Esperanto: Was wurde aus der völkerverbindenden Kunstsprache?
Wie finden Menschen in einer Welt, in der babylonische Sprachverwirrung herrscht, zueinander? Es gibt weltweit 7000 natürliche Sprachen plus zahllose Dialekte. Dazu kommen rund 1000 Kunstsprachen: 3000 Vokabeln umfasst etwa das Barbaren-Kauderwelsch aus der TV-Serie "Game of Thrones"; 4000 das Knurren der Klingonen aus "Star Trek", 2500 elbische Wörter finden sich in J. R. R. Tolkiens "Herr der Ringe"-Epos.
Esperanto, vor 130 Jahren von dem polnischen Augenarzt Ludwig Zamenhof entwickelt, ist bis heute das ambitionierteste Experiment, Ordnung in die globale Konfusion zu bringen. Zwei Millionen Menschen in 130 Ländern sollen aktuell Esperanto, diesen Mix aus germanischen, omanischen und slawischen Sprachen mit überschaubarem Regelwerk und seltenen Ausnahmen, regelmäßig sprechen. Genau weiß das niemand.
Große Geschichte, wenig Gegenwart
Esperanto heißt übersetzt "ein Hoffender". Die Sprache hat viel mit Demokratie, Träumen und Wünschen zu tun. Träumen wie jenen von Martha und Karl in dem jüngst erschienenen Roman "Turmstraße 4" von Hans Weinhengst (1904-1945), der vom Leben und Sterben im Wien der 1930er-Jahre erzählt, einem Dasein voller Armut, Gewalt, Stumpfsinn, Hass und Kriegsfolgen. Wuchtige Literatur. "Turmstraße 4" erschien erstmals 1934 in Esperanto. Der Journalist und Autor Weinhengst war Wiener Esperantist der ersten Stunde; in den letzten Kriegstagen ging er in Berlin verschollen. In einer Notiz vermerkte Weinhengst: "Ich schreibe nicht einfach, um zu schreiben, sondern um mit meinen bescheidenen Möglichkeiten aufzurütteln, die Welt vernünftiger und gerechter zu machen." Der Roman ist eine Art Reiseführer in eine Sprache mit großer Geschichte und geringer gegenwärtiger Bedeutung.
Das Zamenhof-Denkmal am Wiener Karlsplatz. Leopold Patek, 80, darf man als Veteranen bezeichnen. Seit 50 Jahren ist der ehemalige Eisenbahner mit dem freundlichen Opa-Gesicht Esperantist. Patek trägt auch an diesem sonnigen Wintertag die Anstecknadel mit dem grünen Stern, das internationale Esperanto-Symbol. Die Kunstsprache setzte in seinem Leben die Zäsuren: 1982 der Konvent in Antwerpen; 1997 der Kongress in Australien; heuer das Treffen in Seoul, kommendes Jahr die Zusammenkunft in Lissabon. Wer in Pateks E-Mail-Verteiler ist, bekommt den täglichen Newsletter mit Berichten aus der weiten Esperanto-Welt. In sehr großen Lettern verschickt er die Jubelmeldung, dass der Historiker David Van Reybrouck sein neues Buch "Zink" indirekt Esperanto gewidmet hat. Das chemische Element wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in großer Menge aus der Erde von Neutral-Moresnet gebrochen, jenem kuriosen Mikrostaat zwischen den heutigen Niederlanden, Belgien und Deutschland, der beinahe zu Esperanto-Land geworden wäre. Esperanto blieb jedoch eine Sprache ohne Staat.
