EURO 2016: Warum Österreich plötzlich eine Fußballnation ist
Vor 18 Jahren knallte Ivica Vastić, der österreichische Torjäger mit kroatischen Wurzeln, bei der Weltmeisterschaft den Ball ins Tor. Die "Kronen Zeitung" titelte euphorisch: "Ivo, jetzt bist du ein richtiger Österreicher." Scherzbolde witzelten darauf: "Stimmt nicht. Wäre Vastić ein richtiger Österreicher, hätte er vorbeigeschossen."
Ein ganzes Land mobilisierte seinen Galgenhumor, wenn die Nationalelf aufs Feld stürmte. Doch plötzlich scheint die Welt auf den Kopf gestellt zu sein. Österreich qualifizierte sich mit neun Siegen in zehn Spielen erstmals aus eigener Kraft für eine Europameisterschaft. Das Team kletterte in vier Jahren von Platz 72 in die Top 10 der Weltrangliste und wird im In-und Ausland beklatscht.
Bei der Pressekonferenz nach der historischen Qualifikation wollte ein Journalist vom Schweizer Teamchef Marcel Koller wissen, was jetzt noch möglich sei an Erfolgen oder ob der Plafond bereits erreicht sei. Koller antwortete mit fester Stimme: "Wir wollen uns keine Grenzen setzen." Und: "Es gibt keine Limits."
Lange Zeit kannte der österreichische Fußball nur Limits. Die Begrenztheit der heimischen Nationalelf schien unbegrenzt. Nun sitzt da ein schmaler Schweizer und spricht über den österreichischen Fußball, als stünde ihm die Welt offen. Wie ist dieses Märchen zu erklären?
Tiefpunkt unter Constantini
Da spielt ein Fußballverband eine wesentliche Rolle, der die Zeichen der Zeit lange nicht erkannt hatte, aber gerade noch rechtzeitig die Kurve kriegte. Vor viereinhalb Jahren schien das Drama seinen absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben. Österreichs Fußballteam lag hinter den Kapverdischen Inseln. Der damalige Teamchef Didi Constantini, ein uriger Tiroler mit Skilehrerschmäh und wenig Faible für Fußballtaktik, erklärte schulterzuckend: "Derzeit ist das Umfeld in einem kleinen Land mit einer kleinen Liga nicht geschaffen für Großtaten im Fußball."
Als der Schweizer Marcel Koller dem sichtlich überforderten Tiroler nachfolgte, verkündete er keck das Gegenteil. Er sprach von einer ausgezeichneten Perspektive. Österreich hatte ein Dutzend Stammspieler in den weltbesten Ligen, die in der Nationalmannschaft aber Spiel um Spiel verloren. Kollers Schweizer Assistent Fritz Schmid, ein studierter Mann, saß damals in einer Hotelbar und schüttelte den Kopf. Wie konnten so viele gute Spieler nur so wenig an sich glauben, fragte er sich. "Wir haben nur unsere Stärken trainiert, darum war die Einheit nach 15 Minuten vorbei", hatte Teamchef Josef Hickersberger einst über seine eigene Mannschaft gewitzelt. Und Didi Constantini sprach von Selbstgeißelung, nachdem er seine Elf auf Video studiert hatte. Marcel Koller scherzte nie über seine Mannschaft. Witze liegen dem Schweizer nicht. Schon bei den ersten Gesprächen stand den ÖFB-Verantwortlichen ein Musterschüler gegenüber. Koller kannte alle Spieler, hatte viele Matchvideos durchgeackert und seine Schlüsse daraus gezogen.
Traditionalisten erschien die Inthronisierung eines Schweizers trotzdem als ein Bruch mit dem bislang gepflegten Patriotismus. In einer eilig zusammengestellten TV-Runde polterten die einstigen Fußballhelden des Landes gegen die Entscheidung. Der Hintergrund: In Österreich gibt es nur elf begehrte Trainerjobs -bei zehn Bundesliga-Klubs und eben den Teamchefsessel, auf den eine ganze Armada von echten und selbst ernannten Legenden spitzt. Lange wechselten sich die Helden von einst auf diesem Posten ab: Herbert Prohaska, Hans Krankl, Josef Hickersberger und Didi Constantini. Als der Schweizer ihren Platz einnahm, forderten die Honoratioren empört einen echten Österreicher als Teamchef.
Dabei war der österreichische Fußball die vorangegangenen zehn Jahre mit echten Österreichern nicht mehr gut gefahren. Nachdem Herbert Prohaska seine Elf 1998 immerhin noch zur Weltmeisterschaft führte, wandelte sich der internationale Fußball schnell zum Strategiespiel detailverliebter Taktik-Freaks. Doch während erfolgreiche Nationen auf ausgefeiltes Rasenschach umstellten, verharrte Österreich in den alten Mustern.
