Fleischhauer Radatz: "Das Schwein ist magerer geworden"
In einer losen Serie sprechen wir mit österreichischen Unternehmerinnen und Unternehmern über ikonische Dinge des Alltags-vom Ziegelstein bis zum Fensterscharnier. In dieser Folge gibt der Wiener Fleischhauer und Unternehmer Franz Radatz jun. Auskunft über sein wichtigstes Produkt: die Extrawurst-und erklärt, warum die Wurst zwei Enden hat und er sich wegen "dieser Veganerthematik" keine Sorgen macht.
Es geht hier also um die Wurst, konkret um die Extrawurst (fein): ikonische Zutat der kalten Küche Österreichs, als Bestandteil von Wurstsalat, saurer Wurst und Wurstsemmerl unverzichtbar, zudem ein Eich-und Messwesen ganz eigener Art: An der Extrawurst lässt sich barometergleich die Grundtendenz eines Fleischereibetriebs ablesen: fein oder grob, fett oder mager, zeitgeistig oder nicht. Franz Radatz jr., Jahrgang 1961, seit 1988 Geschäftsführer des von seinem Vater Franz Radatz sr. gegründeten Fleischereibetriebs, ist ein bedächtiger, feinsinniger Mensch, im Gespräch zurückhaltend bis nachdenklich. Der Doktor der Betriebswirtschaft und gelernte Fleischereimeister führt ein Unternehmen mit 900 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 180 Millionen Euro. Das Sortiment umfasst 700 Produkte, die Extrawurst ist prima inter pares.
profil: Sie sind gelernter Fleischereimeister
Radatz: ja, unter anderem.
profil: Können Sie sich noch an Ihre erste selbst gemachte Extrawurst erinnern?
Radatz: Das ist schon lange her, aber ja.
profil: Ist die Extrawurst etwas fürs erste Lehrjahr oder schon komplexeres Handwerk?
Radatz: Man fängt in der Lehre beim Fleisch an, also beim Rohprodukt, mit Zerlegung und Zuschnitt. Danach folgt die Warenkunde. Die Wurstproduktion als solche ist erst im zweiten oder dritten Lehrjahr dran.
profil: Aber ist die Extra an sich eine komplizierte Wurst?
Radatz: Sie wird jedenfalls unterschätzt. Sie teilt das Schicksal der Semmel-als Standardprodukt, das man sehr gut, aber auch sehr mittelmäßig machen kann. An der Extrawurst erkennt man die Qualität eines Fleischers.
profil: Die Wurst als Benchmark?
Radatz: So ist es. Sie hat in unserem Betrieb aber noch eine andere Bedeutung. Die Wurstproduktion war immer das Hobby meines Vaters und der eigentliche Anstoß für ihn, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Er hatte einen sehr guten Lehrherrn in diesem Bereich, den Herrn Löw in der Sechshauser Straße. Der stammte aus dem Bayerischen und hatte schon sehr früh die neuen technischen Möglichkeiten in der Wurstproduktion erkundet. Da war er damals in Wien sicher führend.
profil: Die Wurstherstellung umweht seit jeher ein Mysterium: Man weiß nicht genau, was drinnen ist, und man weiß nicht, ob man es wirklich so genau wissen will.
Radatz: Da sind wir heute doch mehrere Schritte weiter. Schon durch die staatliche Kontrolle, die von den 1970er-Jahren an sehr intensiv geworden ist. Dazu kommt seit 1995 die ISO 9000 Norm zum Qualitätsmanagement, zu der es regelmäßige Audits gibt, die teilweise eine ganze Woche dauern können. 2003 kamen noch die International Food Standards dazu. Diese betreffen die Produktsicherheit. Dazu noch die AMA-Kontrollen, die Audits vom Amtstierarzt und jene der Abnehmer, also etwa der Supermärkte. Wir haben in unserem aktuellen Journal 92 Audits pro Jahr eingetragen.
profil: Ist in so einem streng kontrollierten Umfeld noch Platz für so etwas wie ein Geheimrezept, für die Handschrift des Fleischers?
Radatz: Ja freilich.
profil: Und was ist das Geheimnis einer guten Extra? Liegt es in der Würze, in der Konsistenz?