Man muss viel Zeit mitbringen, um Patek bei seinem Gang durch das Esperanto-Jahrhundert zu folgen. Zamenhof erfand 1887 die Plansprache und nannte sie nach seinem Pseudonym Doktoro Esperanto: Doktor Hoffender. In Altösterreich verbreitete sich die Idee schnell, die Behörden standen dem neuen Idiom jedoch verständnislos gegenüber. 1902 wurden 13 Jugendliche unter dem Verdacht verhaftet, in Geheimsprache zu reden. Francisco Valdomiro Lorenz war ein früher Esperanto-Guru, der Lehrbücher schrieb und Kurse abhielt; 1893 flüchtete er vor politischer Verfolgung nach Brasilien ins Exil. 1905 fand der erste Esperanto-Weltkongress im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer statt; 1907 telegrafierte der Schriftsteller und spätere Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried den Teilnehmern des Esperanto-Welttreffens in Cambridge von den zeitgleich stattfindenden Haagener Abrüstungsgesprächen "Grüße an die wahre Friedenskonferenz". 1908 waren die Tagungsbesucher im Dresdner Opernhaus von Goethes "Iphigenie" auf Esperanto entzückt. Karl Kraus erwähnte das Dresdener Esperanto -Treffen später in "Die letzten Tage der Menschheit". Beim Weltsymposium 1912 in Krakau patrouillierten Polizisten mit "Spricht Esperanto"-Täfelchen am Revers. "Esperanto war als Friedensprojekt gedacht", sagt Patek: "Die Sprache sollte helfen, Grenzen zu überwinden. Warum werden heute wohl mehr denn je davon errichtet?" Völker, verständigt euch? Die alten Fragen sind die neuen.
Waldheim lehnte Esperanto als UN-Sprache ab
Den vorläufigen Schlusspunkt unter die Bemühungen, Esperanto als Universalsprache zu etablieren, setzte Kurt Waldheim. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen schmetterte 1978 den Vorschlag ab, Esperanto zur alleinigen UN-Sprache zu machen. "China, das Esperanto traditionell fördert, legte deshalb sein Veto gegen eine dritte Amtszeit Waldheims ein", erzählt Leopold Patek, das Wiener Esperanto-Archiv auf zwei Beinen. Auf das Zamenhof-Denkmal am Karlsplatz hat jemand das Anarchisten-A geschmiert. Patek schaut, als wolle er gleich zu weinen beginnen.
Weiter in die Nationalbibliothek, Unterabteilung Esperanto-Museum, 1929 gegründet, ein Ort liebevoll gepflegter Exotik, in dem an den Esperantisten Tolstoi und an das originäre Esperanto-Wort "Iglo" ("Schneehütte") erinnert wird; die Limonadendose "Mirinda" (Esperanto für "wunderbar") ist eines der Schaustücke hinter Glas. Christian Cimpa, seit 27 Jahren Mitarbeiter in der Nationalbibliothek, hat "Turmgasse 4" ins Deutsche übertragen. Cimpa, ganz in Schwarz, sagt: "1914 stürmten alle zu den Waffen und verteidigten ihre Vaterländer. Die völkerverbindende Sprachidee wurde durch Nationalismus vergiftet." Er spricht "Nationalismus" aus, als habe er Zahnweh.
Nach dem Krieg entdeckte die Arbeiterbewegung die Sprache als politisches Kampfmittel gegen Massenarmut und Verwahrlosung. "Turmgasse 4" übersetzte diese Gegenwehr in Literatur. Der spätere Bundespräsident Franz Jonas redigierte die Esperanto-Zeitschrift "La Sozialisto", an den Schulen wurde die Sprache als Wahlfach angeboten, die Eisenbahn schüttete Fremdsprachenzulagen aus. Viele lernten das "Eisenbahner-Englisch". Hitler verdammte Esperanto in "Mein Kampf"; während der NS-Herrschaft war die Sprache verboten. "Esperanto ist noch immer die einzige Welthilfssprache mit vielfältiger Kultur, Musik, Literatur, ein Abbild des Lebens im Kleinen", übt sich Cimpa in Optimismus. "Der Wetterbericht in Esperanto ist allerdings entsetzlich langweilig, weil die Sprache zu Wortwiederholungen neigt." Kann man auf Esperanto, dem der Ruf des Technischen anhaftet, über Liebe reden? Cimpa zitiert als Antwort aus "Turmgasse 4" jene Passage, in der Martha und Karl "gegenseitig dem Pochen ihrer Herzen" lauschen.
