Der Frank Underwood in uns: Lebenshilfe durch TV-Serien
Eine richtig gute Serie zeigt uns, wie borniert wir sind, wie viele Vorurteile wir in uns tragen. So ging es mir neulich, als ich die Serie "Orange is the New Black“ beim Online-Videodienst Netflix entdeckte. Sie spielt in einem Frauengefängnis. Gemeinsam mit der Hauptfigur Piper Chapman, einem blonden Mädchen aus gutbürgerlichem Haushalt, erlebt der Zuseher, wie brutal Haftanstalten sind, dass dort nicht nur gefährliche Verbrecher einsitzen, sondern auch Menschen, die sonst keinen Platz in der Gesellschaft haben - Junkies, Obdachlose und psychisch Kranke. Hätte ich das ohne die Serie gewusst? Ja, aber es wäre mir nicht so sehr zu Herzen gegangen.
Und dann war da die Nebenrolle der Sophia Burset. Sophia wurde als afroamerikanischer Mann geboren, fühlte sich aber todunglücklich, stahl Kreditkarten, um die Geschlechtsumwandlung zu finanzieren. Nun wurde sie dafür eingesperrt, die Gefängnisführung zeigt wenig Verständnis für ihre medizinischen Bedürfnisse, will ihr sogar die Hormone wegnehmen. Eine der Verantwortlichen fragt: "Warum sollte man jemals darauf verzichten, ein Mann zu sein? Das ist als würde man im Lotto gewinnen und den Lottoschein zurückgeben.“
Diese Aussage brachte mich ins Grübeln. Hatte ich selbst klammheimlich solche Gedanken über Transsexuelle? Bin ich vielleicht doch nicht so verständnisvoll, wie ich glaube? Die Figur der Sophia Burset brachte mir Empathie für transsexuelle Menschen bei - mehr Empathie als irgendein Zeitungsartikel oder eine Doku je in mir erwecken konnte.
Genau das zeichnet die heutigen TV-Serien aus: Sie unterhalten nicht nur, sondern fordern regelrecht dazu auf, uns selbst zu hinterfragen.
"Orange is the New Black“ wird von den Kritikern für seine witzigen Dialoge, die starken Frauenfiguren und die kluge Gesellschaftskritik gelobt, im Juni läuft die dritte Staffel an. "Oitnb“, wie die Fans die Serie abkürzen, ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sehr sich Fernsehunterhaltung weiterentwickelt hat und popkulturelle Maßstäbe setzt. Ein Trend, der 1999 mit dem Gangsterdrama "The Sopranos“ begann. In der HBO-Serie sah man den Mafiaboss Tony Soprano (James Gandolfini) furchtbare Verbrechen anordnen, erlebte ihn aber gleichzeitig als Prozac-futterndes Psycho-Wrack und liebenden Familienvater und fand ihn genau wegen dieser Widersprüche symphatisch.
Solch widersprüchliche, komplexe Storys wurden nicht nur vom Feuilleton bejubelt und mit Emmys überhäuft, sondern weltweit auch zum Verkaufsschlager. Darum produzieren amerikanische, britische, dänische Studios in den letzten Jahren zunehmend tiefgründige Geschichten, muten ihrem Publikum immer mehr zu. Eine Entwicklung, die der ORF nur am Rande mitträgt.
Reflexionen über Moral, Ethik, Machtgefälle und soziale Konflikte werden über die unterschiedlichsten Protagonisten transportiert: Da fechten die letzten Überlebenden der Zombie-Apokalypse in einer komplett archaischen Gesellschaft ihre Existenzkämpfe aus wie im Drama "The Walking Dead“, da wird die erste dänische Premierministerin in der dänischen Politserie "Borgen” zwischen ihrem Idealismus und dem Willen zur Macht aufgerieben.
Selbst scheinbar oberflächliche Ärztesendungen wie "Greys Anatomy“ lassen ihre Charaktere reifen, dazulernen oder auch zerbrechen, sie erzählen überdies von modernen Lebensentwürfen abseits der heterosexuellen Kernfamilie, die das Fernsehen über Jahrzehnte hinweg dominierten.