Radatz: Sicher die Konsistenz. Das Gewürz ist mehr oder weniger Geschmackssache. Wir würzen traditionell eher dezent, denn man will bei der Extrawurstsemmel ja oft auch noch ein Gurkerl dazu, und die Geschmäcker sollen sich nicht zu sehr ins Gehege kommen. Das entscheidende Qualitätskriterium ist jedenfalls die Konsistenz. Die Masse wird bei der Extrawurst sehr fein gecuttert. Dabei sollte man das Zusammenspiel von Messergeschwindigkeit und Temperatur sehr genau beherrschen. Bei der Zerkleinerung wird das Eiweiß aufgeschlossen, dieses Eiweiß verbindet sich mit der Flüssigkeit. Wenn man zu wenig Flüssigkeit hinzufügt, hat man am Ende einen zähen Gummiball. Man darf es mit der Feinheit aber auch nicht übertreiben, weil sonst das Eiweiß gerinnt. Das ist die Kunst: dass die Extra Biss hat und trotzdem saftig ist.
Die Extrawurst zählt als Brühwurst zur Kategorie der Brätwürste. Zu ihren nahen Verwandten gehören die Knacker, die Augsburger, die Pariser, die Salzburger und der Schübling. Man unterscheidet zudem zwischen feiner und grober Extra, Stangenund Kranzlextra. Das rote Brät der Extrawurst besteht aus Rind-und Schweinefleisch, Speck und Nitritpökelsalz, gewürzt wird mit weißem Pfeffer, Muskat, Paprika und Knoblauch. Die Extra der Firma Radatz hat einen Fettanteil von 20 Prozent (bei 8 Prozent gesättigten Fettsäuren) und einen Energiewert von 222 Kalorien per 100 Gramm. Die Extra ist die einzige Wurst, die es zum geflügelten Wort gebracht hat; in Deutschland existiert sie sogar nur als solches. Dort werden zwar die sprichwörtlichen Extrawürste gebraten, aber nur Fleischwürste oder Lyoner tatsächlich verspeist.
profil: Seit wann ist die Extrawurst eigentlich die Extrawurst?
Radatz: Zur Zeit der Wiener Weltausstellung 1873 war die Extrawurst noch als Pressburger Wurst bekannt. Diese wurde nun aber während der Weltausstellung im Preis deutlich erhöht und zur teureren Extrawurst.
profil: Und was unterscheidet die Extra von der Knacker?
Radatz: Die Knacker wird aus sehnenreicherem Fleisch hergestellt, das mehr Kollagen enthält, was im Endprodukt weniger fein wirkt. Die Knacker ist damit zwar etwas fetter, aber sie hat auch mehr Biss.
profil: Tut es dem Fleischer nicht im Herzen weh, wenn sein Produkt in der Wurstsemmel mit Essiggemüse übertüncht wird?
Radatz: Nein, im Gegenteil, das habe ich schon als Kind gern gegessen.
profil: Sie haben als Kind ein Wurstsemmerl als Schuljause bekommen?
Radatz: Ja freilich.
profil: Inzwischen leben wir im Zeitalter der gesunden Jause. Bricht dem Fleischer damit ein wichtiges Element der Stammkunden-Akquise weg?
Radatz: Nun, das Blattl Wurst über die Theke wird immer noch gern genommen.
profil: Gibt es so etwas wie Wurstmoden?
Radatz: Das Schwein wurde über die Jahrzehnte magerer, und mit ihm auch die Wurst. In den 1980ern ging es los mit den Light-Würsten.
profil: Wie entstehen neue Wurstsorten? Gibt es bei Ihnen eine Abteilung für Produktentwicklung?
Radatz: Es ist weniger eine Abteilung als ein regelmäßiges Treffen mit unseren Abteilungsleitern, wo wir verkosten und wo Anregungen von Kunden behandelt werden, was Geschmacksvarianten betrifft, aber auch Verpackungsgrößen.
Wurstersatzprodukte kommen dem Original einfach nicht sehr nahe“
Etwas weniger als zehn Prozent der Österreicherinnen und Österreicher ernähren sich vegetarisch oder vegan. Der Fleischkonsum bleibt über die Jahre relativ stabil, er liegt derzeit bei 60 Kilogramm pro Kopf und Jahr, was ein Minus von 10 Prozent im Vergleich zum Jahr 1995 bedeutet. Der monatliche Wurst-und Selchwarenkonsum liegt laut der letzten Konsumerhebung der Statistik Austria bei 1,4 Kilogramm pro Monat. Der Trend zum Veganismus wird heute allerdings nicht mehr nur von Tierwohl-Gedanken angetrieben, sondern vor allem von dem Wunsch, dem Klimawandel gegenzusteuern. Die Produktion tierischer Lebensmittel verursacht bis zu zwei Drittel der weltweiten nahrungsmittelbedingten CO2-Emissionen. Ein Viertel der eisfreien Erdoberfläche wird als Weideland für Nutztiere verwendet. Der Weltklimarat hat in einem Sonderbericht schon vor zwei Jahren darauf gedrängt, den Fleischkonsum drastisch einzuschränken.
profil: Was sind die aktuellen Trends im Fleischereibusiness?
