„Die bisher größte Blamage bei diesem Turnier ist die Deutsche Bahn“ klagte deshalb auch der „Spiegel“ und warnte: „Liebe Freunde aus Europa, es ist nur ein Vorgeschmack. Die Katastrophe wird sich zum Finale steigern. Ihr kennt noch nicht die Oberleitungsstörungen, die belegten Gleise. Ihr wisst noch nichts von den unerklärten Verzögerungen im Betriebsablauf, der verspäteten Bereitstellung eines Zuges, von unseren Problemen im Stellwerk.“
Andererseits ist es, liebe Freunde, aber auch relativ egal, ob man diese Euro in einem Stadion verfolgt oder in einem Bahnhofsbuffet, solange nur Jude Bellingham am Platz steht, der dort ja auch nicht besonders ortsfest agiert, weshalb die Kommentatoren bei Servus-TV nach dem englischen Sieg gegen Kroatien gar nicht mehr aus und ein wussten, ob das 20-jährige Fußballgenie aus Stourbridge (für Wallfahrer: Das liegt zwischen Dudley und Kidderminster, gleich westlich von Birmingham) denn nun einen 10er spiele, einen 6er, einen 8er oder gar einen 9er. Einig war man sich: Die Freude am Jude-Bellingham-Schauen ist groß und eine zentrale Daseinsberechtigung dieses Turniers, das aber auch sonst schon sehr viele erfreuliche Tatsachen aufs Feld brachte und dabei stark von einer zeitgemäß datengetriebenen Taktik-Fokussiertheit geprägt war.
Die TV-Moderatoren halten ihr Publikum inzwischen minutiös über die aktuelle Fehlpassquote einzelner Spieler auf dem Laufenden, wenn es sein muss, auch in Koeffizienz zu deren Zweikampfquote in der vergangenen Rückrunde. Und nach dem Torschuss wird nicht nur die Geschwindigkeit des Balls eingeblendet, sondern auch seine Drehzahl pro Sekunde. Machen Sie mit dieser Information bitte, was Sie wollen.
Leider wurde von den Datenverarbeitern der UEFA nicht erhoben, wie schnell der Drehwurm war, den der französische Fußballgott Kylian Mbappé nach seinem Nasenkontakt mit der Schulter von Kevin Danso ausfasste. Die Sache ging jedenfalls nicht ganz glimpflich aus, Danso erklärte sich via Instagram dann auch „désolé“ über Mbappé – der sich zum Zeitpunkt seines Nasenbeinbruchs aber ohnehin schon längst als Held des Turniers etabliert hatte: mit einer für Fußball-Pressekonferenz-Verhältnisse unerhört unverdrucksten, sehr klaren Ansage zum Thema radikaler Rechtsruck in Frankreich.
Andererseits: Fußball ist halt ein Kontaktsport und auch weltanschaulich tendenziell urig, was vielleicht die aggressiv fröhliche Dudeness der Servus-Experten Jan Åge Fjørtoft und Steffen Freund erklärt, die sich im Trio mit Moderator Christian Baier gerne in eine Art Erklär-Rage reden, bei der man Herbert Prohaska nur mehr ganz leise „Gute Nacht“ sagen hört. Der langjährige ORF-Analytiker stammt seinerseits ja aus der vortaktischen Ära des Fußballsports, in der „Abschlüsse“ noch „Torschüsse“ hießen und die 6er nur abkippten, wenn sie am Vortag zu lang in der Disco waren. Unerschütterlich sitzt Prohaska also im ORF-Studio, auf einer Couchlandschaft, die dem Sitzmöbel-Laien völlig ungeeignet erscheint, um darauf zu sitzen, geschweige denn zu analysieren, vor allem nicht ab einem gewissen Alter.
Womit wir schon bei der portugiesischen Mannschaft wären, die sich dem Jugendwahn konsequent widersetzt und langjährige Fachkräfte wie Cristiano Ronaldo oder Pepe beschäftigt. Ja, ganz im Ernst: Pepe! Kick it like it’s 2008.
Die Fans im Stadion werden dafür ganz zeitgemäß im tiefenscharfen Porträt-Modus abgefilmt, was sehr schön und vertraut nach iPhone aussieht, aber auch einen seltsamen politischen Beigeschmack hat: Der oder die Einzelne bleibt in diesen Bildern nämlich ganz offensichtlich immer genau das: einzeln. Die Fans dürfen bei diesem Turnier nicht in der Masse aufgehen, sondern müssen – zumindest in der TV-Übertragung – immer Individuum bleiben. Das kann man gut finden (weil Massenbewegungen ja schon auch gefährlich sein können, gerade im Fußballstadion), aber auch schlecht (weil eine Gesellschaft halt mehr ist als eine Versammlung von Einzelwesen).
Die UEFA beharrt natürlich, wie üblich, auf der Politikferne des Turniers, sendet verwirrenderweise aber alle möglichen politischen Signale, zum Beispiel auch in der Retro-Konsolenspiel-Optik der offiziellen TV-Signation (sprich: Früher war alles besser) oder in dem schönen Regenbogenlogo, das laut Verband „eine Referenz an das Dach des Berliner Olympiastadions“ sein soll, aber natürlich vor allem ein Regenbogenlogo ist (sprich: Einiges ist heute halt doch besser).
In den Werbeunterbrechungen ist die neue Vielfalt allerdings noch nicht ganz angekommen, da gibt es zwar schon Clips, die auf der Höhe der Zeit sind (etwa der „Nivea for Men“-Schiri, der die gut eingecremten Jungs in der Mauer anschmachtet), aber unmittelbar daneben halt schon auch noch die oldschool-chauvinistische „Tipico“-Gröltruppe sowie die marketingtechnisch leider auch eher altmodische österreichische Nationalelf. Die dänische Mannschaft spielte derweil den Steilpass über den Gender Pay Gap hinweg: Das Herrennationalteam setzte in den Verhandlungen mit dem eigenen Verband durch, dass das dänische Frauen-Nationalteam in Zukunft gleich entlohnt wird wie die Herren.
Das letzte Wort gehört natürlich trotzdem Manuel Neuer, der im noch nicht vollständig renaturierten deutschen EM-Quartier in Herzogenaurach gegenüber der ARD-Moderatorin Lea Wagner die aktuelle Stimmungslage konkurrenzlos treffsicher analysierte: „Ich denke, die Euphorie ist gepusht.“