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb schon vor fünf Jahren, dass Serien "zum ernsthaften Konkurrenten der Literatur“ geworden seien. Und das ist längst nicht alles: Für Serienjunkies von San Francisco bis Wien sind diese komplexen Fernsehgeschichten zum prägendsten Kulturgut geworden. Kein Buch, kein Film lässt sie so leidenschaftlich diskutieren wie die neue Lieblingsserie.
Ich wollte wissen, ob das andere Menschen auch so erleben und fragte auf Twitter: "Gibt es Sachen, die ihr von modernen TV-Serien gelernt habt?“ Das Echo war überwältigend. Binnen weniger Stunden erhielt ich an die 200 Antworten. Ein Schweizer Wirtschaftsjournalist schrieb mir sogar unaufgefordert ein E-Mail, in dem er 26 Beispiele nannte, was ihm das heutige Fernsehen beigebracht hatte. Ein Auszug: "Aus TV-Serien habe ich gelernt, dass ich mich nicht mehr schäme, keine Bücher mehr zu lesen und nur noch wenige ‚richtige’ Filme schauen - weil mir TV-Serien in ihrer Fülle alles bieten, um mich ‚kulturell‘ zu erfüllen.“
Das ist eine Erleichterung. Ich bin nicht die einzige Kulturbanausin, die nahezu keine Romane, aber viele Serien konsumiert, und sich darin in den seltsamsten Momenten wiederfindet. Auch anderen geht es so. "Weißt du, manchmal erinnern Serien an schlimme Sachen, die man selbst durchgemacht hat“, sagte neulich meine Freundin Maria zu mir.
Maria und ihr Freund hatten gerade eine schwierige Phase durchgemacht. Er hatte sie betrogen, dies schließlich eingestanden. Die beiden blieben zusammen, aber es nagt weiterhin an ihnen - selbst bei so harmlosen Aktivitäten wie dem Fernsehkonsum.
"Seit Kurzem sehen wir ‚Breaking Bad‘“, sagte Maria. Diese Serie endete schon 2013 und erhielt für seine fünf Staffeln insgesamt 16 Emmys. Sie wurde eine der stilprägenden Produktionen der letzten Jahre. Der ORF stieg, ebenso wie Maria, relativ spät auf den Hype auf.
Nun, mit einiger Verzögerung, sind Maria und ihr Freund süchtig nach "Breaking Bad“, sehen dem krebskranken Chemielehrer Walter White zu, der seiner Familie Geld hinterlassen will, und daher anfängt, die Droge Crystal Meth herzustellen. Die Serie schildert Walters Metamorphose: Er wird brutaler, sinkt in das Drogenmilieu ab, belügt seine Frau, die er liebt, aber nicht in den Schlamassel hineinziehen will. Zunehmend verstrickt sich Walter in Widersprüchen, seine Frau merkt, dass etwas nicht stimmt. Bei diesen Szenen fühlten sich Maria und ihr Freund ertappt. "Es wühlte uns auf, dass Walter seiner Frau nicht die Wahrheit sagte. Wir diskutierten danach: Wann ist es okay, in einer Beziehung zu lügen? Wann schützt man den Partner und wann schützt man sich selbst?“, sagte Maria.
"Breaking Bad“ zeigte ihr, wie wund diese Beziehung noch ist. Ich fragte mich: War es immer schon so, dass wir unser Leben in Fernsehfiguren hineininterpretieren? Oder kam nun eine neue Qualität hinzu?
Sicher, die Bilder am Schirm hatten stets eine große Wirkung. Als Kind hatte mich "Star Trek“ und die Logik von Mr. Spock beeindruckt, später wünschte ich mir, einen Mitbewohner wie den zotteligen "Alf“ zu haben, der vom Planeten Melmac stammte.
