Essfehler: Von der Schwierigkeit, sich gesund zu ernähren
Von Sebastian Hofer
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Es ist wieder diese Zeit im Jahr, sie hat viele Namen, man kennt sie als Dry January oder neuerdings auch Veganuary, als Ab-sofort-nur-noch-Gesund und Aber-diesmal-Wirklich. Sie basiert auf guten Vorsätzen, wohlmeinenden Titelgeschichten und Diätvorschlägen aus dem Influencernet. Sie kennt auch viele Hindernisse, zu denen der innere Schweinehund und die klassische Fehleinschätzung gehören, vor allem aber die grundsätzliche Ungewissheit in Gesundheitsfragen: Wie viele Schritte braucht der Mensch am Tag? Ist kein Alkohol auch eine Lösung? Und, die Frage aller Fragen: Wie ernährt man sich am gesündesten?
Tatsächlich handelt es sich um eine äußerst berechtigte Frage, denn kaum eine Entscheidung hat einen so großen Einfluss auf unsere Lebenserwartung wie unsere Ernährungsgewohnheiten. Zusammen mit mangelnder Bewegung ist ungesunde Ernährung in den Industriestaaten eine der maßgeblichen Ursachen für Krankheiten und Todesfälle. Mehr als ein Drittel aller Todesfälle resultiert aus Herz-Kreislauf-Erkrankungen, von denen wiederum ein erheblicher Anteil lebensstilbedingt ist. Bis zu 80 Prozent aller Erkrankungen werden durch Ernährungsgewohnheiten ausgelöst oder befördert. Du bist, was du isst – und bringst dich damit bisweilen auch ins Grab.
Kann Spuren von Ideologie enthalten
Nun ist die Vielfalt und Reichhaltigkeit unseres Speiseplans – in historischen Maßstäben – recht neu, die detaillierte Beschäftigung mit Nährwerten, Zuckersorten und Proteinvarianten in Europa erst seit zwei, höchstens drei Generationen akut. Damit verändert sich aber auch die Bedeutung von „gesunder Ernährung“, und zwar zum Größeren: Körperliche Gesundheit ist nicht mehr selbstverständlich, gottgegeben oder natürlich veranlagt, sondern eines jeden Einzelnen Aufgabe, Erfolg oder – deutlich öfter – Schuld.
Die Sache wird aber sogar noch größer. Denn das Leben geht durch den Magen und fährt von dort bis ins Gehirn: Essen ist eine höchstpersönliche und selbstwertbestimmende Angelegenheit, bei der es nicht nur ums körperliche Wohlbefinden, um Wohlfühlgewichte oder Kummerspeck geht, sondern um eine fast schon metaphysische Entscheidung. Der Sitz der Seele befindet sich möglicherweise im Darm: Ich esse, also bin ich. Ernährungsgewohnheiten verinnerlichen Werte und verdeutlichen sie nach außen.
Weltreligionen kennen diesen Trick schon lange und haben sich jeweils eigene, bisweilen hochkomplexe Ernährungsver- und -gebote ausgedacht, deren säkulare Version in Ernährungsblogs und Ratgebern stattfindet: Low Carb, Intervallfasten, Keto – wähle deine Religion! Essen ist identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend und auch deshalb so wahnsinnig kompliziert.
Die detaillierte Beschäftigung mit Nährwerten, Zuckersorten und Proteinvarianten ist in Europa erst seit zwei, höchstens drei Generationen akut. Damit verändert sich aber auch die Bedeutung von „gesunder Ernährung“, und zwar zum Größeren: Körperliche Gesundheit ist nicht mehr selbstverständlich, gottgegeben oder natürlich veranlagt, sondern eines jeden Einzelnen Aufgabe, Erfolg oder – deutlich öfter – Schuld.