"Auf dem Platz wusste niemand, was zu tun war"
Der einstige Nationalheld Hans Krankl setzte zwei Qualifikationen in den Sand, ehe Josef Hickersberger, Typ gemütlicher Hauptschullehrer, Österreich für die Heim-Europameisterschaft 2008 flottbekommen sollte. Schon damals waren es die im Ausland beschäftigten Spieler, die sich über unmoderne Trainingsmethoden mokierten. "Im Nationalteam gehen wir ohne taktische Vorgaben ins Spiel, wie ein Schüler, der für eine Schularbeit nichts gelernt hat", ließ Emanuel Pogatetz, damals England-Legionär, dem Teamchef öffentlich ausrichten. Paul Scharner, der Ehrgeizling des Teams, beklagte, dass Hickersberger schon damit zufrieden war, überhaupt dabeizusein. Bei der Europameisterschaft schied Österreich ohne Sieg aus. Heute sagt ein Spieler, der anonym bleiben möchte: "Bei Hickersberger gab es wenigstens noch ein bisschen Taktik, unter Constantini dann gar nichts mehr. Wir hatten eine gute Mannschaft, aber auf dem Platz wusste niemand, was zu tun war."
Unter Marcel Koller wurden die Aufgaben klar verteilt. Er zerlegte Spiele am Laptop in ihre Einzelteile , flog zu seinen Legionären durch halb Europa und bereitete sie akribisch auf ihre Gegner vor. Mitarbeiter staunten, wie fleißig der Neue ans Werk ging. Koller zimmerte der Nation eine neue fußballerische Identität. Österreich spielte plötzlich so, wie man international Fußball spielt: schnell nach vorne, mit Druck, Tempo und Mut. Der taktikaffine Schweizer lieferte den Gegenentwurf zum österreichischen Schlendrian. Reagierten frühere Teamchefs noch mit flapsigem Schmäh auf ausbleibenden Erfolg, schaffte Koller mit ernster Miene die Wende. Im Vordergrund stand der unbedingte Wille zum Erfolg, nicht das Schönreden von Misserfolgen. Hatte sich Vorgänger Constantini noch mit einem Teil der Mannschaft zerstritten, schenkte Koller allen Zuwendung. Auf den Stürmer Marc Janko und den Torhüter Robert Almer setzte er unbeirrt, auch als sie von ihren Klubs ausgemustert worden waren. Janko schoss Österreich darauf mit sieben Treffern zur Europameisterschaft, und Almer hielt "den Kasten" sauber. Für den verhaltensoriginellen Marko Arnautović entwickelte Koller gemeinsam mit den restlichen Spielern eine Strategie, um ihn teamfähiger zu machen.
Er kann dabei aus einem beachtlichen Reservoir an Klassespielern schöpfen. Waren österreichische Kicker nach dem 0:9-Debakel gegen Spanien vor 17 Jahren auf dem internationalen Transfermarkt bestenfalls Restposten, sind sie heute heiß begehrt. Krankl und Hickersberger hatten nur eine Handvoll Legionäre, Constantini und Koller konnten bereits aus der Oberliga wählen. Über 40 Spieler sind heute aktuell in der ersten oder zweiten Bundesliga tätig, nicht wenige spielen mittlerweile auch in der englischen Premier League.
Willi Ruttensteiner, Sportdirektor des ÖFB, sitzt bei frisch gepresstem Organgensaft in einem Wiener Café und erzählt mit Stolz, warum Österreich zur Zeit Topspieler wie am Fließband produziert. Vor 15 Jahren kam der Oberösterreicher zum ÖFB, um den europäischen Fußball auf Erfolgsfaktoren hin zu durchleuchten. Seine Erkenntnisse legte er wie eine Schablone über die heimische Nachwuchsarbeit. In Österreich hatte man zu lange auf neue Naturtalente à la Prohaska gehofft, anstatt strategisch zu planen:
Ruttensteiners Verdienst
"Heute hat Österreich in jedem Jahrgang hervorragende Talente und ein tolles Ausbildungsmodell", sagt der ÖFB-Sportchef. Ruttensteiner selbst war kein Starspieler, sondern Volksschullehrer. Er wirkt deshalb mehr wie ein Universitätsprofessor denn ein Sportfunktionär alter Schule. Die Verwissenschaftlichung des Fußballspiels ist sein Steckenpferd. Alle relevanten Spieler wurden in Datenbanken erfasst und individuell gefördert. Zusätzlich wurden immer mehr Fußballakademien eröffnet; finanzschwache Vereine setzten zwangsweise auf heimische Kicker anstatt auf teure Importe. Heute spielen Österreicher in den größten Stadien der Welt und werden von den besten Trainern der Branche trainiert.