Neben solch harmlos-netten Familienserien gab es auch schon früher Beispiele, wie intelligent Fernsehen sein kann. Die Mystery-Serie "Twin Peaks“, die Anfang der Neunziger lief, die Ermordung der Teenagerin Laura Palmer und die Abgründe der Kleinstadt "Twin Peaks“ erzählte, ist ein Meisterwerk, das den heutigen Serien um nichts nachsteht. 2016 sollen übrigens neue Folgen von "Twin Peaks“ ausgestrahlt werden, Regisseur David Lynch arbeitet daran.
Bis vor 15 Jahren waren derartige Serien die Ausnahme. Ab der Jahrtausendwende und vor allem aufgrund des Erfolgs der "Sopranos“ änderte sich das, so der Medienwissenschaftler Gary Edgerton von der Butler University in den USA (siehe Interview). Er meint, dass im Fernsehen lange das Prinzip "LOP“ herrschte, kurz für "Least Objectionable Program“. Man wollte ein "so wenig wie möglich anstößiges Programm“ machen.
Mittlerweile ist der US-Fernsehmarkt ungeheuer fragmentarisiert, Hunderte Sender buhlen um die Aufmerksamkeit der Zuseher. Die klug gemachten Serien reüssieren damit, dass sie eine klare Zielgruppe ansprechen, sie provozieren mehr als früher, sagt der Forscher: "Sie fordern uns heraus, weil die Handlung nicht mehr in einem netten Knäuel zusammengepackt wird, entweder in 23 oder 42 Minuten. Wir haben nun Erzählungen, deren Ausgang offen ist, auch die moralischen Dilemmata der Charaktere werden oft nicht aufgelöst. Diese Serien sind aufwühlender und gehen näher. Denn am Ende geht nicht alles gut aus.“
Das erklärt, warum mich die Transsexuelle Sophia emotional so beschäftigt. Und warum ein Charakter wie Frank Underwood, der machiavellische Held der Netflix-Produktion "House of Cards“, dargestellt von Kevin Spacey, derzeit viele Menschen die Faszination des Bösen lehrt.
Hatte Tony Soprano, der zwiespältige Gangster aus den "Sopranos“, Ende der Neunziger noch sympathische Seiten, ist Frank Underwood einfach nur eine widerwärtige Person. In der allerersten Szene bringt er mit bloßen Händen den angefahrenen Nachbarshund um - ohne zu prüfen, ob das Tier nicht doch noch Überlebenschancen hat, und ohne die Zustimmung der Nachbarn einzuholen.
Frank behandelt andere Menschen ähnlich wie dieses Tier. Er manipuliert sie mit Lügen, mit Drohungen, notfalls mit Gewalt, um die eigenen Ziele - immer mehr Macht - zu erreichen. Unterstützt wird er von seiner klugen, wunderschönen, aber gnadenlosen Frau Claire. Sie ist ein weiterer Beleg, wie vielseitig die Frauenrollen im Fernsehen geworden sind. Als Frank zu Beginn der Serie eine berufliche Niederlage einsteckt und sich bei Claire entschuldigt, stellt sie ihn als Verlierer dar, sagt: "Nein, Entschuldigungen werde ich nicht akzeptieren. Mein Mann entschuldigt sich bei niemandem. Nicht einmal bei mir.“
Als ich neulich mit meinem besten Freund zusammensaß, sprachen wir über Frank. Ich lernte mich selbst wieder ein stückweit besser kennen. Mein Kumpel erzählte mir, wie sehr ihn dieser fiese Politiker beeindruckte, wie er sich manchmal bei der Frage ertappt: Könnte er auch so gerissen sein, könnte er in seinem Leben mehr erreichen, wenn er jedes Gespräch als manipulative Suggestion wahrnimmt?
Er stellte also die Frage, wie viel Frank Underwood in ihm selbst steckt. Mir wurde plötzlich bewusst, wie froh ich bin, kein bisschen wie Frank zu sein, dass ich lieber ein braves Weichei bin, als mir ein solch lügenreiches Leben anzutun.
Und das kann man mir nun glauben oder nicht. In der Serie sagt Frank einmal: "Die Gabe eines guten Lügners ist es, Menschen weiszumachen, dass einem jegliches Talent fürs Lügen fehlt.“