EURO 2024: Endlich wieder ein Turnier, auf das man sich freuen kann
Von Moritz Ablinger
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Die Geschichte der Fußball-Europameisterschaften ist eine Geschichte der Außenseiter. Mit einem unter die Querlatte gechippten Elfmeter machte sich Antonin Panenka 1976 im Endspiel gegen Deutschland unsterblich und die Tschechoslowakei zum Turniersieger. 1992 rutschte Dänemark erst elf Tage vor Start des Bewerbs in Schweden ins Teilnehmerfeld – Jugoslawien war aufgrund kriegsbedingter Sanktionen ausgeschlossen worden – und holte den Titel. 2004 entschied Griechenland mit unansehnlichem Defensivfußball, den Kommandos von Trainer Otto Rehhagel und Kopfballungeheuer Angelos Charisteas das Turnier in Portugal für sich.
Wenn die kommende Auflage der Europameisterschaft der Männer am 14. Juni in der Münchner Allianz Arena angepfiffen wird, ist mit Unerwartetem also fix zu rechnen. Vielleicht schlägt sogar die Stunde des österreichischen Nationalteams, das mit Stars am Feld und einem Fachmann als Trainer das Zeug zur Überraschungsmannschaft hat.
Einigermaßen besonders wird die EM in Deutschland in jedem Fall. Weil Fußballfunktionäre die Globalisierung der großen Turniere immer radikaler nach vorn treiben und dabei immer weniger Rücksicht auf eingeübte Zeitpläne und geografische Gepflogenheiten zeigen, könnte sie eine der letzten Fußball-Großveranstaltungen im gewohnten Rahmen und Format sein, also ein Turnier mit eindeutig erkennbarem Gastgeber und einigermaßen überschaubarem Schauplatz.
Boykott vor Turnierstart
Das Turnier hat einen weiten Weg hinter sich. Die allererste EM (alias: Europapokal der Nationen) dauerte beinahe zwei Jahre lang und unterteilte sich in ein langwieriges Qualifikationsturnier und eine viertägige Endrunde im Sommer 1960 in Frankreich, an der vier Nationen teilnahmen (Sieger: Sowjetunion). Dem waren intensive bürokratische Beratungen vorausgegangen. Auf drei Kongressen hatte der noch junge europäische Fußballverband UEFA über den neuen Bewerb verhandelt. Während manche Mitgliedsverbände das Potenzial einer kontinentalen Meisterschaft erkannten, verweigerten sich wichtige Teile des Establishments. Die BRD, England und Italien spielten nicht mit, der westdeutsche Teamchef Josef Herberger sagte: „Zwischen den Weltmeisterschaften ist der Neuaufbau einer starken Nationalelf die erste Aufgabe. Da stört ein Europaturnier nur.“ Der Boykott hielt acht Jahre, dann aber nahmen alle nennenswerten Länderverbände an der EM teil.
Das Format wurde – wie die Weltmeisterschaft – alle vier Jahre ausgespielt und zum fixen Bestandteil des Fußballkalenders. 1980 stockte die UEFA das Teilnehmerfeld der Endrunde erstmals auf, fortan qualifizierten sich acht Teams für das Finalturnier, ab 1996 waren es 16 Nationen. Seit 2016 spielen sogar 24 Teams mit. Das gab auch kleineren Fußballnationen wie Island, Nordmazedonien oder der Slowakei die Möglichkeit zur Teilnahme. Auch Österreich konnte sich 2016 erstmals auf sportlichem Wege qualifizieren.
Die Aufstockung des Turniers war allerdings kein altruistischer Akt, es ging ums Geld. Denn je mehr Mannschaften teilnehmen, desto mehr Spiele gibt es – und desto ertragreicher ist die TV-Vermarktung. Zwei Milliarden Euro hat die UEFA damit im Vorfeld der kommenden Europameisterschaft eingenommen, insgesamt rechnet sie mit einem Umsatz von 2,4 Milliarden Euro. Bei der EM 1992 belief sich diese Summe noch auf 41 Millionen Euro. Ein Anstieg um nahezu 6000 Prozent. Der Verband hat es nötig. Zwar spülen die Vermarktungsrechte der UEFA-Klubturniere – allen voran der Champions League – noch mehr Geld in die Kassa, davon bleibt dem Verband allerdings wenig übrig. Den Großteil der Erträge muss er den teilnehmenden Vereinen auszahlen.
Business vor Spielkultur
Weil aber die immer größeren EM-Turniere immer höhere Anforderungen – mehr und größere Stadien, Trainingsmöglichkeiten für die Mannschaften, Unterkünfte für Abermillionen Fans – bedeuten, hat sich die UEFA eine zusätzliche Flanke aufgemacht. Kaum ein Land kann eine derartige Veranstaltung allein stemmen, und weil der Verband den Großteil der Gewinne selbst einstreichen möchte, ist die Aufgabe nicht besonders reizvoll.