Die Qual der Wahl
Individuelle Ernährungsstile mit eindeutigen Vorschriften können dabei für Orientierung sorgen. Gabriela Freitag-Ziegler vom deutschen Bundeszentrum für Ernährung beschreibt ein sehr zeitgenössisches Phänomen: „Ernährungsstile mit klar definierten Dos and Don’ts erleichtern Verbrauchenden die Qual der Wahl in der unüberschaubaren Lebensmittelvielfalt. Und so lassen sich die widersprüchlichen Aussagen der Wissenschaft und Medien besser ertragen.“
Daran wiederum mangelt es leider nicht, denn von der Spitze der Ernährungspyramide abwärts wird mit wechselnden Ergebnissen über Diätvorschläge, Ernährungstipps und Ess-Regeln gestritten. Die Grundlagen dazu liefert die Ernährungswissenschaft, und sie ist dabei nicht immer eine ganz feste Basis, denn ihre Empfehlungen ändern sich über die Jahre teils drastisch. Berühmtestes Beispiel: das jahrzehntelange Hin und Her im Fall Butter versus Margarine, das kürzlich beerbt wurde von der Frage, ob das tägliche Glas Rotwein möglicherweise doch nicht so förderlich ist wie vermutet.
„Man darf nicht vergessen, dass die Ernährungswissenschaft eine relativ junge Wissenschaft ist“, sagt Marlies Gruber, Geschäftsführerin des österreichischen „Forum Ernährung Heute“: „Zusätzlich hat sich ihr Anspruch von der reinen Beschreibung der Ernährungsphysiologie hin zur Prävention und Gesundheitsförderung verändert. Dabei können sich mit der Zeit einzelne Ergebnisse ändern, wie es aber etwa auch in der Medizin der Fall ist.“
Gute wissenschaftliche Praxis bedeutet, veränderte Datenlagen zu respektieren und Ergebnisse entsprechend anzupassen. Es ist der Diätologie nicht anzulasten, dass sie schwankt. Ihre Grundlagenforschung steht aber vor dem pragmatischen Problem, dass randomisierte Studien mit klar definierten Test- und Kontrollgruppen in Ernährungsfragen kaum sinnvoll durchführbar sind: Niemand kann eine ausreichend große Probandengruppe ausreichend langfristig auf eine bestimmte Diät setzen. Das wäre nicht nur praktisch, sondern auch ethisch fragwürdig, immerhin geht es um möglicherweise gesundheitsschädliche Nahrungsmittelbestandteile.
Die Empfehlungen der Ernährungswissenschaft ändern sich über die Jahre teils drastisch. Berühmtestes Beispiel: das jahrzehntelange Hin und Her im Fall Butter versus Margarine, das kürzlich beerbt wurde von der Frage, ob das tägliche Glas Rotwein möglicherweise doch nicht so förderlich ist wie vermutet.
Ursache oder Wirkung?
Im Wesentlichen beruhen ernährungswissenschaftliche Ergebnisse deshalb auf Beobachtungsstudien. Dabei wird eine möglichst große Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt nach ihren Ernährungsgewohnheiten (und anderen gesundheitsrelevanten Faktoren wie Bewegung, Tabakkonsum, Hormonstatus) befragt und nach einer gewissen Zeit – meist mehreren Jahren – auf ihre gesundheitliche Entwicklung hin untersucht. Daraus können sich interessante Zusammenhänge ergeben; aber über Ursächlichkeiten, insbesondere von einzelnen Details im täglichen Speiseplan, lassen sich kaum eindeutige Effekte ablesen.
„Ich kann in solchen Studien nur Korrelationen erkennen, keine Kausalitäten“, erklärt die Ernährungswissenschafterin Marlies Gruber: „Genau das wird aber in der Kommunikation leider immer noch sehr häufig verwechselt – so wie auch der Unterschied zwischen relativem und absolutem Risiko.“
Am Beispiel des Hühnereis: Die österreichische Ernährungspyramide sagt: Drei Stück pro Woche sind okay. Die tief verinnerlichte 1980er-Jahre-Erziehung hält dagegen: Achtung, Cholesterinbombe! Eine Studie aus dem Jahr 2013 wiederum zeigte bei fast einer halben Million Probanden kein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen beim Konsum von bis zu einem Ei pro Tag. Eine weitere Studie vom März 2019 hingegen, mit immerhin fast 30.000 Teilnehmern, kam zu dem Ergebnis, dass jedes halbe Ei zusätzlich pro Tag die Sterblichkeit um bis zu acht Prozent erhöhen könnte. Bleibt die Frage: Was haben die Leute zu dem halben Ei noch gegessen? In Beobachtungsstudien müssen solche Variablen durch statistische Gewichtung eingerechnet werden, hier eröffnet sich einiger Spielraum für Irrtum, Täuschung oder schlichtes Im-Dunklen-Tappen.