Je mehr Spieler sich auf internationalem Niveau durchsetzten, desto lauter wurde die Kritik an den heimischen Betreuern. Während Alaba, Janko, Fuchs, Arnautović, Harnik & Co. im Ausland groß aufgeigten , wurden sie in der ÖFB-Auswahl immer wieder düpiert. Ein Spieler erzählt, dass sie es satt hatten, im Nationalteam taktisch schlecht eingestellt zu werden, um danach auch noch den Rüffel für Niederlagen zu kassieren. Jene, die das öffentlich durchklingen ließen, wurden verbannt. Marc Janko, damals treffsicherer Holland-Legionär, suchte das vertrauliche Gespräch mit Constantini und saß wenig später auf der Ersatzbank. Constantini setzte zunehmend auf Spieler aus der heimischen Liga, die ihn durch internationale Erfahrungen nicht überforderten und keine besonderen Ansprüche an das Trainerteam stellten.
Die Verpflichtung des Schweizers Marcel Koller kam einer Palastrevolution gleich. Sportdirektor Willi Ruttensteiner legte seinem Förderer, ÖFB-Präsident Leo Windtner, Verbesserungsvorschläge vor und durfte erstmals bei der Teamchef-Wahl mitreden. Bis zur Bestellung Kollers war Ruttensteiner ausschließlich für den Nachwuchsbereich zuständig gewesen. Er amtierte zwar als Sportdirektor des Verbandes, die großen Entscheidungen trafen aber die Landespräsidenten des ÖFB, Herren in Anzügen und Krawatten, hauptberuflich Richter oder Bürgermeister, die als Entgelt für ihr ehrenamtliches Tun Königsmacher spielen durften. So setzte der ehemalige Bundesligapräsident Frank Stronach einst Hans Krankl durch, weil ihm dessen Patriotismus gefiel. Gegen die Ablöse des Tirolers Constantini gab es trotzigen Widerstand seitens der westlichen Landesfürsten. Nun bastelte Ruttensteiner ein Anforderungsprofil. Ein zentraler Punkt: Der Teamchef musste "internationale Erfahrung" haben. Damit kamen so gut wie alle einheimischen Legenden nicht infrage. Außerdem durften die Landespräsidenten die Teamchefbestellung nur mehr abnicken und waren entsprechend verstimmt. Bei Ruttensteiners Vertragsverlängerung wenig später votierten die drei westlichen Landesverbände gegen seinen Verbleib.
Klare Aufgabenverteilung
Dabei spielt Österreich heute so, wie es Ruttensteiner lange vorschwebte: mutig und offensiv. Wenn er früher mit den patriarchalischen Teamchefs an der Spielweise tüfteln wollte, fürchteten diese gleich, dass ihnen der Trainersessel abspenstig gemacht werden sollte. Koller kennt diese Form von Futterneid nicht. Die Aufgaben sind klar verteilt: Der Teamchef entwickelt die Taktik, der Sportdirektor heckt neue Ideen aus, und der Präsident boxt sie im Präsidium durch.
Leo Windtner, im Zivilberuf Boss der oberösterreichischen Energie AG, ist ein kleiner Mann mit freundlichem Gesicht und festem Händedruck, der sich in der Rolle des Machers gefällt. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Tiroler Constantini als Teamchef verpflichtet. Im Gespräch merkt man, dass er inzwischen verstanden hat, warum der österreichische Fußball lange nicht funktionierte. Er sagt Sätze wie "Jedes Konzept braucht einen systemtheoretischen Hintergrund" oder "Ich schließe aus, dass man eine Teamchef-Suche künftig unstrukturiert durchführt". Zuletzt zeigte der österreichische Fußball ein neues Gesicht: 3:2 in Montenegro, 1:0 in Russland, 4:1 in Schweden. Früher hatten Siege auf fremdem Boden Seltenheitswert. Inzwischen holt Österreich sogar Rückstände auf, spielt selbstbewusst und weltgewandt. Vor acht Jahren führte man unter Teamchef Hickersberger gegen die Fußballmacht Niederlande 3:0, ehe man sich ängstlich vor dem eigenen Tor verbarrikadierte und noch 3:4 verlor. Heute haben die Spieler nicht mehr Angst davor, zu gewinnen, sondern zu verlieren.
Josef Hickersberger, der einstige Teamchef, wurde kürzlich gefragt, welches Ziel das Nationalteam in Frankreich haben solle. "Einen Sieg", antwortete er stoisch. Marcel Koller will mehr. Er hat nicht nur die Einflussmöglichkeiten eines Teamchefs in Österreich neu definiert, sondern zugleich einen Kulturwandel vollzogen. Österreich spielt nicht mehr wie Österreich. Österreich ist plötzlich eine Fußballnation.