Radatz: In den Filialen erleben wir die Verschiebung vom Imbiss zum Selberkochen, die sich über die Lockdown-Zeit verfestigt hat. Gerade bei Fleischgerichten ist es oft nur ein kleiner Schritt zum Selberkochen. So eine Hexerei ist das ja nicht.
profil: Langfristig hat sich der Stellenwert von Fleisch und Wurst in der Küche deutlich verändert. Fleisch war in den 1960er-Jahren noch ein Luxusprodukt. Heute ist es im Gegenteil der Veganismus, der zum Statussymbol taugt, sei es aus Klima-oder Tierschutzgründen.
Radatz: Das ist richtig. In Summe ist der gesamte Fleischmarkt in Österreich etwas rückläufig. Aber wir fangen das immer irgendwie auf. Es ist ein Schwimmen gegen den Strom, das muss man sagen. Ich habe auch vor der Veganerthematik keine Sorge. Der Körper weiß, was ihm guttut. Da sind wir auf der sicheren Seite.
profil: Was dient Ihnen dabei als Schwimmhilfe? Marketing? Oder müssen Sie auch neue Produkte einführen? Mit dem Beyond-Meat-Burger bei McDonald's drängt das fleischlose Fleisch schon sehr deutlich in den Mainstream.
Radatz: Wir haben unser Angebot an Fertiggerichten ausgebaut, damit machen wir gute Umsätze. Fleischersatz ist bei uns noch kein Thema. Allerdings machen wir schon seit den 1970er-Jahren Gemüselaibchen, die auch sehr gut funktionieren. Wurstersatzprodukte kommen dem Original einfach nicht sehr nahe.
profil: Und wie viel müsste eine Bio-Extrawurst vom glücklichen Schwein kosten?
Radatz: Ungefähr das Doppelte. Das ist nicht leicht zu argumentieren. Außerdem ist in dem Bereich auch das Grundprodukt rar. Die Bauern sind in der Vergangenheit auch schon eingefahren. Die sind vorsichtig geworden.
profil: Eingefahren?
Radatz: Es gab vor 20 Jahren schon einmal einen Bio-Boom beim Schweinefleisch, also wurden viele Betriebe umgestellt, und dann ging das auf einmal nicht mehr, und man ist auf dem Biofleisch sitzen geblieben. Das war eine Erfahrung, an die sich viele noch erinnern. Andererseits hören ja auch immer noch viele kleinere Betriebe auf.
profil: Das ist auch in Ihrer Branche der Fall. Früher gab es in jedem Grätzel einen eigenen Fleischer.
Radatz: Das hat sich aber stabilisiert. Die, die es noch gibt, haben ihre Nischen und Stammkunden gefunden.
profil: Eignet sich die Wurstherstellung für romantische Vorstellungen? Gibt es einen Unterschied zwischen der Extrawurst, die der kleine, handwerkliche Fleischereibetrieb im Waldviertel macht, und jener, die ein Wiener Großbetrieb mit 24 Filialen und Supermarkt-Vertriebsschiene produziert?
Radatz: Was die Technik betrifft, fällt mir kein Unterschied ein. Ein kleiner Cutter arbeitet auch nicht anders als ein großer, und die Gewürze hat er wahrscheinlich sogar vom selben Lieferanten wie wir. Im Gegensatz zu den kleineren Betrieben schneiden wir allerdings sehr viel auf. Wir produzieren die feine Extra in Meterstangen, und diese wird dann für den Lebensmittelhandel in 100-oder 200-Gramm-Portionen geschnitten. Dabei fallen natürlich Wurstenden an, die nicht in die schönen Verpackungen hineinpassen. Diese wandern in Großpackungen und werden in unseren Wurst-Großmärkten zu günstigen Preisen verkauft.
profil: Warum wird denn dann die Wurst so hergestellt, dass Wurstenden entstehen? Warum gießt man das Brät nicht einfach in eine rechteckige Wanne?
Radatz: Das wäre dann keine Wurst, sondern ein Toastschinken. Aber auch dort verlieren Sie die erste Scheibe. Und so viel ist es ohnehin nicht. Die Würste hängen ja nicht, die werden liegend verarbeitet und gelagert, somit wird der Wurstzipfel auch nicht so lang. Das ist überschaubar.