäten“, begleitet von Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen und Benommenheit, bis hin zum Kreislaufkollaps. Im Sinne einer positiven medizinischen Prognose für „Gummi Ben“, wie er in seiner Heimat liebevoll genannt wird, kann man nur hoffen, dass Island nur ja nicht den Titel holt. Im Hauptberuf ist Benediktsson übrigens Fußballtrainer. Zuletzt war er als Assistenzcoach beim Erstligisten KR Reykjavik beschäftigt; nach einer 1:2-Niederlage gegen Iþrottabandalag Akraness wurde er jedoch gefeuert. Zum Glück hatte er an diesem Tag Wichtigeres zu tun: Er musste das Gruppenspiel zwischen Island und Österreich kommentieren und konnte sich schon einmal für den Showdown mit England warmschreien.

Die Sehnsucht nach Fußballmärchen ist ungebrochen. Durch die rasende Kommerzialisierung des Sports in den vergangenen Jahren sind Unwägbarkeiten auf ein Minimum beschränkt worden. Das System erfordert Stabilität, um die Profite berechenbar zu halten. Deshalb dominieren überall die Großen, in den nationalen Ligen wie in den internationalen Wettbewerben. Nur sie können sich dauerhaft jene Erfolge leisten, die das Publikum von ihnen erwartet. In der Monotonie der kalkulierten Triumphe lechzt dieses Publikum aber auch nach Überraschungsmomenten. Hin und wieder bekommt es sie sogar: Der Meistertitel von Leicester City etwa war ein heilsamer seismischer Schock für die im Großklotzkapitalismus erstarrte Premier League.

England und Spanien schieden verdient aus, weil sie der Unerschrockenheit ihrer Gegner nichts entgegenzusetzen wussten, was die eigenen Übermachtansprüche glaubhaft untermauert hätte.

Auch der Durchmarsch von Island bei der EM nährt die Hoffnung, dass dem Fußball Leidenschaft und Unberechenbarkeit noch nicht ganz abhandengekommen sind. Mit 24 statt wie bisher 16 Teams werde das Turnier zwanghaft aufgebläht und damit der Qualitätsstandard unweigerlich gesenkt, hieß es im Vorfeld. In Wahrheit bescherte der neue Modus der Euro eine überfällige Frischzellenkur sowie eine verblüffende Erkenntnis: Das Niveau ist eindeutig gestiegen. Nahezu alle Mannschaften boten taktisch grundsolide Leistungen – abgesehen vielleicht vom ÖFB-Team, das in drei Gruppenspielen gerade mal eine schlappe Halbzeit lang den Nachweis erbringen konnte, sich zu Recht qualifiziert zu haben. Vermeintliche Abschusskandidaten wie Wales, Irland, Ungarn oder Island mauerten sich nicht einfach nur geistlos in die K.o.-Runde, routinemäßige Titelaspiranten wie Italien und Deutschland rechtfertigten ihre Favoritenrolle durch flexible, agile Spielweise. England und Spanien schieden verdient aus, weil sie der Unerschrockenheit ihrer Gegner nichts entgegenzusetzen wussten, was die eigenen Übermachtansprüche glaubhaft untermauert hätte. Es folgte das Unabwendbare: ein Ende mit Schrecken.

„So grausam kann Fußball sein“, sagte der langjährige deutsche Teamstürmer Miroslav Klose in einem Interview. Im WM-Halbfinale am 8. Juli 2014 gegen Brasilien hatte er das 2:0 erzielt. Es folgten fünf weitere Tore der DFB-Auswahl (und, der Vollständigkeit halber, ein Ehrentreffer für die Gastgeber in der 90. Minute). Zwei Jahre zuvor waren die Deutschen im EM-Halbfinale von Mario Balotelli 2:0 abgeschossen worden; die Italiener wiederum hatten im Finale gegen Spanien nicht den Hauch einer Chance (0:4), wofür sie vergangene Woche im Achtelfinale der Euro 2016 mit 2:1 Revanche übten. So gerecht kann Fußball sein.

Diese EM ist ein steiniges Terrain für die viel gepriesenen Superstars.

Wer wird denn nun Europameister? Am Ende womöglich Cristiano Ronaldo! Im Falle eines portugiesischen Finaltriumphes würde er sicher keine Sekunde zögern, die Titelehren vor allem für sich selbst zu beanspruchen. Schließlich ist Ronaldo – jedenfalls laut eigener, also maßgeblicher Einschätzung – der begnadetste Fußballer aller Zeiten, dem Turniererfolge bisher jedoch hartnäckig verweigert blieben. (Bemerkenswerterweise hält er unbeirrt an seinem Markenkürzel CR7 fest, obwohl Ahnungslose den Eindruck gewinnen könnten, es gebe zumindest noch sechs andere Ronaldos.) In Wahrheit ist diese EM ein steiniges Terrain für die viel gepriesenen Superstars. Lionel Messi durfte gar nicht erst mitspielen, Zlatan Ibrahimovic, Robert Lewandowski, Wayne Rooney und David Alaba mussten bereits die Koffer packen, und die Deutschen waren viel zu lange mit der hysterischen Suche nach „Führungsspielern“ beschäftigt, um sich für das Schaulaufen der Schönen und Reichen zu qualifizieren.

Der aus der Popindustrie übernommene Starkult steht ohnehin in einem merkwürdigen Missverhältnis zu den jüngsten Tendenzen im Fußballsport, die bei der Euro 2016 überdeutlich zutage treten. Nominell schwächere Mannschaften sind taktisch mittlerweile so exzellent geschult, dass sie jeden gegnerischen Versuch eines Offensivspektakels im Keim ersticken können. Selbst nominell spielstarke Teams wie Portugal und Kroatien schalteten beim direkten Aufeinandertreffen in den mutmaßlich todsicheren Defensivmodus, wodurch das Match folgerichtig auch zu einer bedrückend komatösen Veranstaltung geriet. Wenn alles schiefläuft, werden die Portugiesen am Ende tatsächlich Europameister – mit genau jener Betonstrategie, an der sie ihrerseits im EM-Finale 2004 gegen Griechenland noch so herzzerreißend scheiterten.

Cristiano Ronaldo hätte dann zwar endlich seinen innig ersehnten Turniertitel, aber immer noch keinen Seelenfrieden. Denn an der heimatlichen Clubfront bahnt sich massives Ungemach an: Real Madrid denkt nicht daran, im Werben um Robert Lewandowski klein beizugeben, und bietet Bayern München dem Vernehmen nach eine Ablösesumme von 100 Millionen Euro für Super-„Lewy“, den polnischen Ausnahmestürmer. Das wären sechs Millionen mehr, als die Madrilenen 2009 für Ronaldo an Manchester United überwiesen. Vor drei Jahren wurde Gareth Bales Transfer an Real mit windigen Zahlentricks nachträglich auf 92 Millionen abgerundet, um das sensible Ego von CR7 zu schonen.

Sein sechsjähriger Sohn, der konsequenterweise den Namen Cristiano Ronaldo jr. trägt und wohl bald mit dem Markenkürzel CR8 Furore machen wird, saß während der Portugal-Spiele gegen Kroatien und Polen auf der Tribüne und konnte den Einschlafimpuls sichtlich kaum unterdrücken. So langweilig kann Fußball sein.

Sven   Gächter

Sven Gächter