Explosionsgefahr in der ORF-Serie „Die Macht der Kränkung“
Der Anabolika futternde Security-Beamte (Murathan Muslu), der von seiner Frau ständig gesagt bekommt, dass er nichts auf die Reihe kriegt. Die gescheiterte Pianistin (Julia Koschitz), die als Versicherungs-Agentin von ihrem Kollegen beruflich und privat missbraucht wird. Beide sind die Protagonisten der ersten beiden Folgen der sechsteiligen ORF-Serie „Die Macht der Kränkung“ (ab 29. August, 20:15 Uhr, ORF 2), in der Drehbuchautorin Agnes Pluch kunstvoll und voller Empathie für ihre Figuren jene Handlungsstränge miteinander verflicht, die einen Amoklauf in einem Einkaufszentrum zur Folge haben. Auch die Ästhetik der Serie in der Regie von Umut Dağ kann durchaus in ihrer klaren Coolness mit Netflix- und Sky-Produktionen mithalten. Inspiriert wurde Pluch, eine der herausragendsten Filmautorinnen Österreichs, von jenen Tatsachenberichten, die der Vorarlberger forensische Psychiater Reinhard Haller in seinem Buch über das Phänomen Kränkung erzählte.
Kränkung ist das häufigste Motiv für Verbrechen, so die Kriminalstatistik. Die erste Kränkung des Menschen beginnt de facto mit dem Eintritt ins Leben und dem damit verbundenen Geburtsschock. Die Entwicklungspsychologin Brigitte Rollett sieht in einem stabilen familiären Umfeld, in dem auch ein Ausweichen auf andere Vertrauenspersonen möglich ist, einen Grundstein für die spätere Kränkungsresilienz eines Kindes.
Die Psychiaterin Heidi Kastner definiert Kränkung als „Erschütterung des Selbstwerts durch eine relevante Person“. Jene Menschen, die ihre Selbstwertschwäche nicht neutralisieren, weil sie beispielsweise an einer Persönlichkeitsstörung leiden, können angesichts von winzigen Details und Lappalien aus dem Gleichgewicht geraten, die als eine solche Entwertung empfunden werden. Haller findet, dass die Kränkung (profil-Coverstory 11/2016) in der Psychiatrie bislang völlig unterschätzt wurde: „Erstaunlicherweise wurde den destruktiven Energien der Kränkung über Jahrzehnte kaum Raum gegeben. Der ganze Fokus lag auf der Traumaforschung. Einer Studie zufolge waren 88 Prozent aller Amokläufer (96 % sind männlich) zuvor in der Schule oder am Arbeitsplatz gehänselt, ausgeschlossen oder von Mädchen zurückgewiesen worden. Kränkung ist auch das häufigste Motiv bei Femiziden. Am häufigsten werden Frauen in Österreich von ihren Männern getötet – wenn sie im Begriffe waren, ihren Partner zu verlassen oder es bereits getan hatten. „Männer sind viel leichter kränkbar als Frauen“, so Haller, „oft zeigen sie nach ihren Taten kaum Reue und nehmen kommentarlos lebenslängliche Gefängnisstrafen in Kauf, weil sie aus ihrer Sicht durch den Mord ihren Selbstwert wiederhergestellt haben.“