Zwischenstopp bei Kurt Lhotzky in seinem "Literaturbuffet", einer Buchhandlung mit Gastronomie in der Wiener Leopoldstadt. Der Mittsechziger, obligatorische Hosenträger und Brieftaschenkette, hat die späte Publikation von "Turmgasse 4" mitinitiiert, er ist so etwas wie das politische Sprachrohr der kleinen Wiener Esperanto-Gemeinde. "Klassenkampf", "Engagement", "Arbeiterbewegung","Revolution" oder "Heimwehr" kommen oft vor, wenn er über seine Leidenschaft spricht, die weit mehr als ein Hobby ist. "Esperanto war nie nur Friede-Wonne-Sprache, sondern sollte Menschen zum Mittun anregen. Esperanto hatte stets eine vitale politische Komponente." Für Lhotzky geht der Kampf weiter.
Esperantist Fischer
Bei Heinz Fischer hat mit Esperanto alles angefangen. Die Eltern des ehemaligen Bundespräsidenten, beide Jahrgang 1908, lernten einander in einem Esperanto-Kurs kennen, den Fischers Vater leitete; bald beherrschte auch die Mutter das Idiom fließend. In der Vorweihnachtszeit wurde die erfundene Sprache bei Fischers über Kommunikation hinaus in den Rang eines Geheimnisses gehoben: Geschenkbesprechungen fanden in Esperanto statt. In der Zeit des Nationalsozialismus bekam die Rede in Esperanto etwas Existenzielles. "Ich kam 1944, im letzten Kriegsjahr, in die Volksschule", erinnert sich Fischer. "Meine Eltern waren es gewohnt, nicht sehr freundlich über Hitler und die Nazis zu sprechen. Auch um zu verhindern, dass ich in der Schule laut ausplaudere, dass Papa den Krieg für Wahnsinn halte , haben sie untereinander am Familientisch Esperanto gesprochen." Jene Sprache also, welche die Nazis nicht nur hassten, weil sie von einem polnischen Juden erfunden worden war, sondern auch deshalb, weil den braunen Machthabern jeder Gedanke an Internationalität und Solidarität in ihrem abgestumpften Nationalismus fremd war.
Fischer, 79, organisiert in einem unter das Dach der Wiener Hofburg gezwängten Büro die für 2018 anstehenden Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Republik. Auf dem Schreibtisch ein rot-weiß-roter Wimpel, daneben eine Broschüre mit vergilbten Blättern. In der historischen Werbeschrift "Sozialismus und Esperanto" taucht der Name von Fischers Vaters prominent auf. "Nach dem Krieg besprachen sich die Eltern vor dem Chauffeur des Dienstwagens bisweilen in Esperanto, in unserer Wohnung waren oft Franzosen, Portugiesen oder Polen um den Tisch zum Gedankenaustausch versammelt. Mein Vater war überzeugt davon, dass die Möglichkeit, sich über Ländergrenzen hinweg verständigen zu können, ein wichtiger Beitrag zu friedlichen Konfliktlösung ist."
Der französische Arbeiter, so der Traum der Esperantisten jener Tage, lässt sich nicht gegen den deutschen Arbeiter aufhussen. Das Gemeinsame soll über dem Trennenden stehen; miteinander reden statt streiten. Viel ist davon nicht übrig geblieben. Fischer erinnert sich an eine vom Vater gern erzählte Anekdote. "In den 1920er-Jahren ließen es sich die Esperantisten nicht nehmen, bei den Mai-Aufmärschen dabei zu sein. Die Sozialisten riefen ,Freundschaft!', die Esperantisten ,Amikeco!' Als Echo erwiderten die Passanten:,Amol geht's noch!'"
Dazu wurden die roten Fahnen der sozialistischen und die grünen Banner der E-Bewegung geschwenkt. Für den Esperanto-Staat Neutral-Moresnet war der Name "Amikejo" im Gespräch: Ort der Freundschaft.