Das Resultat sind Gemeinschaftsprojekte. 2000 trugen erstmals zwei Länder gemeinsam eine EM-Endrunde aus, Belgien und die Niederlande. 2008 folgten Österreich und die Schweiz, 2012 Polen und die Ukraine. 2021 – das Turnier war durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie ohnehin ein Durcheinander – ging die EM in elf verschiedenen Ländern über die Bühne: die Gruppenphase zwischen Baku, Glasgow und Sevilla; Halbfinale und Endspiel in London. 2028 wird in England und Irland, 2032 in Italien und der Türkei gespielt.
Der Expansionsdrang hat die Fußballwelt voll im Griff, die Großveranstaltungen der Männer sollen immer neue Weltregionen erschließen. Die Asienmeisterschaft fand 2019 (erstmals mit 24 Teilnehmern) in den Vereinigten Arabischen Emiraten statt, 2024 geht sie in Katar und 2027 in Saudi-Arabien über die Bühne. Die Copa América, der Kontinentalbewerb Südamerikas, der zeitgleich mit der EM im kommenden Sommer stattfindet, wird in den USA ausgespielt. Die Weltmeisterschaft 2026 teilen sich Kanada, Mexiko und die USA, 2030 kommen sogar sechs Länder zum Zug: Argentinien, Marokko, Paraguay, Portugal, Spanien und Uruguay. Dass sich solche Turniere nur unter höchstem logistischen Aufwand und unter Aufbringung von Millionen von Flugmeilen veranstalten lassen, tritt dabei in den Hintergrund.
Wenn wir alle Mann an Bord haben, können wir jeden Gegner schlagen
Superstars statt Mittelständler
In diesem aufgemotzten Vermarktungswettlauf bietet die kommende Europameisterschaft nun eine Verschnaufpause. Die größte Distanz, die Mannschaften und Fans bei diesem Turnier zurücklegen werden müssen, ist jene zwischen Hamburg und München. Vier der zehn Spielorte liegen in Nordrhein-Westfalen. Die EM in Deutschland solle das genaue Gegenteil der jüngsten Großereignisse darstellen, meinte der Turnierdirektor und ehemalige deutsche Teamspieler Philipp Lahm denn auch im Interview mit der „Zeit“: „Bei den letzten Weltmeisterschaften in Katar und Russland wurde der Sport von den falschen Leuten benutzt für ihre jeweiligen Zwecke. Es ging dabei in erster Linie um Macht und Selbstdarstellung. Nun soll die EURO 2024 ein großes Fest werden, ein Fest der Zusammenkunft. Europa.“
Auch sportlich bietet das Turnier Chancen – gerade für Österreich. Wer einen Eindruck von dem aktuellen Höhenflug des Nationalteams gewinnen möchte, muss nur ein paar Namen vergleichen. Als es 2008 (als Gastgeber automatisch qualifiziert) erstmals an einer EM teilnahm, gab Griechenland-Legionär Andreas Ivanschitz den Kapitän, für die Tore sollte Roland Linz vom portugiesischen Mittelständler Sporting Braga sorgen, und in die Herzen der Zuschauer spielte sich Ümit Korkmaz, Linksaußen des SK Rapid.
Heute heißt der Kapitän David Alaba und hat mit dem FC Bayern und seinem aktuellen Team Real Madrid drei Mal die Champions League gewonnen. Zu seinen Mitspielern gehören Kevin Danso, der als Innenverteidiger in der französischen Ligue 1 zum Spieler der Saison gewählt wurde, und Marcel Sabitzer, der nach Stationen bei Manchester United und dem FC Bayern jetzt in der Stammelf von Borussia Dortmund steht. Der überlegene 2:0-Sieg über Deutschland Ende November unterstrich das Potenzial der Mannschaft. „Wenn wir alle Mann an Bord haben, können wir jeden Gegner schlagen“, sagte Teamchef Ralf Rangnick danach. In den deutschen Medien stellte man sich daraufhin die Frage, warum der Schwabe eigentlich die österreichische und nicht die deutsche Nationalmannschaft trainiere.
Geschenkt bekommen werden die Österreicher bei der EM aber nichts – auch keine Sensation. Für das Team geht es am 17. Juni mit der ersten Partie los, dort wartet gleich einmal Vizeweltmeister und Topfavorit Frankreich. Acht Tage später wird sich gegen die Niederlande im Berliner Olympiastadion zeigen, ob Rangnicks Mannschaft die Gruppenphase übersteht. „Viel anspruchsvoller hätte es nicht kommen können“, sagte der Trainer nach der Auslosung.
Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.