Erziehung

Erziehungsexperte Oskar Jenni: „Kinder müssen auch einmal hinfallen können.“

Der Schweizer Kinderarzt Oskar Jenni über Helikopter-Eltern, die Gefahren frühzeitiger Pathologisierung und die Kraft der elterlichen Intuition.

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Sie sind Spezialist für die kindliche Entwicklung. Die Frage, die sich viele Eltern stellen: Ist mein Kind normal, oder braucht es Hilfe?

Jenni

Man sollte sich davon verabschieden, auf die Meilensteine in der Entwicklung seines Kindes zu schauen. Denn die Variabilität zwischen Kindern ist in allen Entwicklungsbereichen viel größer, als man erwartet. Wenn sich Eltern aber Sorgen machen, dann hilft erst mal die Unterstützung von Kinderärztinnen und Kinderärzten, die dafür geschult sind, die kindliche Entwicklung zu beurteilen.

Das heißt, in die Praxis übersetzt: Wenn mein Kind mit neun Monaten noch nicht sitzen kann, muss ich nicht die Nerven verlieren?

Jenni

Die Voraussagekraft von Meilensteinen – wie zum Beispiel das Sitzen, Krabbeln oder Laufen – für die langfristige Entwicklung ist tatsächlich gering. Die meisten Eltern haben ein Gefühl dafür, wann Handlungsbedarf angesagt ist.

Jetzt leben wir dennoch in einem pädagogischen Zeitalter der Überbehütung. Helikopter-Eltern sind ein Alltagsterminus geworden.

Jenni

Es gibt dazu nur wenige Studien. Meiner Erfahrung nach ist dieser Elterntypus aber eher selten. Es ist wichtig, dies nicht zu überdramatisieren. Natürlich müssen Kinder gelegentlich hinfallen können, um zu erfahren, wie sie wieder aufstehen. Sie müssen im Lauf der Zeit auch lernen, mit negativen Gefühlen umzugehen. Denn spätestens im Kindergarten und in der Schule werden sie mit herausfordernden Momenten und Misserfolgen konfrontiert. Es ist dann entscheidend, dass Eltern ihre Kinder in solchen Situationen nicht allein lassen und sie unterstützend begleiten.

Wie viel Frustrationstoleranz kann man zum Beispiel einem schreienden Baby zumuten, das nicht einschlafen will?

Jenni

In den ersten Lebensmonaten kann das Kind seine Gefühle noch nicht selbst regulieren. Diese Fähigkeit entwickelt es erst mit der Zeit. Es ist in dieser Phase also nicht sinnvoll, ein Baby einfach schreien zu lassen. Man muss das Kind schrittweise daran heranführen, dass es sich selbst beruhigen lernt, zum Beispiel mit einem Kuscheltier, einem Schnuller, einer Nachtlampe, einem Wiegenlied oder einem anderen Schlafritual. Es ist aber auch nicht hilfreich, bei jedem kleinen Mucks sofort zu reagieren.

Angststörungen und Depressionen steigen, so die Statistik, bei Kindern und Jugendlichen erheblich an. Sind das die Auswirkungen der Pandemie?

Jenni

Man darf nicht primär die Pandemie dafür verantwortlich machen. Sie hat das Feuer höchstens beschleunigt. Wir beobachten seit 15 Jahren einen Anstieg von Verhaltensproblemen, Angststörungen, Depressionen und auch von Entwicklungsstörungen. Die Ursachen dafür sind komplex. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Gesellschaft inzwischen genauer hinschaut. Bezugs- und Fachpersonen sind aufmerksamer geworden, wenn es Kindern nicht gut geht. Früher haben die Kinder im Stillen gelitten, und belastete Kinder wurden von der Gesellschaft nicht beachtet. Suizide waren daher häufiger als heute. Heutzutage sehen wir mehr Suizidversuche, die oft als Hilfeschreie zu verstehen sind. Um diese aufzufangen, müssen wir die Versorgungssysteme entsprechend ausbauen.

Inwieweit sehen Sie Smartphones und soziale Medien als Faktor?

Jenni

Die Digitalisierung als monokausale Erklärung ist nicht ausreichend. Wir leben in einer komplexen Welt mit vielen verschiedenen Einflüssen, die für gewisse Kinder und Jugendliche tatsächlich überfordernd sein können.

Gleichzeitig ist auch das Phänomen einer gewissen Überdiagnostizierung zu beobachten. Manchmal wird einem Kind, das nicht lange still sitzen kann, gleich die Diagnose ADHS übergestülpt.

Jenni

Eine Diagnose kann entlastend wirken. Und ein solches Kind erhält dann Unterstützung und einen Nachteilsausgleich. Aber eine Etikettierung mit einer Diagnose kann auch zu Diskriminierung und Stigmatisierung führen. Da gilt es, dass man sehr umsichtig bei jedem Kind die Risiken und Vorteile einer Diagnose abwägt.

Es ist in den Erziehungsdebatten auch immer wieder von Überförderung die Rede; die Kinder werden nach der Schule vom Ballett zur Cellostunde chauffiert und haben kaum mehr aktionsfreien Raum. Wie dosiert man da richtig?

Jenni

Zeit für freies Spiel ist für die gesunde Entwicklung von Kindern sehr wichtig. Im freien Spiel können die Kinder noch Kinder sein. Die Kindheit ist also nicht nur eine Vorbereitungsphase auf das Erwachsenenleben, sondern auch ein eigenständiger Zustand. Jedes Kind hat das Recht, den Augenblick zu genießen, benötigt aber auch Unterstützung, um später ein selbstständiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Eine Balance zwischen diesen beiden Perspektiven der Kindheit ist notwendig. Als Elternteil sollte man sich auch die Frage stellen Projiziere ich meine eigenen Wünsche und Vorstellungen in mein Kind, anstatt auf dessen Bedürfnisse einzugehen? Man merkt sehr schnell, ob ein Kind für bestimmte Freizeitaktivitäten wirklich Leidenschaft und Freude empfindet.

Das Wort Fremdbetreuung geistert noch immer durch die Erziehungsdebatten, in der deutschen Sprache existiert das Wort Rabenmutter. Andererseits gibt es auch das afrikanische Sprichwort: Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Jenni

Ich bin überzeugt davon, dass gute Beziehungen in der Kindheit der Schlüssel für ein glückliches und gesundes Leben im Erwachsenenalter sind. Ich will den Faktor Bildung nicht kleinreden, aber bedeutender sind für ein Kind jene Menschen in seinem nahen Umfeld, die verlässlich, vertraut, verfügbar, verständnisvoll und voller Liebe sind. Und für diese fünf sind nicht nur die Eltern verantwortlich. In jedem Umfeld, in dem das Kind betreut wird, sind sie von entscheidender Bedeutung.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort