Familienkonflikte: Ist Vergebung immer der richtige Weg?
"Ich rede nicht mehr mit meiner Mutter. Und seither geht es mir tatsächlich besser." - "Die Frau meines Vaters verbot mir sogar, auf sein Begräbnis zu gehen. Wie eine böse Hexe hat sie meinen Vater von seiner Familie, seinen Freunden systematisch entfremdet." - "Meine Mutter hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich für ihr schlechtes und schwieriges Leben verantwortlich bin. Als ich erfahren habe, dass sie an Krebs gestorben ist, löste das nichts in mir aus." Passagen aus Gesprächen, die ich vor einem Jahr für die profil-Titelgeschichte "Drama Familie: Wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen" führte. Es war erstaunlich, wie viele Menschen sich nach einem Facebook-Aufruf zum Thema familiäre Funkstille meldeten und ihre Geschichten erzählten - und wie lange nach Erscheinen der profil-Ausgabe noch Briefe von Lesern eintrudelten, die über ähnliche Erlebnisse berichteten.
Einige der Schreiben stammten auch von verzweifelten Eltern, die jahrelang nichts mehr von ihren erwachsenen Kindern gehört hatten, wobei auch ihr eigenes Schamgefühl mitschwang. Denn ein Kontaktabbruch seitens der Kinder kommt für die zurückgelassenen Eltern oft einer Bankrotterklärung ihrer Erziehungsarbeit und ihres Lebenskonzepts gleich. Der Brief eines Trennungsvaters, der seine beiden (heute erwachsenen) Söhne anfangs kaum und später gar nicht mehr sehen konnte, endete mit den bitteren Worten: "Ich tröste mich damit, dass sie bei meiner Testamentseröffnung sicherlich anwesend sein werden, um ihren Pflichtteil einzufordern."
Die österreichische Familienforscherin Mariam Irene Tazi- Preve schätzt, dass bei "rund 40 Prozent der Scheidungsväter" der "Kontakt einfach versandet". (Valides Datenmaterial liegt erstaunlicherweise nicht vor.)
Familientherapeuten raten Eltern, deren Kinder ein Kontaktembargo verhängt haben, mit Gesten wie kleinen Geschenken oder Briefen ohne Vorwürfe und Klagen ihre Bereitschaft zu einer Annäherung zu signalisieren. Gerade zur sentimentalitätsbesetzten Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel eskalieren verschüttete und verdrängte Konflikte häufig. Vor dem Hintergrund der Idyllen-Besessenheit, die viele Werbespots und Postings auf sozialen Medien kennzeichnen, kreisen die Verlustgedanken besonders intensiv.
In jener Phase des Jahres, in der sich intensiver als sonst Kindheitserinnerungen und damit die oft naive Hoffnung auf Veränderung einstellen, fragen sich viele Betroffene oft insgeheim, ob man nicht doch über seinen Schatten springen und einen Versöhnungsprozess einleiten solle.
Versöhnung, Vergebung und Verzeihung gehören zum Grundinventar der Weltreligionen. Der höchste Feiertag des Judentums ist der Versöhnungstag, Jom Kippur, der zum Anlass für Vergebung genommen werden soll, um laut Talmud "von den Sünden gegen den Nächsten befreit zu werden". Am Kreuz bat Jesus um Absolution für seine Peiniger: "Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Eine Kernaussage des "Vaterunser" lautet: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Auch im Buddhismus steht die Fähigkeit des Vergebens bei den Charakterexerzitien ganz oben, denn, so Buddha selbst: "An Zorn festhalten ist wie Gift trinken."
Mit solchen auf Harmonie um jeden Preis gepolten Denkverordnungen gehen jedoch weder Philosophen noch Psychologen oder Psychotherapeuten konform. "Verzeihen, das meint: Verzicht auf Vergeltung. Der Verzeihende fordert nicht, was ihm eigentlich zusteht", erklärt die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler, die dem Thema vor einem Jahr eine ganze Ausgabe ihres "Philosophie-Magazins" widmete. Flaßpöhler, Autorin des Buches "Verzeihen. Vom Umgang mit der Schuld", entwickelte aus autobiografischen Gründen eine Leidenschaft für Schuld und Vergebung. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, als Flaßpöhler ein Teenager war. Die Jahre vergingen, ohne jeglichen Versuch der Kontaktaufnahme durch die Mutter. Nach der Geburt ihres ersten Kindes sprang schließlich die verlassene Tochter über ihren Schatten und suchte ihrerseits eine Begegnung. Nach mehreren Treffen kam sie zur Gewissheit, dass die verlorene Mutter "mich nicht mehr verletzen kann, weil ich mir nichts mehr erwarte".
Zu einem solchen Punkt rationaler Gelassenheit kann man allerdings nur dann gelangen, wenn man sich im Vorfeld in Selbstreflexion oder assistierter Selbstreflexion in Form einer Psychotherapie geübt hat. Die meisten meiner damaligen Interviewpartner sind jedoch einen anderen Weg gegangen: Sie blieben -auch nach oder manchmal sogar wegen einer Psychotherapie -ihrer Herkunftsfamilie dauerhaft fern, weil sie der festen Überzeugung waren, dass eine Absenz der Eltern oder eines Elternteils für ihr seelisches Wohlbefinden die einzig erträgliche Situation ist.
Die Politologin Gesine Schwan, die sich in ihren Büchern dem Wechselspiel zwischen Politik und Schuld sowie der "zerstörerischen Macht des Schweigens" widmet, ist überzeugt , dass "ein gutes, hilfreiches Vergessen" nur durch das "Durcharbeiten des eigenen Verhaltens" erreicht werden könne. Basiere das Vergessen dagegen auf dem Mechanismus der Verdrängung, "schwelt alles weiter". Die Verdrängung könne in der Folge zerstörerische Kräfte entfalten, die sich möglicherweise über Generationen fortsetzen, wie auch die jüngsten Erkenntnisse der Epigenetik zeigen. Sigmund Freud, selbst ein von Unversöhnlichkeit geprägter Charakter, der abtrünnige Wegbegleiter noch über deren Tod hinaus mit Hass und Häme verfolgte, bilanzierte seine Theorien über Verdrängung und Vergessen in einem griffigen Satz: "Wenn man jemandem alles verziehen hat, ist man mit ihm fertig." Das heißt: Nur jenen Menschen, bei denen keinerlei Emotionen mehr im Spiel sind, kann man reinen Herzens verzeihen. Arthur Schnitzler, der Dramatiker, den Freud voller Bewunderung als seinen "Doppelgänger" bezeichnete, ergänzte dazu: "Was unsere Seele am schnellsten und am schlimmsten abnutzt, ist das Verzeihen, ohne zu vergessen."
Zu einem Punkt rationaler Gelassenheit kann man jedoch nur dann gelangen, wenn man sich im Vorfeld in Selbstreflexion geübt hat.
Die Unterdrückung von Emotionen wie Wut und Trauer zugunsten des Versuchs, "eine Normalität wiederherzustellen" (so der französische Philosoph Jacques Derrida), kann psychosomatische Beschwerden auslösen. "Als ich mit meinem Vater und seiner Komplizin, meiner Mutter, gebrochen habe, haben meine Cluster-Kopfschmerzen endlich aufgehört", erzählt ein 50-jähriger Eventmanager.
Bluthochdruck, Atemerkrankungen und Verdauungsprobleme sind laut der Linzer Psychiaterin Heidi Kastner häufige Folgeerscheinungen von chronischem Stress und unterdrücktem Ärger. Kastner, Autorin des Buches "Wut: Plädoyer für ein in Verruf geratenes Gefühl", sieht in der allgemeinen sterilen "Ausdrucksbehübschung", in der laut kommunizierte Gefühle nichts verloren haben, eine Gefahr und plädiert dafür, besser "die emotionalen Karten spontan auf den Tisch zu legen". Wer das schafft, ist "glücklicher, gesünder und erfolgreicher". Und mit Sicherheit auch eher in der Lage, in Beziehungen aus den Kreisläufen von Kränkungen, Abwertungen und Vorwurfssalven auszusteigen oder eine Phase passiv-aggressiver Schweigephasen mit Familienmitgliedern zu durchbrechen.
Eine Regel bei Wiederversöhnungen ist in jedem Fall zu beachten: Versuchen Sie nicht, die Vergangenheit noch einmal endlos durchzukauen, Ihre Handlungen und Ihr Verhalten zu rechtfertigen und das Benehmen des oder der anderen in der Retrospektive zu kritisieren. Sollte Ihnen das schwerfallen, denken Sie einfach an George Bernhard Shaw und seinen erfrischenden Satz: "Freunde sind Gottes Entschuldigung für Verwandte."