"Es gibt keine Höllendrohungen mehr"
INTERVIEW: SEBASTIAN HOFER
profil: Das Regierungsprogramm sieht einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schüler vor, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen. Das Vorhaben existiert seit zwanzig Jahren. Warum soll es jetzt klappen? Bucher: Den Schulversuch Ethikunterricht gibt es seit 1997 an mittlerweile 230 Schulstandorten. Die strittige Frage war immer die, ob Ethikunterricht für alle Schülerinnen verpflichtend sein soll, also zusätzlich zum konfessionellen Religionsunterricht. Aus philosophischen Gründen würde ich das befürworten. Realpolitisch sieht es anders aus. Ich wäre schon sehr erleichtert, wenn der Schulversuch endlich ins Regelschulwesen überführt würde. Das Angemessenste wäre, die Schüler aus zwei alternativen Pflichtgegenständen wählen zu lassen. Ich habe das im Jahr 2001 am Ende meiner Evaluation des Ethikunterrichts für das Bildungsministerium vorgeschlagen. Das hat mir von kirchlicher Seite gewaltige Schwierigkeiten eingebracht.
profil: Sind sich die Konfessionen in ihrer Ablehnung des Ethikunterrichts einig? Bucher: Aktuell sind alle Religionsgemeinschaften für einen Ethikunterricht als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht. Der heißt zwar immer noch so, ist aber de facto längst nicht mehr so strikt katholisch oder evangelisch, wie sich das manche Bischöfe vielleicht wünschen würden. Da hat sich also viel getan: 2001 hat mein Vorschlag, zwei alternative Pflichtfächer einzuführen, noch zu heftigem Widerstand geführt, bis hin zur Drohung, mir die Lehrbefugnis zu entziehen.
profil: Sie haben sich immer wieder kritisch gegenüber dem rein konfessionellen Religionsunterricht geäußert. Was sind Ihre Vorbehalte? Bucher: Religionsunterricht hat sich verändert. Er ist kein Katechismusunterricht mehr und nur noch in ganz vereinzelten Fällen manchmal ein bisschen indoktrinär. Der Religionsunterricht hat eine sehr hohe Qualität bekommen. Dazu mag beigetragen haben, dass an den theologischen Fakultäten die praktischen und humanwissenschaftlichen Studienanteile intensiviert wurden.
Religionsunterricht vor allem in den höheren Klassen ist heute eher religionskundlicher Unterricht.
profil: Wann hat sich diese Verbesserung ereignet? Bucher: Das hat schon vor Jahrzehnten begonnen. Man hat gesehen, dass Religionsunterricht ein sehr unbeliebter Gegenstand war. Sogar Mathematik wurde in einer Studie Anfang der 1970er Jahre als „erfreulicher“ eingeschätzt als Religion. Das gibt doch zu denken. Die Ausbildung wurde verändert, kreative Methoden unterrichtet, es gibt keine Höllendrohungen mehr wie in den älteren Religionsbüchern. Das war eine kontinuierliche Entwicklung, die dazu geführt hat, dass der Religionsunterricht offen, lebenskundlich und erfahrungsorientiert wurde. Religionsunterricht vor allem in den höheren Klassen ist heute eher religionskundlicher Unterricht. Der faktische Religionsunterricht und die legistischen Umstände, etwa das Bundesgesetz zum Religionsunterricht, stimmen nicht mehr überein.
profil: Wobei die Lehrpläne prinzipiell einen sehr konservativen, aber auch einen sehr modernen Unterricht möglich machen. Bucher: Ich war in zwei Lehrplankommissionen. Lehrpläne sind in der Regel immer Kompromissdokumente. Aber im Großen und Ganzen sind sie wenig indoktrinär und lassen sehr viel Gestaltungsmöglichkeiten zu. Die Angst der Lehrenden, dem Lehrplan nicht zu entsprechen, hält sich unseren Studien zufolge übrigens sehr in Grenzen.
profil: Wenn heute über Religion in der Schule gesprochen wird, wird meistens über den Islam und den muslimischen Religionsunterricht gesprochen, meistens kritisch. Zu Recht? Bucher: Ich habe dazu keine eigenen empirischen Erkenntnisse. Aber eine Wiener Studie aus dem Jahr 2009 hat gezeigt, dass eine nicht unbeträchtliche Quote muslimischer Religionslehrer Mühe hatte, westeuropäische Standards von Demokratie anzuerkennen. Wenn das so ist, muss doch gesagt werden: Man kann nicht von westeuropäischen Standards profitieren und dann nicht mit Herz und Seele für diese Standards eintreten. Aber es gibt in dieser Hinsicht doch sehr konstruktive Bestrebungen vonseiten der islamischen Glaubensgemeinschaft.
profil: Sie haben ein Konzept für ein Schulfach „Ethik und Religionen“ vorgestellt – als überkonfessionelle Synthese von Ethik- und Religionsunterricht. Bucher: Die Erfahrungen aus der Schweiz mit einem sehr ähnlichen Konzept haben gezeigt, dass ein gemeinsamer Religionsunterricht bewirken kann, dass die Schüler ihre eigene religiöse Identität und Herkunft im Spiegel des anderen besser zu erkennen vermögen. Das geht in der Regel mit mehr Toleranz und mehr Empathie einher. Faktischer Religionsunterricht wird heute, wenn wir ehrlich sind, längst in diesem Sinne praktiziert. Als Religionspädagogen sind wir angehalten, neue Modelle zumindest anzudenken. Sonst verteidigt man bestehende Pfründe, bis man vom Zug der Zeit abgehängt wird.