Die Datengrundlagen für Ernährungsempfehlungen sind also von Natur aus instabil. Das wiederum macht nachSicherheit suchende Konsumenten empfänglich für mehr oder weniger irreführende Marketingbotschaften. Und die kommen im Nahrungsmittelbereich wesentlich häufiger vor als ungesättigte Fettsäuren in einer Portion Dosenmakrele (ca. 11 g/100 g).
Leider sagt der Nutriscore nichts über den Grad der Verarbeitung oder den Gehalt an synthetischen Produkten aus, dieser lässt sich nur mit einem Blick aufs Kleingedruckte erkennen. Aber wer weiß schon, wie viel Protein pro Joghurtbecher sinnvoll ist und welche Art von Kohlenhydrat wirklich in einen Müsliriegel gehört?
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Vor allem im Bereich der hochverarbeiteten Lebensmittel (in der Regel Industrieprodukte mit einer beträchtlichen Anzahl von synthetischen Inhaltsstoffen wie hydrierten Ölen, Glucose-Fructose-Sirupen, Proteinisolaten und dergleichen) beruht der ökonomische Erfolg oft auch auf Schönfärberei. Der Hamburger Internist und Gründer des Ernährungszentrums Medicum, Matthias Riedl, spricht in diesem Zusammenhang von „Chemiebomben, die mit Lebensmitteln nicht mehr viel zu tun haben“. Er geht davon aus, dass Fertigprodukte insgesamt etwa die Hälfte des Kalorienbedarfs in Westeuropa abdecken, „und das ist erschreckend“ – weil diese Produkte sehr oft auf einer aromatisch verführerischen und für die Hersteller angenehm billigen Kombination aus Fett, Salz und Zucker basieren. Riedl fordert deshalb unter anderem „eine ganz klare Kennzeichnung, wie viel Zucker in einem Produkt steckt. Groß und unübersehbar auf der Verpackung.“
Tatsächlich existiert eine derartige Kennzeichnung bereits. Sie heißt Nutriscore, wurde 2017 von der französischen Gesundheitsbehörde entwickelt und seither in mehreren EU-Staaten (auf freiwilliger Basis) eingeführt. Es handelt sich um eine sogenannte Front-of-Pack-Bezeichnung, weil die wichtigste Information eben nicht im Kleingedruckten steht, sondern in Signalfarben vorn auf der Verpackung: von Dunkelgrün (sprich: sehr gesund) bis Dunkelrot (wie: ziemlich schädlich). Leider ist die Sache nicht ganz so simpel, wie es die Lebensmittelampel signalisiert.
Der Nutriscore bewertet die in 100 Gramm (oder Millilitern) eines Produkts enthaltene Menge an Zucker, Fett und Salz (dafür gibt es Minuspunkte) beziehungsweise Ballaststoffen, Proteinen oder Gemüseanteilen (Pluspunkte). Daraus ergibt sich eine Bewertung in fünf Abstufungen, wobei der Vergleich zwischen verschiedenen Produktgruppen nicht zulässig ist. Denn die Rot-Grün-Skala eines bestimmten Produkts steht immer nur im Verhältnis zu ähnlichen Lebensmitteln – eine hellgrün beampelte Pizza ist insofern vielleicht gesünder als das tiefrote Fischstäbchen (beides sind Fertigprodukte), nicht aber als der orange Vollkornkeks oder das (naturgemäß eher fettlastige) Olivenöl. Außerdem sagt der Nutriscore nichts über den Grad der Verarbeitung oder den Gehalt an synthetischen Produkten aus, dieser lässt sich erst wieder nur mit einem Blick aufs Kleingedruckte erkennen. Aber wer weiß schon, wie viel Protein pro Joghurtbecher sinnvoll ist und welche Art von Kohlenhydrat wirklich in einen Müsliriegel gehört?
Es macht tatsächlich einen Unterschied, ob gesättigte Fettsäuren aus Milchprodukten stammen oder aus hochverarbeiteten Backwaren. Fett (Vollmilch) ist nicht gleich Fett (Kartoffelchips), und Ballaststoffe aus einem Vollkorn-Getreidegericht unterscheiden sich deutlich von jenen in einem künstlich angereicherten „High-Fiber“-Drink – selbst wenn sie in der Laboranalyse sehr ähnlich ausschauen.
Guter Tipp: Rechtzeitig aufhören!
Die Ernährungskompetenz ist in Österreich jedenfalls ausbaufähig, meint Marlies Gruber vom „Forum Ernährung Heute“, sie plädiert für eine stärkere Verankerung im Rahmen des Pflichtschulbetriebs: „Nur so kann das Wissen über gesunde Ernährung wirklich in der Breite ankommen. Heute ist es Glückssache, ob gesundes Essen in der Familie ein Thema ist oder nicht.“ Als wesentliche Kompetenz – viel wichtiger als das Wissen über einzelne Nährstoffkategorien – sieht die Ernährungwissenschafterin übrigens neben der Abwechslung und dem Genießen das Erkennen des eigenen Sättigungsgefühls: Wer rechtzeitig spürt, wann es genug ist (und dann auch tatsächlich aufhört zu essen), hat schon den wesentlichen Schritt hin zu einer gesunden Ernährungsweise gemacht.
Wer noch weiter gehen möchte, kann zum Glück ein paar Ernährungsratschläge mitnehmen, die zwar – im Sinne der oben beschriebenen Unsicherheiten – eher grob ausfallen, sich dafür allerdings wissenschaftlich ganz gut belegen lassen:
Pflanzliche Nahrungsmittel sind der Gesundheit zuträglich. Wer mehr davon isst, verringert im Vergleich mit einer fleischlastigen Diät das Risiko für Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall. Die Empfehlung dazu lautet, dass drei Viertel der täglichen Kalorienzufuhr aus pflanzlichen Quellen kommen sollten, also aus Obst, Gemüse, Nüssen, Hülsenfrüchten oder Getreide (idealerweise Vollkorn).
Fettarmes Fleisch ist in vernünftiger Dosierung (bis zu drei Portionen pro Woche) kein Problem, stark verarbeitete Wurstwaren hingegen können schon ab einer geringeren Dosis das Risiko chronischer Erkrankungen erhöhen.
Weniger als 30 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs sollten aus Fetten lukriert werden, die Zufuhr aus reinem Zucker sollte unter 10 Prozent liegen, der Salzkonsum fünf Gramm pro Tag nicht überschreiten.
Rein ernährungsmedizinisch ist kein grundsätzlicher Vor- oder Nachteil zwischen einer tendenziell fett- und einer kohlenhydratlastigen Ernährungsweise zu verzeichnen, solange die Fette und Kohlenhydrate jeweils aus hochqualitativen Quellen stammen. Denn es macht tatsächlich einen Unterschied, ob gesättigte Fettsäuren aus Milchprodukten stammen oder aus hochverarbeiteten Backwaren. Fett (Vollmilch) ist nicht gleich Fett (Kartoffelchips), und Ballaststoffe aus einem Vollkorn-Getreidegericht unterscheiden sich deutlich von jenen in einem künstlich angereicherten „High-Fiber“-Drink – selbst wenn sie in der Laboranalyse sehr ähnlich ausschauen mögen.
Der britische Ernährungsmediziner Tim Spector meint überhaupt, dass es wenig sinnvoll sei, bei der Ernährung auf einzelne Nährstoffgruppen wie Fette, Zucker oder Proteine zu fokussieren. Er schlägt vor, Nahrungsmittel als komplexe chemische Cocktails zu betrachten und dabei eine wichtige Regel zu beachten: „Es kann keine allgemeingültigen Regeln geben.“
Kleine Schlusspointe: Natürlich hat Spector trotzdem ein paar Regeln im Angebot. Voilà: Iss 30 verschiedene Pflanzen pro Woche (es gelten alle Obst- und Gemüsesorten sowie Gewürze, Nüsse, Hülsenfrüchte). Iss möglichst bunt (von Grün bis Rot; die Vielfalt macht es aus). Und: Iss jeden Tag etwas Fermentiertes.
Aber ja: Darüber kann man natürlich streiten.
Sebastian Hofer
schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.